21.-29.1. – 2019 mit 76

21.1.2019

Es kommen immer mehr Vögel zu mir! Ich versuche schon seit Stunden, sie zu fotografieren, um sie erkennen zu können, es sind mehrere neue dabei. Stieglitz, Kernbeisser und Grauammer konnte ich zum ersten Mal identifizieren. Drei andere nicht. Ob mir das Internet hilft? Sonst muss ich die Fotos meinem Ornithologen schicken.
So eine Freude! Und sie wird noch größer, wenn ich vergrößern und einen Stieglitz so nah heranholen kann, wie ich ihn nie sehen könnte. Und festhalten. Sonst hätte ich ihn gar nicht als Stieglitz erkennen können. Das Fernglas hat mir nicht geholfen, ich habe  den einen oder anderen immer nur kurz erwischt, das war mehr Frust als Freude.
Mittlerweile habe ich die Kamera schon zehn Mal weggelegt, gedacht: es reicht – um sie gleich wieder in die Hand zu nehmen und es weiter zu versuchen.
Ein Vogel fliegt gegen mein Fenster, es knallt – aber er fliegt weiter. Es war eine Meise. Warum machen die das immer noch?!? Es ist schon das zweite Mal, seit ich die schwarzen Schreckgestalten an die Scheiben gemalt habe.
Und drinnen die Mäuse. Sie haben gelernt. Sie gehen in keine Falle mit frischem Käse, machen keine Geräusche – aber verraten sich, wenn sie eine Walnuss mitten im Zimmer liegen lassen. Der Hund holt keine Nüsse aus der hohen hölzernen Schale und ich lasse sie nicht liegen, wenn ich welche fallen lasse. Es müssen Mäuse sein. Ich lebe mit ihnen. Immer darauf gefasst von einem kleinen oder größeren Schaden überrascht zu werden.
Ein Flugzeug durchbricht die Schallmauer, alle Fenster klirren. Das Haus bebt, als würde es einstürzen. Der Schreck fährt mir in die Glieder. Wie muss das für Menschen sein, die aus einem Krieg zu uns geflohen sind. Syrien, zum Beispiel, wo der Krieg kein Ende findet. Syrifizieren heißt das dann.

23.1.2019

Wenn ich aufwache sind die Vögel schon da. Allmählich habe ich Übung, bewege mich weniger und langsamer, warte ruhig und mit Geduld.
Und ich werde belohnt: Sieben Schwanzmeisen hängen miteinander an den Meisenknödeln, und es ist ein gutes Bild geworden. Vielleicht sollte ich an meinem Geburtstag die Vögel im Fernseher zeigen. So können meine Freunde sehen, was hier um mich herum lebt. Du! kann ich ihnen als Buch zeigen oder eine Diaserie davon – wenn sie wollen. Die Vögel können nebenbei durchlaufen, und wer Lust hat, kann sich an ihnen freuen so wie ich.Ich hänge mich an die Vögel, hole sogar die für mich noch immer neue digitale Canon heraus, sehe viele lebendige Ausschnitte – alle unscharf. Weil ich alles, was ich nicht ständig wiederhole, wieder vergesse. Das nimmt mir die Lust am Üben. So wird das nichts. Morgen werde ich wieder mit der kleinen Kamera am Fenster sitzen und warten. 

24.1.2019

Keine Zeit! Keine Zeit! Meine Vögel stehen früh auf. Ich habe mich schon die ganze Nacht darauf gefreut und sitze seitdem am Fenster.
Keine Zeit für Wörter zum Staubschnee und zur Sonne über dem Feld, die aus dem Schneefeld für mich einen afrikanischen Sternenhimmel macht.
Keine Zeit auch für die große Runde mit dem Hund – was für mein Knie nur gut ist. Es tut beim Abwinkeln scheußlich weh. Aber ich kann ja inzwischen „halb voll“: Wenn das einen Tag früher angefangen hätte, würde ich unser Zimmer auf der Dortmunder Hütte nicht reserviert haben. Und wenn es später gewesen wäre, könnte ich nichts mehr dafür tun. Muss mich damit abfinden, dass ich dazu Hilfe brauche, und gehe zum Arzt.
Ich sollte das Fenster verhängen und mich an die Auswahl und Bearbeitung machen für die Vogelserie Große Vögel, kleine Vögel.Film und Buch von Pasolini habe inzwischen schnell bestellt. Ob der Stieglitz nochmal kommt??

25.1.2019

Saubermachen, umräumen, schmutzige Stühle aus dem Schuppen holen, Tisch ausziehen, decken. Ich wähle diesmal die von meiner Mutter bestickte Decke, nicht meine afrikanische. Dann schmücken, bis es schön festlich ist. Schlafen kann ich nicht mehr, wenn mir einfällt: Aber wenn alle gleichzeitig kommen?

Meine Tochter ruft aus dem ICE aus Berlin an, um zu fragen, was ich mir wünsche.
Vitasprint ! Sag ich so schnell – wie aus der Pistole geschossen –, dass es mich selbst überrascht.
Ja. Vitasprint. Ich will wissen, ob mir das hilft gegen die Schwäche und die Löcher im Kopf, die immer näher zusammenrücken, aber ich bin geizig. Sie freut sich über meine klare Ansage, geht in Ordnung.

29.1.2019

Jetzt gilt es also: 2019 mit 76. Drei Tage Geburtstag! Ein Fest, ein Konzert, ein Besuch.
Zuerst aber fahre ich noch eine Spur durch den hoch zugewehten Weg. Wer den nicht kennt, könnte davon abkommen und in einem Acker landen. Als ich das später meinen Freunden erzähle, sagen sie: Du bist aber ganz schön mutig! Na ja, Herzklopfen hatte ich schon beim Gas geben – nicht zu viel!! – in den tiefen Schnee. Mut habe ich für den tortenfreien Tisch gebraucht, als es auf drei Uhr zuging. Da hatte die Mutter ihre Chance: Wie kannst du bloß!!! Nichts backen und Menschen einladen! Das musste ich aushalten.
Es hat sich gelohnt: Nie hätte ich so tolle Torten und Kuchen backen können.
Samstag also: das Fest. Eine unglaublich lebendige Geburtstagstafel mit meinen Freunden, voller Sympathie und Interesse und Wohlwollen. Dass diese Menschen gerne zu mir kommen! Hat vielleicht doch etwas mit mir zu tun. Es macht mich froh, der Mittelpunkt dieses Lebens zu sein.
Und dann noch das lange Gespräch in der Nacht mit meiner Tochter und ihrem Mann, als die Freunde schon gegangen sind. So nah und offen und voller Interesse.
Meine Tochter fragt: warum eigentlich vitasprint ? Sie will es wissen.
Weil ich mir zu schwer bin und mir die Dinge schwer fallen. Stell dir vor, du hast an jedem Arm und den Beinen ein paar Kilo hängen und eine Sperre in den Kniekehlen. Dazu feste Handschuhe um die Finger.
Oh! sagt sie. Ich fühle mich verstanden.
Alles kostet mich Überwindung. Vielleicht muss das nicht sein.
Sie hat sich informiert und gibt mir den Tipp für ein günstigeres Präparat.

Es ist, als wäre ich angekommen in der Gestalt, die das Leben für mich vorgesehen hat. Ich bin einverstanden und dankbar. Als könnten Erfahrung und Lebendigkeit zusammenkommen. Fühlt sich wie selbstbewusst an. Dass ich eine bin, bei der es immer etwas Neues gibt. Mal Eisblumen, jetzt Vögel.
Und nächstes Jahr? Mit 77? Das kann ich doch jetzt noch nicht wissen!

Am Sonntag: das Konzert mit meiner Tochter in dem schönsten Saal unserer Stadt. Ich bin stolz, die Mutter dieser Tochter zu sein. Mozart und Mozart. Wir sitzen in der ersten Reihe. So nah wo die Musik gemacht wird, war ich Musikern noch nie. Wunderschön.
Und am Montag noch der Besuch aus längster Gewohnheit. Wir haben uns alt werden sehen. Schön ist das nicht, aber gut.

Mich bringt auch der Anruf am Sonntagmorgen – ich habe gerade drei Stunden geschlafen – nicht aus der Fassung: In meinem „alten“ Haus funktioniert die Heizung nicht. Nur kurz blitzt ein Wort wie Strafe auf – verschwindet schnell wieder: ich habe nein!gesagt, sonst nichts. Überlege, was zu tun ist, mache klare Ansagen. Am Montag – also gestern – dann die Organisation mit einer Firma. Das bin ich auch: manchmal „Geschäftsfrau“ wie die Mutter. Wie hätte ich es sonst mit den Häusern geschafft. Übermorgen habe ich meinen Auftritt.

dort wo ich schlafe
fährt der Große Wagen
rückwärts in die Birke