30.1.-4.2.2019 – Freitag 16.35

30.1.2019

Es ist immer noch Winter. Inzwischen hat es geregnet und gestürmt und noch einmal wenig geschneit und wieder gefroren. Es gibt noch Schneefelder, auch für meinen Hund. Ich bin daneben mit dem Rad unterwegs, denke, er kommt nach, und fahre weiter. Als ich Yalla nicht sehe, kehre ich nochmal um und bringe sie auf die Spur. Dann fahre ich weiter nach Hause. Als ich mich umschaue, ist kein Hund zu sehen, ich kehre noch einmal um, er muss den Weg über die Felder genommen haben, denke ich, eigensinnig wie er ist. Er wird kommen, wie immer, oder schon auf mich warten im Garten. Aber da ist kein Hund. Zum ersten Mal. Immer war er schon da, wenn wir uns länger getrennt haben. Blöd. Ich laufe wieder und wieder voller Erwartung hinaus – jetzt muss er kommen! Nichts. Ich merke, wie mein Vorrat an Vertrauen aufgebraucht wird. Ich kann nicht mehr warten. Ich kann mich nicht irgendwo hinsetzen und warten, ich muss mich bewegen, und wenn es mit dem Knie nicht so geht, wie ich will, dann mit dem Auto. Ich fahre die Runde zum Dorf und zurück, dann sehe ich Yalla auf dem Schnee, sie empfängt mich aufgeregt. Ich hätte nur warten müssen.
Hinauf in die Heide war der Weg heute schwer. Schnee verdeckt Eis, und ich muss in tieferen Schnee ausweichen, das mag mein Knie gar nicht.
Die Bienen tauchen jetzt schon in Krimiserien und Daily Soaps auf. Schön verstrickt mit den Menschen, an die man sich gewöhnt hat. Find ich gut. Vielleicht erreichen sie so auch manchen, der bei den Nachrichten weghört und eine Dokumentation schnell abschaltet.

Morgen steht mir ein Großkampftag bevor. Alles, was ich hinter den Geburtstag geschoben habe, holt mich jetzt ein. Schuhe, Arzt, Wäsche, Haus (Rauchmelder, Heizung, Jahresablesung), Vögel, Bienen. Ausnahmsweise entschließe ich mich, eine Liste zu schreiben, und nehme mir vor, sie nicht liegenzulassen.

31.1.2019

In dem Azaleenstrauch, wo das Vogelfutter hängt, leuchtet es rot. Es ist die Brust eines Dompfaffen, der da auf einem Ast sitzt, ohne zu fressen. Ich schaue ihm lange zu, es ist in diesem Winter so selten zu sehen. Der sitzt jetzt da und bleibt nur sitzen. Aber ist da nicht ein leiser Ton zu hören, den es hier gar nicht gibt? Immer wieder der gleiche Ton – und am Hals des Gimpels sehe ich jetzt eine kleine Bewegung mit jedem Ton. Da bewegt sich etwas im Korkenzieherhaselstrauch: Ein Gimpelweibchen mit grauem Bauch hüpft herum. Jetzt kommen die beiden zum Futter, das sie auf dem Boden finden, und fangen an zu picken. Gemeinsam fressen sie – bis der Eichelhäher sie vertreibt.
Aber es war ein Anfang, ein winzig kleiner Anfang.

1.2.2019

Der Februar kommt stürmisch daher. Drückt den Rauch ins Zimmer, als ich Feuer machen will, ich mache die Fenster auf, damit er abzieht, da haut es den Tulpenstrauß vom Geburtstag um. Das Wasser läuft über den Teewagen oben – Telefon, iphone, Fernbedienung vom Fernseher, Streichhölzer liegen im Wasser –, bevor es weiterläuft, um schließlich unten mit einer großen Pfütze zu landen.

2.2.2019

Der 31. fing als Traumtag an: ungestörte Sonne über Schnee, das Feld  ein Spiegel – was für eine Welt!
Ein Traum.
Aber ich muss weg. Also reiße ich mich los für die andere Seite meines Lebens.
Ich lasse Zeit zwischen Schuhkauf und Arzttermin, vielleicht kann ich mit Yalla herumlaufen, wo Sonne auf  dem Schnee liegt. Der Schuhkauf ist schnell passiert, es gibt nur noch zwei Paar, die in Frage kommen, nachdem wir sie bei den „Burschen“ gefunden haben. So habe ich mir das gewünscht. Weiter. Ich starte den Combo, aber der tut nichts. Überhaupt nichts. ADAC? Zum Arzt laufen? Batterie?!? Ich weiß, dass die fast neu und gut ist. Ich muss es mit Überbrückungskabeln versuchen, die habe ich immer dabei. Neben meinem Auto steigen zwei Frauen mit einem Kind aus. Ich frage sie, ob ich ihre Batterie nutzen darf, die Fahrerin zögert, kennt sich da nicht aus, macht aber die Kühlerhaube auf. Die Batterie ist auf der falschen Seite für die Länge meiner Kabel. Jetzt mag die Frau nicht mehr, ich frage einen Mann, der gerade mit seiner Frau Schuhe kaufen geht. Er kennt sich aus und hilft gerne. Die Autos werden getauscht, er stellt seines neben meines, muss viel rangieren, bis sich die Batterien erreichen. Der Combo springt an. Der Mann klappt die Haube zu und reicht mir mein Kabel, danke und danke! sag ich, er wünscht mir gute Fahrt, und ich fahre eine halbe Stunde mit dem Hund herum, das muss man doch so machen. Beim Arzt bin ich pünktlich und warte zwei Stunden, um eine rasche Diagnose zu bekommen: kein Miniskus, die Kniescheibe. Bandage und Einlage mit hohem Rand. Skifahren geht. Wenn es nicht besser wird, sollen Spritzen helfen. Ich bin sehr zufrieden und fahre gleich, um die Einlagen machen zu lassen. Abends kann ich sie abholen. Jetzt also durch die Stadt auf ihre andere Seite. Auf dem Weg unterschreibe ich noch für die Rettung der Bienen. Dazwischen zwei Versuche, die Seite für die Mieter für die Rauchmelder auszudrucken. Zwei Rechner nehmen meinen Stick nicht an. Es ist der in dem winzigen Schweizer Taschenmesser, den mir meine Tochter geschenkt hat. Ich habe ihn schon so oft benutzt, verstehe das nicht. Stecke den Stick in die Hosentasche, sie ist tief genug, denke ich. Ich muss die Hose ja nicht mehr ausziehen. Auf dem Weg zum Haus noch der Waschsalon, um drei Maschinen zu füllen, dann fange ich an, dort auf den Monteur für die Heizungswartung zu warten. Soll noch mindestens eine halbe Stunde dauern, also mit dem Hund zum Fluss und zurück. Ich setzte mich auf die Terrasse, wo ich das oft mit Menschen getan habe, Sommerabende lang.
Nach der Krebsbehandlung bin ich einmal da gesessen, habe auf das Haus geschaut und mich gewundert, dass es noch steht, einfach nur dasteht wie immer. Gott, war ich da dankbar. Mein Haus. Soviel wie ich daran und darin gebaut habe – auch mein Leben. 

Genau da fing das Ende an, auch wenn ich es noch nicht wusste. Immer mehr hat es mich hier hinaus gezogen, jeden Sommer, um draußen schlafen zu können. Bis ich nicht mehr ständig wählen wollte: heute hier oder dort? Im Treppenhaus hängen noch meine Bilder, im Keller stehen ganze Ausstellungen, Mauretanien, die westafrikanischen  Frauen, Wassermusik, Sand. Was macht man mit alten Ausstellungen – ich habe auch diesmal keine Antwort.
Schließlich ist für das Haus heute alles getan, nur die Rauchmeldersache bleibt übrig. Na ja.
Wäsche aus den Maschinen nehmen nicht vergessen – ist mir schon mal passiert –, Einlagen abholen, einkaufen.
Bayern 2 lässt einen singen: 

alles ist gut und morgen ist es besser als heute
überall Liebe und Frieden überall Liebe und Frieden überall Liebe und Frieden
- oder war es umgekehrt: Frieden und Liebe? -
alles ist gut und morgen ist es besser als heute… nochmal und nochmal…

oder so ähnlich.
Meint der das ernst?!? Ich glaub es nicht. Und mir ist da kein Ironiesignal entgangen?!?

Jetzt fehlt nur noch der letzte Punkt von der Liste: schwimmen.

Beim Ausräumen vermisse ich den kleinen Stick. Suche, wo man nur suchen kann. Es ist nicht da. Das darf nicht sein. Nochmal alles, dann gebe ich auf.
Das war der Donnerstag.
Gestern suche ich noch einmal, wieder nichts. Ich bin traurig. Es war doch ein Geschenk vn meiner Tochter!
Entschließe mich, zu schauen, wo ich es kaufen kann.
So ein kleines Schweizer Messer gibt es nirgendwo, das „kleine“ ist da doppelt so groß wie meines war.
Das geht also nicht.
Heute Morgen ist mir wieder ganz klar, wie ich aufgepasst und den Stick sicher weggelegt habe. Aber wo?
Ich nehme noch einmal den Korb mit den Badesachen heraus, hebe jedes Teil einzeln hoch und: !!! Freude! Freude! Freude! Die reicht für den ganzen Tag und noch darüber hinaus! Ich brauche nur an den Stick zu denken, und schon freue ich mich.
Ich werde ihn nur noch an einem Band um den Hals mitnehmen. 

So. Und jetzt muss ich Tischdecken bügeln.
Und die Vögel lassen sich hören

3.2.2019

Schnee schließt schwarze Löcher. Es wintert weiter. Wie gut es hier ist.
Heute endlich Capernaum. Egal, wieviel Schnee noch fällt. Es ist die letzte Vorstellung, und ich habe dafür eine Verabredung platzen lassen. Ich werde beim Wegfahren eine Spur ziehen, in der ich zurück finde, auch wenn es inzwischen weiter schneit. Ich muss diesen Film sehen. Stadt der Hoffnung. Beirut

4.2.2019

Es ist das letzte Mal, dass ich Dir im Netz gratuliere, Pappi. Hell und leicht soll es sein, wo Du bist!
Das ist mein Wunsch für Dich.

Hell ist es heute auch hier: Die Spitzen des Tannenwalds schweben auf einer Wolke unter dem Blau.
Auch der Hochsitz schwebt und die Spitze des Kirchturms. Manchmal geben die Nebelschwaden ein Stück Horizont frei, um ihn gleich wieder zu verbergen und anderswo freizugeben. Bis der Himmel frei ist und hoch.

So leicht war mein Heimweg in der Nacht dann doch nicht. Auf dem Feldweg rutschte der Combo links weg, wo gerade der Acker tiefer liegt. Ich bremse natürlich, er dreht sich weiter, ich fahre zurück, nehme Anlauf, wieder dreht er sich. Längerer Anlauf – dasselbe. Beim vierten und längsten Anlauf komme ich durch und rolle nach Hause. So fest habe ich mich noch nie an dieses Steuer geklammert. Puuh.
Ich hätte das Auto stehen lassen können, es ist nicht mehr weit zu mir – aber wenn sie morgen Schnee räumen wollen? Es musste doch gehen. Und es ging.
Daheim bin ich erschöpft, als hätte ich schwer gearbeitet.

Der Film war es wert. Beirut. Ich bin nie nach Beirut gekommen, und war doch so nah dran. Aber in Damaskus bekam ich kein Visum für den Libanon.
Erst gestern mit CapernaumStadt der Hoffnung. 
Und wieder einmal: Mit Kunst kann ich weiter denken und fühlen als mit Dokumentationen. Die lassen sich leicht abwehren. Kann ich das letzte Bild – das erste Lächeln von Zain – jemals wieder vergessen?
„Du musst lächeln! Lächeln! Lächeln! Das ist ein Passbild!“ sagt der unsichtbare Fotograf.
Endlich Zain lächelt. Das Lächeln bleibt stehen.
Ein Wort und ein Bild und alles ist darin: unsere ganze Wirklichkeit.

Und selten hat mich meine Sprache so gestört wie bei dieser Synchronisation. Darauf war ich nicht gefasst. Sie war so falsch. Gerne hätte ich Untertitel in Kauf genommen für den richtigen Ton. Das Arabische  hören, das in meinen Ohren oft hart und scharf klang und so nah war. Und mir ganz und gar unverständlich.
Ich wünsche Nadine Labaki und dem Trump-Amerika den Auslands-Oscar für diesen Film.

Wenn Vaters Geburtstag auf einen Freitag fällt, dann bleibe ich einmal wieder um 16.35 hängen wie jeden Freitag nach ihrem Tod.

2000

Freitag 16.35

In der Todesanzeige steht: Als sie uns verlassen hatte.
Hatte – als wäre es vorbei.
Verlassen hat muss es heißen, denn sie wird uns immer verlassen haben.
Verließ muss es heißen. Aber waren wir dabei?

Die Beerdigung. Sie hat geschafft, was ihrer Großmutter nie gelang: Kopf hoch! Brust raus, Bauch zurück!
Wie könnte ich länger der Welt und den Menschen begegnen, wenn nicht mit erhobenem Kopf und die Stirn gegen den Himmel gehalten. Jetzt hätte ihre Großmutter ihre Freude an mir. Nur: Man geht bei so einem Wetter nicht mit nacktem Kopf. Es ist November. Wieder nichts. 

Freitag 2.12.94
16.35. Wind, soviel Wind. War es windig? Blies ihr der Wind ins Gesicht?
Sie hat die Richtung nach Osten genommen, und so ein Wind kommt von Westen, da hatte sie das Haus hinter sich. Ihr Blick ging nach Osten, dorthin, wo ich wohne. Von meinem Bett aus – und nur von dort – sehe ich das Haus.

„Keine Vorwürfe! Keine Vorwürfe! Mach dir keine Vorwürfe!“
Die Worte waren immer schon da, die Freunde stellten sie zwischen sie und mich, bevor ich überhaupt verstand, was sie meinten.
Später sollte ich sagen: ach so. Das haben sie gemeint. Woher sie es nur wussten.

Freitag 9.12.94

16.35. Es ist kalt. Heute nacht ist die Geranie vor dem Fenster gestorben. War es kalt?
Nein. Sie hatte den leichten Mantel an, nicht den warmen, mein letztes Geschenk zu ihrem Geburtstag. 

Der Tod wirft uns zurück in die Zeit, bevor wir es gelernt haben zusammen zu leben.
Bevor wir es nicht gelernt haben.

Komm, fliegen wir zusammen.
Da hab ich sie im Stich gelassen.
Gemeinsam wären wir geflogen.
Allein ist sie gefallen.
Wer sagt, sie wäre nie geflogen, lügt.

Freitag. 16.12.94

16.35. Es dämmert, wird dunkel, es ist fast der kürzeste Tag. War es dunkel?
Nein. Es hat noch nicht gedämmert, erst als man ihr Gesicht bedeckte, fing es zu dämmern an.
Hat sie diese Welt mit offenen Augen verlassen?
Ich glaube es nicht. Ich glaube nicht, dass man den Grund anschaut, auf den man stürzt.

Ich werde erst mit meinem Auto in die Stadt fahren, wenn es dunkel ist und der Verkehr so dicht, dass ich vergessen muss, hinauf zu schauen. Nur im Nebel muss ich das siebzehnte Stockwerk nicht sehen.
Ich habe den Rückspiegel an der Mörtelmaschine abgerissen, der Maschine der Männer, die laut sind in meinem Keller. Sie klopfen und schaben und scharren, brechen, zerschlagen, zerschneiden. Da unten.

Dass man immer nacherlebt, woran der Nächste gestorben ist.
Beim Vater war es die Leber. Bei ihr: dass ich nicht mehr ich war.
Dass ich Übergriffe, Eingriffe, bereitwillig zuließ, ihnen jede Gelegenheit gab, tat, was die anderen sagten, bis nichts mehr ging oder alles durcheinander war und ich merkte: das war ich nicht.

Freitag. 23.12.94

16.35. Die Luft riecht nach Schnee. Roch es nach Schnee?
Nein. Es war ja noch nicht mal Advent. Zwei Tage haben noch gefehlt.

Grausames Weihnachten. Einen Monat tot.
Grausam auch ohne den Duft von Kerzen und Tannen.
Der Geruch der nicht mehr gewaschenen Wäsche steigt aus den Säcken, wenn ich sie zusammendrücke. Sechs davon, die ich dem Roten Kreuz bringen werde, stehen in meinem Auto, mit dem ich nicht mehr fahre, seit ich den Spiegel abgerissen habe.  

Aufgebrochen. Nach dreißig Tagen auf dem Grund. Ihn berührt. Aufgestanden, das Grab zu suchen. Mit den duftenden Rosen in der Hand es nicht finden.
Bevor ich aufgebe, nähere ich mich von hinten.
Hier also war es?
Die Hauptrolle. Die Erste am Sarg. Die Erste, der man die Hand gibt. Man läßt mir den Vortritt wie einer Königin. Wo ich bin, ist vorne. Alles andere ordnet sich nach.

Wenn Menschen wie wir, die lernen mussten, so unglücklich auf das, was sie vorfanden, zu reagieren, auf Menschen wie ihren Vater treffen, die dieses Unglück für eine willentlich heilbare Krankheit halten, dann müssen sie zerbrechen. Zerbrochen wie sie schon sind.
Ihr Vater hatte Angst vor uns. „Damit habe ich nichts zu tun! Diese Seite habe ich nie gekannt!“ Es war die Seite, wo ich sie verstand.

Ihr Tod zeichnet mich. Zeichnet er mich aus? Das Mal auf der Stirn. Damit muss ich den Kopf hoch tragen. Ich darf ihn nicht mehr sinken lassen. Nie mehr.

Freitag. 30.12.94

16.35. Die Sonne geht unter. War Sonne?
Nein. Hätte sie sie gehalten?
Nein. Sie hätte sie im Rücken gehabt, getrennt durch das Haus. Kein Wolkenkratzer, ein Hochhaus genügt.
Jetzt.

Kein Vertrauen zu gar nichts. Davor. Danach. Umso mehr. Umso weniger.
Das Zerstörerische – kann ich es ändern? Ich muss es ändern. Anders ist die Last der Schuld nicht zu ertragen. Eine Freundlichkeit versuchen und ein Wohlwollen gegen die Zerstörung und die Schuld, zerstört zu haben. Es muss Bereuen und Veränderung geben.

Es ist für mich leichter, nach Afrika zu kommen als in die Stadt. An diesem Haus komme ich nur vorbei, wenn ich gerufen werde oder einen Auftrag dafür habe. Dann kann es auch dreimal hintereinander sein. Gerufen oder geschickt, anders bringe ich die Kraft nicht auf für den Ruck durch den Körper, um die Stirn oben zu halten. An jeder Ecke, jeder Biegung, die sie nicht mehr kommt. Ungerufen gehe ich nicht über den Fluß.
In der Nacht stehe ich im Bad vor dem Spiegel und putze ihre schwarz gewordenen Ohrringe mit Zahnpasta. Eine Waage, die nie ins Gleichgewicht kam, schaukelt an meinem Ohr neben ihrem Gesicht.
Ich bin zum ersten Mal allein essen gegangen, und ich war ganz sicher, dass es eine Pizza sein musste. Pizza mit ihr. Wie so oft und so gerne. Und sie wird immer nimmer dasein, wenn ich Pizza essen gehe.

Ich habe den Schlüssel von ihrer Wohnung nach Trier geschickt. Er lag – längst versprochen – noch wochenlang auf der Kommode. In doppelter Ausfertigung. Abermals abverlangt und abermals versprochen habe ich ihn in ein Tempotaschentuch gewickelt, das aus ihrem Nachtkästchen kam, mit Tesafilm zusammengeklebt, den ich in ihrem Federmäppchen gefunden habe, und mit einem kurzen Brief in einen Umschlag gesteckt. Einschreiben. Fett. Am Schalter halte ich einen gelben Kugelschreiber bereit für meine Unterschrift, die gar nicht nötig ist. Nur sechs Mark fünfzig. Fertig. Ich bleibe am Schalter stehen, bis ich merke, wie mich die Beamtin fragend anschaut. Ja. Ich kann gehen. Warum stehe ich hier noch herum. Habe den Schlüssel hergegeben. Losreißen, loszulassen.

Silvester. Freunde. Vielleicht eine Kette. Die, nach der ich lange durch Amman gelaufen bin, nehme ich aus dem Plastiktütchen, in dem sie mir der Polizist zurückgegeben hat. Ja, diese will ich umlegen heute. Etwas stimmt nicht mit ihr. Das Geflecht ist überdehnt, der Verschluß aufgebrochen.
Sie haben sie ihr vom Hals gerissen. Keiner hat ihren Kopf in seine Hände genommen, ihn hochgehoben, um den Verschluß zu öffnen. Wozu denn. Ich schreie wieder nicht.
Und ich hätte gedacht, ich könnte die Kette so einfach nehmen, zurücknehmen, umlegen, bei mir haben, wenn ein neues Jahr beginnt.
Diese Knoten. Meine Ketten um ihren Hals. Verknotet. Überdehnt. Zerrissen.Sie reden. Sie fragen. Du hast auch Kinder?
Ja. Ich hatte zwei.
Da bin ich weggerannt.

Freitag 6.1.95

16.35. Es regnet. Hat es geregnet? Nein. Ihr Mantel war trocken, als man ihn mir brachte und ich ihn aus dem roten Sack zog, weil ich nicht anders konnte, obwohl ich nicht wollte, mein Mantel war es, meiner, bevor er ihrer wurde, ich taste ihn ab, suche, weiß nicht, was ich suche, ich finde das Knopfloch.
Da hat der Himmel die Wolken genommen und ist ins Wasser gefallen.

Der Knopf in der Nacht. Ich will aus einem Bus aussteigen und weggehen. Ich komme nicht los: mein Mantel hängt fest. Der unterste Knopf steckt in einem Loch der Bustüre. Ich ziehe und reiße daran, es läuft schwarze Erde heraus, mehr und immer mehr, der Knopf ist zerbrochen, aber los kriege ich ihn nicht. Ein schwarzer Schaffner steigt aus. Er beginnt, mich zu befreien.

Zwei Monate ist sie nun tot. Ich muss es sagen. Muss es schreiben. Tot.
Es gibt kein Wort in meiner Sprache für das, was ich jetzt bin. Die Mutter von einem Kind, das nicht leben wollte.

Karla hat aus Ouaga angerufen und gefragt, wann ich komme.
„Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt kann -“
„Das ist doch egal! Du kommst! Pack dein Zeug und komm hierher!“
Da habe ich den Flug gebucht.

Einkaufen bis Afrika. Kein Fleisch. Keinen Wein. Wenig Brot. Wenig Obst. Katzenfutter? Viel.
Bambi, eigentlich Bumble-bee, die Hummel, war die einzige Katze, die bei mir geboren war und noch lebte, als ich das Familienhaus verließ und mit den Kindern auszog. Sie wollte mit mir gehen. Dreimal sprang sie in das zum Umziehen bereitstehende Auto, sie, die das Autofahren haßte und tobte und schrie, wenn es einmal wieder für den Tierarzt nötig war. Bis ich sagte: gut, ich habe verstanden, ich nehme dich mit. Ich war ihr dankbar und liebte sie noch viel mehr. Sie half mir über die Zeit des Anfangs im Leben allein. Sie war immer da, bei mir, lebte mit mir unsere Tage, obwohl die immer wilder werdenden Jungen der anderen Katze ihre Ruhe störten.
Dann kam der Tag, an dem ich mir sagte: Ich habe es geschafft. Jetzt wird es gehen, ich kann alleine leben. An diesem Tag ging Bumble-bee wie jeden Tag hinaus und kam nicht mehr wieder. Sie war verschwunden. Und sie blieb es. Ich habe sie nie wieder gesehen. 

Ich gehe weg unter diesem Frühling. Wohin ich komme, ist es trocken, heiß und dürr. Wenn ich gehe, sind die Schneeglöckchen gerade verblüht, und die Narzissen werden dick. Wenn ich wiederkomme, werden die Kirschblüten verweht sein, vielleicht empfangen mich noch die letzten Blüten des Pflaumenbaums. Die Forsythien werde ich nicht leuchten gesehen haben, auch die Tulpen, wenn sie verrückt werden, nicht. So muss es sein. Mein Frühling liegt unter der Erde.

Ich habe keine Liebe. Und sie wäre daran zugrunde gegangen. Hätte meinen Panzer aufbrechen wollen mit ihrem Leben.
Wäre an mir gestorben. Wie soll ich damit leben.