12.2.2019 – OUA-1
12.2.2019
Nachgetragen am 12. Februar 2023:
Inzwischen habe ich dieses Medium angenommen und mit ihm viel gelernt. Neugier hat Skepsis – oder Angst? – überholt.
Da musste ich sehen, dass meine Grenzen doch sehr eng gesteckt sind: Ich stellte fest, dass eine Datei aus dem Jahr 2019 ist verschwunden ist. Alle möglichen kundigen Hilfen nicht konnten sie nicht wiederfinden. Time machine hin oder her. Am Ende das Urteil: Datenverlust.
Nach einem erfolglosen Jahr der Versuch der Datenwiederherstellung mit Wondershare.recoverit. Da hatte ich dann für 100 € alles wild durcheinander ohne Suchfunktion. Meine Geduld hat für zwei Tage gereicht. Die meisten Lücken konnte ich mit Erinnerungen und Notizen schließen, aber diese Woche fehlt immer noch.
Heute der Entschluss: Ich gebe das 4. Kapitel von Aufgebrochen oder warum Ouagadougou, OUA-1, in diese Zeit. Zum Vollmond vom 19.2.2019 bin ich wieder da.
aufgebrochen 2000OUA-1Irgendwann muss man das Leben zu seinem eigenen erklären,
auch wenn es einem nur passiert ist.
M. v. Trotta: Das VersprechenAm 23.11.1994 wurde der Beschluss des DAAD für Ouaga gefasst.
Am 24.11. habe ich es erfahren.
Am 25.11. war sie tot.
Am 25.2.1995 fliege ich nach Ouaga.25.2.95
Wegsein. Dortsein. Sehnsucht nach Dortsein.
Sehnsucht nach Erlösung. Was wäre Erlösung.
Schuhe. Nur Schuhe im Koffer, mit denen ich nicht wiederkomme.
Air Afrique. Natürlich. Was sonst.
Nachtflug über Afrika.
Natürlich.
Was sonst.Zwischen weiß und schwarz liegt Wüste, leeres Land, zwischen Nord und Süd eine Todeszone.Danach kam das ganz Andere. Das musste so sein. Das hatte nichts mehr mit dem Nordafrika zu tun, wie ich es von Tunesien kannte. Als wären es getrennte Welten.
Die Sonne geht über der Wüste unter. Da wird der Sand rot. Sie hat das nie gesehen. Gegangen ohne die Wüste gesehen zu haben. Hat das Ticket verfallen lassen. Abgehoben.
Niamey. 25 Min Aufenthalt. Ich zögere zwei Minuten. Als ich mich dem Ausstieg nähere, ruft der Steward: zu spät! Rien ne va plus! Machtverhältnisse.
Ob ich werde bestehen können in dieser Unsicherheit. Ob ich die Kraft aufbringen kann, mich zu behaupten, auf die Menschen zuzugehen in diesem Gefühl der totalen Rechtlosigkeit, gegen das ich bei jeder Kleinigkeit angehen muss.
Nichts erwarten. Nicht von mir. Nicht von anderen. Dasein. Sonst nichts.28.2.95
Ich bin im Dunkeln gelandet.
Man landet immer im Dunkeln, wenn man aus Europa nach Ouaga kommt.
Am Abend des 25. Februar. Kein Heißluftgebläse, es wird so bleiben. Und es wird noch viel heißer. Ich erinnere mich.
Am Abend lausche ich dem Rufen der Fledermäuse.
Das Erste, was ich rieche, als ich überhaupt wieder rieche, ist der süße Duft des Nim vor meinem Fenster, der mich an Akazien erinnert. Er bleibt die ganze Nacht, wird gegen Morgen noch stärker, am heftigsten ist er kurz vor dem Aufwachen, und mein Zimmer ist voll davon. Akazienduft im Februar! Und viele feine Vogelstimmen füllen die Luft mit zarten, süßen Tönen. Sie verstummen nie. Vor Sonnenaufgang wird es laut, es erhebt sich ein wildes Zwitschern und Krächzen. Als ich am Morgen die Augen aufschlage, fallen die fett glänzenden Blätter der Bananenstauden hinein, die so groß sind, dass sie mich einwickeln könnten. Rosarote und weiße Blüten der Bougainvilleas schaukeln dazwischen, weiter vorne leuchten die blühenden Mimosen Bäume in einem wilden Orange.
Ich rieche. Ich höre. Ich sehe.
Ich buchstabiere: A F R I K A .
Ich bin in Afrika gefallen.Kaum ist die Sonne aufgegangen, brennt sie schon auf der Haut. Ich habe eine Haut. Wo es brennt, fange ich an. Der warme Wind hat tausend Hände, die mich das fühlen lassen.
Ihre Reise zu mir. Nie geschehen.
Wie? Mit dir unter ein Moskitonetz ?? bist du wahnsinnig oder was?
Das ist das Letzte!
Nicht mehr gewesen.Ich habe mich durch die Nächte und die Tage geschlafen, bis sie auch da war und der Schmerz um sie. Am dritten Tag sind wir angekommen. Jetzt bin ich ganz und hier. Es fehlt nichts mehr. Ich packe aus.
Der Laptop, den ich schon in München fallengelassen habe, pfeift und meldet: SET UP: FAlLED – CLOCK FAILED. Aber er schreibt. Das reicht. Nichts fehlt. Außer der Zeit.
Schwindelgefühl. Herzklopfen.
Ich vermisse nichts mehr, seit der Schmerz angekommen ist.Beim Auspacken habe ich das Gefühl, dass es für immer ist. Das Ende so weit, dass ich es nicht mehr sehe. Oder ich gehe nirgendwo mehr hin.
Wenn du wiederkommst.
Ich möchte ihr zu ihrem 30. Geburtstag ein Buch schenken. Unser Buch, das ihr Buch ist.
Ich bin hier, um mit ihr allein zu sein. Ohne ihren Vater. Ohne Mann. Sie, mein Schmerz um sie und ich – sonst nichts.Hier hätte man sie mir nicht weggenommen. Nicht am Anfang und nicht am Ende.
Am Ende hätte ich sie selbst hergeben dürfen.Ich schlafe viel. Das Zimmer ist klein, das Schönste daran ist das große Bett mit dem Moskitonetzhimmel, darunter schlüpfe ich gerne und schaue stundenlang das Bananenblatt an, das mein schmales Fenster ganz ausfüllt. Da kann mir nichts mehr passieren. Ich bin gerettet.
Hier hätte man sie mir nicht weggenommen.
Hier hätte ich sie gewaschen. Dort ließ man mich nicht.
Wie hätte ich darum kämpfen sollen. Mein Warumnicht – Warumnicht war zu schwach. Verstand ich die Antwort sowieso nicht. Es sollte besser für mich sein. Besser.
Von heute auf morgen konnte ich die Satzung des Krankenhauses nicht ändern, in dessen Keller man sie eingeschlossen hatte. Sie hatten kein Recht, es mir zu verweigern.
Ich hätte das Recht gehabt, niemand sonst. Und die Pflicht, sie nicht einer Fremden zu überlassen, die jede Leiche wäscht.Ging es jemals danach, was ich wollte.
Mit meinen Händen ihren Tod annehmen wie ich ihr Leben angenommen hatte. Unglücklich wie jedes Neugeborene, aber heil. Noch heil meiner Angst überlassen, dass ich etwas falsch machen könnte.
Mir gab sie auf einmal das Gefühl, wichtig zu sein. Gab ich ihr das auch?
Anders wollte ich es machen, alles anders machen, als es mit mir geschehen war. Ich würde sie nicht aus dem Zimmer schieben, wenn sie weinte, und erst wieder hereinholen, wenn sie aufgegeben hätte. Nie sollte sie das Gefühl haben, verlassen zu sein. Nicht gehört zu werden, wenn sie schrie, weil ihr etwas fehlte.
Verstand ich, was ihr fehlte. Und wenn ich es verstanden hätte, hätte ich es gehabt? Zuversicht. Vertrauen. Ruhe.
Ruhe habe ich jetzt. Etwas Schlimmeres gibt es nicht.Ich wollte ihren zerbrochenen Körper zurücknehmen, seine Brüche fühlen, die Schläge sehen, seine Kälte spüren. Seine Wärme hatte er einmal von mir. Schon das war nicht zu fassen. Aber nun erst dies.
Ich wollte sie in meine Arme nehmen, um sie herzugeben. Loszulassen.
Loslassen.
Lass mich los.2.3.95
In der Nacht habe ich mich verfahren. Ich habe die Mobilette erst am Abend bekommen, es hatte sich bis acht Uhr hingezogen, dann wurde der Vertrag geschrieben, ich bekam die Papiere, um neun Uhr konnte ich schließlich aufsteigen. Da war es schon lange Nacht. Aber jetzt wollte ich endlich selber in die Stadt, um sie bei einem Bier, dem Sob.b.bra, zu begrüßen. Ich ließ mir noch einmal die Richtung zeigen und bin los. Ich würde schon alles wiedererkennen, wenn ich einmal dort war.
Zur Zeit der Filmfestspiele - FESPACO - ist die Innenstadt von der Weltkugel auf dem Platz der Vereinten Nationen bis zu meinen Gemüsefrauen gesperrt für die Rue marchande ein Stand neben dem anderen, wo halb Afrika zu finden ist. Ich wollte nur etwas essen und das Kinoprogramm sehen. 160 Filme in den nächsten acht Tagen. Das war genug. Gegen elf Uhr machte ich mich auf den Heimweg, um sieben Uhr würde mein Unterricht beginnen. Ich musste die Rue marchandeumfahren, habe den vertrauten Weg verloren und mich heillos verfahren. Ich fuhr und suchte, manchmal glaubte ich, etwas wiederzuerkennen, was dann allerdings ein Irrtum war. Rechts, links, oben, unten alles dunkel, nur das Licht von meiner Mobilette und auch das nur beim Gasgeben. Als ich wieder einmal an einer roten Ampel stand, hielt eine andere Mobilette neben mir und der Fahrer – er trug eine Uniform: ein Soldat oder ein Polizist? ich konnte es noch nicht unterscheiden – fragte mich, ob ich Lust hätte, mit ihm tanzen zu gehen. Danke, das nicht, sagte ich, aber ich wüsste gerne, wie ich zur Universität komme. Zur Universität? Da schüttelte er den Kopf, was hieß, dass dies nun gar nicht die Richtung war, drehte um und fuhr voraus. Ewig. Mal war es warm, mal kühl, besonders im Bois de Boulogne, dann ging es über eine Sandstraße hinüber zur Avenue Charles-de-Gaulle. Da bin ich über einen Nagel gefahren. Zuerst dachte ich, es sei der Sand, dass ich nun so weich fuhr, aber später auf dem Asphalt musste ich sehen: das Hinterrad war platt. Vielleicht war an der Charles-de-Gaulle ein Mechaniker zu finden, neben einer der Buvettes, in denen noch viel los war. So haben wir dann die Mofas – er meins, ich seins – zur nächsten „Werkstatt“ geschoben. Mit dem Flicken eines Loches war es nicht getan, ich bin zu lange ohne Luft weitergefahren, der Schlauch hatte viele Löcher. Wahrscheinlich war er auch schon fatigué, ermüdet, wie sie so verständnisvoll sagen. Der Mechaniker wollte einen neuen kaufen gehen. Es dauerte eine Weile, bis er wiederkam, schließlich war es schon weit nach Mitternacht. Aber dann war das Rad schnell fertig. Wir hatten inzwischen ein Bier getrunken und noch eines, jetzt konnte ich nach Hause fahren. Mein Helfer war Sergeant der Armee, er hat mich noch durch das Unigelände, wo ich auf Reserve schalten musste, zum Gästehaus begleitet, wollte sich verabreden, war aber auch mit einem „par hasard!“ – Zufall – zufrieden. Vor dem Gästehaus war das Benzin alle, und ich schob die Mobilette die Auffahrt hinein. Pas de problème.
3.3.95
Ramadan est fini. Zum „kleinen Hammelfest“ machen sich nun auch die Burkinabe sehr schön. Auf einmal sind viele lange weiße Gewänder zu sehen, auch die Bettler um die Moschee sind frisch und weiß gekleidet. An den Ampeln kommen die wehenden weißen Tücher zusammen. Oder kräftige glänzend-leuchtende Farben. Und die schönen Kinder in ihren feinsten, meist sehr steifen neuen Kleidern! Alle rufen mir zu: Bonne fête! Und natürlich machen sie immer und überall Musik, auf den Straßen und in den Restaurants. In denen bin ich so schnell zuhause, als wäre ich nicht nur nicht weg, sondern immer da gewesen. Diese Selbstverständlichkeit überrascht mich. Drei Jahre liegen dazwischen. Ich komme überall mit den Menschen ins Gespräch, vor allem Frauen sprechen mich an. Inzwischen muss ich die Adressen nummerieren, damit ich später die Fotos zuordnen kann.
Sie geben mir ihr Bild für ein Dankeschön, eine Münze oder eine Adresse.
Auf der Zunge habe ich den neuen Geschmack von Aloco, den gebackenen Bananen aus einem Stück abgerissenem Packpapier.Das Häuschen des Büglers ist geschlossen, Frauen tragen Holz auf dem Kopf nach Hause. Der Verkäufer in der Boutique an der Ecke dreht eilig den Schlüssel um und rennt los. Alle gehen in die Richtung, aus der der Ruf des Muezzin kommt.
Das Gebet dauert nicht lange und die festliche Gruppe tritt den Rückweg an. Eine junge Frau fordert mich auf, in ihren Hof mitzukommen. Auch die Mutter nickt auffordernd. Kaum sitze ich auf der Bank, habe ich schon einen Teller mit dampfenden Innereien in der Hand. Die Suppe mit dem Magen und der Lunge der Ziege, deren hintere Hälfte am Ast über mir hängt. Der große Alte legt das weiße Übergewand ab und greift nach einem langen Messer und einer Ziegenhaut, die er an eine Leine spannt. Dort soll sie trocknen, nachdem er das letzte Blut abgeschabt hat. Vielleicht wird es ein neuer Gebetsteppich. Für das Foto, das ich zu schicken verspreche, legt er noch einmal das weiße Gewand an.
Töpfe mit Reis, Töpfe mit Sauce. Aus zwei großen Töpfen wird das Essen in viele kleine Töpfe verteilt. Als ich mich umsehe, sind auf einmal alle Töpfe verschwunden. Fortgetragen. Man besucht Freunde, anderen schickt man das Essen. Überall muss man essen.
In diesem Hof ist es ruhig geworden, seit ein Mann und eine Frau an Aids gestorben sind. Früher war der Hof an Ramadan immer voll, jetzt kommen viele Freunde nicht mehr, erzählt die Nichte der Toten.
Auf dem Heimweg komme ich wieder an der Boutique vorbei. Da wird schon wieder verkauft, und der Bügler fächelt Luft an die Kohlen.Ich habe draußen, unter dem schilfgedeckten Pavillon auf den Abend gewartet, bis sich die Sonne darunter schlich. Da riet mir Amadou, unser Gardien, nun den Schatten an einer anderen Stelle zu suchen. Er ist ein großer dünner Muselman. Heute schimpft er, als ich ihn nach dem Fest frage. Fest, was heißt Fest, sagt er, wenn man kein Geld hat, schönes Fest! Zwanzigtausend – so habe ich verstanden – verdient er, und noch ein paar Zahlen dazu, die ich nicht mehr verstanden habe. Er ist in das Haus der Gardiens verschwunden und mit zwei Zetteln wiedergekommen: Lohnstreifen der Université de Ouagadougou: Gardien. Und ununterbrochen schimpft er. Wenn SAL salère ist, dann stand da: 29850 Francs. Etwas mehr als 100 DM also. 100 Francs CFA sind ein französischer Francs. Er hat fünf Kinder. Sein Haus kostet 10 000 Francs. Soviel verdient ein Lehrer. Ein Brot kostet 100. 50 kg Reis gibt es für 12000 Francs. 1l Benzin: 370 Francs.
Ein Loch im Schlauch meines Mofas wird für 100 Francs repariert, die Schuhe werden für 50 Francs geputzt.
Wie soll er das machen, schimpft er weiter und geht eine Kanne mit Wasser holen, um sich die Hände, das Gesicht, die Füße und auch die Beine zu waschen. Das Gebet dauert heute nur fünf Minuten. Dann sagt er verschmitzt, dass er sich eine Zigarette holen wolle, und setzt sich auf das Fahrrad. Das leuchtend blaue Gewand verschwindet wehend durch das Tor. Er bleibt so lange wie zum Gebet. Dann legt er sich in seinen Stuhl und zündet die Zigarette an, für ihn beginnt die Nacht.
Eine kleine schwarze Katze lauert Geckos auf. Dazwischen macht sie einen vergeblichen Satz nach einem Vogel. Aber die zarten Vögel sind zu flink.4.3.95
Auf dem Platz vor der großen Moschee gab es einen Tumult. Vier Männer hatten einen Mann an Händen und Füßen gepackt und rannten mit ihm, dem das Hemd hinauf-, die Hose hinuntergerutscht war, umgeben von schreienden Menschen über den Platz zur Polizei. Ein Dieb. Die Zurückbleibenden wandten sich lachend ab und gingen wieder ihrer Wege.
Wenn mir einer die Tasche wegreißen will, soll ich schreien, sagen sie. Sofort würden sich alle auf den Dieb stürzen. Und Diebe schlagen sie tot. Ich weiß nicht, ob ich schreien würde.Germaine ist heute nicht gekommen. Jetzt ist es eine Stunde und zehn Minuten über die Zeit, die wir verabredet haben. Da kann es auch der Bus nicht mehr sein, wie gestern, als sie 20 Minuten später kam. Germaine ist eine Studentin des zweiten Studienjahrs. Ich habe sie gefragt, ob sie mir Nachhilfe geben wolle, mit mir französisch sprechen, und sie hat sofort zugesagt. Zweimal haben wir uns schon getroffen, heute wäre es das dritte Mal.
Vielleicht ist ihr Bus heute nicht gekommen. Oder sie ist krank geworden. Gestern habe ich sie nach unserer Stunde und nachdem sie mir noch beim Umziehen von einem Haus in das andere geholfen und den Laptop herübergetragen hat, auf der Mobilette in die Stadt mitgenommen. Als ich den warmen Körper an meinem Rücken spürte, bin ich so vorsichtig gefahren, als hätte ich meine Tochter dabei. Da war kein Unterschied. Als ich sie an der Post, wo ihr Bus halten sollte, absetzte, war es schon dunkel und die Luft war undurchsichtig von den vielen Abgasen und dem Staub, wir haben uns verabschiedet und à demain! - bis morgen! – gewinkt, sie wollte nach Hause, und ich hatte Hunger. So trennten wir uns.
Germaine kommt aus Abidjan, lebt hier bei entfernten Verwandten und hat, seit sie hier ihr Studium vor fast zwei Jahren begonnen hat, ihre Familie nicht mehr besucht. Auf die Frage, wann sie das tun würde, zuckte sie mit den Schultern. Ich konnte kein Bedauern erkennen. Was heißt „Heimweh“ auf französisch? Ich würde sie ein andermal fragen, wir kannten uns ja noch kaum. Als ich sie gegen Ende unserer conversation bat, mir etwas von sich zu erzählen, schilderte sie, wie sie, als sie nach Ouaga kam, krank geworden sei, eineinhalb Monate habe sie im Fieber gelegen. Ja, so war es, sagte sie und nickte dabei genauso, wie wenn sie mir ein neues Wort erklärte, damit ich es wiederholte und noch einmal wiederholte.
Ich bin ins Haus gegangen, habe die Klimaanlage und den Laptop angestellt. Jetzt wird es dunkel. Die Mobilettes in der Ferne fahren mit ihrem gelben Licht.
Auf dem Bildschirm leuchten dunkelblaue Buchstaben auf hellblauem Grund.
Nein, Germaine kommt heute nicht mehr.
Jetzt ist es schon so dunkel, dass ich lange hinsehen muss, um zu erkennen, ob eine Gestalt sich nähert oder entfernt.
Das einzige Wort, das die Studenten heute nicht verstanden haben, war: blass. Blasse Schatten. Was ist das? fragten sie.
Blasse Schatten. Wie soll ich das erklären.
Germaine ist im Dunkeln verschwunden.
Ich liebe diese schwarzen Frauen dafür, dass sie nicht meine Kinder sein können.5.3.95
Ein Sonntag. Die Vögel singen in meinem Garten? Vögel wie aus dem Zoo entflogen, so bunt, so klein. Taubengrau – von wegen! – taubenviolett, taubenrosa, taubenpink, mit Schwanzfedern länger als der ganze Körper.
Vorne, ganz weit vorne, wo die Auffahrt zum Gästehaus anfängt, gehen Menschen vorbei. Tauchen auf, um wieder zu verschwinden, oft tragen sie große oder kleine Lasten auf dem Kopf: Holz oder Seife, eine Schüssel mit Mangos, einen Kochtopf mit Deckel. Kleine Jungen mit einem verglasten Holzkasten voller kleiner Krapfen schauen darunter hervor, ob sie vielleicht ein oder zwei ihrer Kuchenbällchen verkaufen können. Ungerufen gehen sie weiter. Morgen werde ich ein Zeichen geben, und einer wird mit schnellen kurzen Schritten hereingelaufen kommen und mich anlachen.
Und diese Farben! Wie schön sie sind, die Frauen und die Männer, wenn sie ihre bunten weiten Gewänder tragen! Den Frauen rutscht ihr Boubou über die Schultern herunter und gibt die schwarz schimmernde Haut frei. Das dazu passende Tuch ist kunstvoll um den Kopf geschlungen. Meine Augen reichen nicht aus.
Jeden Mittag wieder brennt mir die Sonne den Beweis in die Haut, dass ich bin.Inzwischen habe ich die Antrittsbesuche beim Dekan und bei dem Chef du Département hinter mir, mal gibt es eine Einladung hier, mal da. In der Botschaft muss ich mich noch vorstellen. Jeden Mittag werde ich bei den Freunden erwartet, die wissen, wo ich herkomme. Gegen Abend kommen Studenten, mich zu begrüßen. Höfliche, freundliche kleine Gespräche. Die gut deutsch sprechen, nutzen die Gelegenheit. Die kleine dürre Katze, die ich schon kenne, nähert sich scheu. Als ich sie locken will, springt sie schnell wieder fort. Seydou wundert sich darüber, dass die Weißen mit den Tieren sprechen. Keiner versteht das hier. Und dann erzählt Seydou: Bei uns, in meinem Dorf, sagt man: Wenn eine Katze fortgeht, stirbt ein Mensch.
Ich habe hier auf diesem Kontinent, den sie nie gesehen, der sie nie gesehen hat, noch nicht ein einziges Mal ihren Namen genannt. Keiner weiß, dass sie mit mir hier ist, alle müssen denken, ich sei allein. Alle schweigen von ihr. Aber sie wissen es nicht. So tut das Schweigen nicht weh.
Und dort wohnt keine weiße Frau? werde ich gefragt.
Nein – nur schwarze Männer. Ich bin hier der Fehler. Das Fremde.
Narben sind rosa, Blut ist rot. Immer.Ich staune über die Selbstverständlichkeit meiner weißen Anwesenheit, die auf mich übergegangen ist. Ich staune darüber, dass das Staunen verschwunden ist.
Ich will, dass die nächsten Monate gelingen. Ich will das nächste Stück Leben schaffen. Und „gelingen“ ist zu denken: Es wird nicht leicht sein, statt: Es geht sowieso nicht. Wenn ich mir etwas wünsche und weiß, was ich will, wird es gehen.
Dass man beim Fahren mit dem Mofa in der Nacht immer dann Gas geben muss, wenn man nicht weiter weiß. Nichts sieht, nicht einmal in der Ferne eine Lampe. Einzelne Petroleumlampen am Straßenrand, hier und da ein Feuer, das kurz aufleuchtet und bald wieder erlischt, glüht, raucht. Der Geruch der Nacht.8. März 95
Der Tag der Frau ist hier ein richtiger Feiertag.
Ich frage Francois: Gibt es heute Brot oder nicht? Er nickt und lacht. Es gibt. Ich hole Geld, er geht, bleibt länger weg als sonst, vermutlich holt er das Brot von einer anderen Stelle, weil die Uni geschlossen ist. Er kommt zurück und ganz nahe, legt mir das Brot in die eine und die Münzen in die andere Hand, ich lege eine in seine zurück. Der Tag fängt gut an.
Beim Zurückkommen von meiner Spazierfahrt bin ich zu schnell eingebogen. Jetzt habe ich eine Wunde am Schienbein und eine zerkratze Brille.11.3.95
Mit dem Aufschlag nach ihrem Sturz oder Fall oder Flug ist mein Leben zerbrochen. Stücke. Fetzen. Trümmer. Das, was mein Leben gewesen war, gab es nicht mehr. Gab es mich?
Erst viel später, als ich wieder etwas sagen konnte, hätte ich, wenn es einer hätte wissen wollen, gesagt: es war Folter. Bei vollem Bewusstsein wurden mir die Knochen gebrochen, nicht nur einmal, immerzu, wochenlang, monatelang, und gleichzeitig das Fleisch zerrissen. Nur wenn ich einschlief, ließ es nach. Ich konnte nicht einschlafen. Ich konnte nur dann einschlafen, wenn da eine Hand war, an der ich mich mit beiden Händen festhalten durfte. Für jede Sekunde, die mich diese Hand der Folter entzog, war ich unendlich dankbar.
Aber auch diese Hand hat sich entzogen.Die panische Angst, wenn ihre Schwester oder Karim nicht da waren zu der Zeit, die sie gesagt hatten. Da war Tod. Waren sie dann da, glaubte ich ihnen ihr Leben nicht. Ich zitterte, ich tobte und ich schrie sie an. Ich konnte nicht anders. Ich hätte sie schlagen wollen.
Wie ich sie geschlagen habe, als sie fünf Jahre alt einmal nicht nach Hause kam und nicht zu finden war und dann dastand. Umarmen und schlagen, umarmen und schlagen. Ich musste sie umarmen und ich musste sie schlagen.Die dunklen Monate. Der Körper hat ein Gedächtnis, es saß im Bauch. Er war unbelehrbar. Als wollte er dieses Kind noch einmal bekommen. Es tat weh.
Zuhause bin ich jeder Aufforderung gefolgt, habe jedes Telefon angenommen – „Ja?“ –, jedem die Tür aufgemacht, dankbar. Ich habe mir alles geschehen lassen. Habe zugesehen, was die Menschen in meine leere Welt stellten. Aber das war noch kein Leben, das kam erst hier. Hier habe ich mir Afrika geschehen lassen.
Auch der Ruf nach Ouaga kam durchs Telefon, und was von mir übrig war nach ihrem Sturz, habe ich zusammengepackt und aus unserer Welt geschafft.Karim redete über die Liebe, die man nicht braucht. Ein Satter sagt zu einem Hungernden: Hunger ist nicht so schlimm, Hunger macht nichts. Einer, der nie Hunger hatte, der überfüttert wurde, sagt zu dem Hungernden, er soll nicht jammern, soll nicht betteln, sich nicht so unwürdig benehmen, sondern die Zähne zusammenbeißen. – Ohne Brot.
Der, der das sagt, hat Hunger nie gefühlt.12.3.95
Ferien in Afrika ist wie Ferien in den Ferien. Ich bin ins Unendliche entlassen.
Wenn ich in den Stunden, wo die Zeit sich dehnt – und das tut sie besonders in den Stunden der übermäßigen Hitze – an das Zurückkehren denke, dann graut mir davor und ich will nur noch zurück, um ganz wegzugehen.Schiffbruch erlitten.
An ein Land gespült. Ein warmes, freundliches Land. Meine Rettung. Eine Insel. Boden unter den Füßen. Ich kann liegenbleiben und mich von der warmen Sonne trocknen lassen. Die Düfte riechen, menschliche Stimmen hören. Dankbar sein. Was will ich mehr.
Es ist eine Insel, sonst nichts.
Doch erst wenn du begriffen hast, dass du gerettet bist, fühlst du, was verloren ist.
Mit meinem Herzen werde ich es nie verstehen.Ouaga ist diesmal eine weiche Landung. Das Vertrauen in die Freundlichkeit überall um mich herum war sofort wieder da. Es war schon da, bevor ich kam. Ich habe es hiergelassen und wiedergefunden. Es hat auf mich gewartet. Ich darf die vielen Dinge wiederfinden, die mir so fremd waren beim ersten Mal und in die ich mich jetzt gerne schicke.
Es ist so wunderbar, angelächelt zu werden, auch wenn es „nur“ die Oberfläche ist. Ich lächle selber viel mehr als anderswo. Und das tut gut. Die Freundlichkeit schafft eine Geborgenheit wie das Moskitonetz um mein Bett.
Die überall bereitstehenden Formen helfen mir sehr. Ich nehme sie dankbar an und versuche, sie ordentlich zu erfüllen. Es ist ein Halt. Mit dem Ankommen sind sie schon da, ich brauche nur so höflich wie alle anderen zu sein. Ich versuche es mit den Ritualen, die ich um mich herum vorfinde. Und es geht. Es geht ohne nachzudenken, nachmachen genügt.Hier bin ich allein mit ihr. Endlich. Endlich wirklich.
Hier sagt mir niemand, was ich tun soll, ich kann weinen soviel ich will, wie ich will. Ob ich will oder nicht.
Am Wechselschalter der Bank bin ich angestanden, als ich plötzlich merkte, wie mir die Tränen herunterliefen. Ich ging weg ohne Geld, legte schnell einem Bettler vor der Tür eine Münze in die fingerlose Hand, nahm mit dem Merci im Rücken meine Mobilette, um schnell zu mir zu kommen.
Selbst schreien darf ich hier. Keiner ist da, der mich hört und dem das Angst macht.
Als ich mich habe schreien hören, bin ich aufgestanden in diesem Schrei. Als wäre meine Stimme um mich herum stehengeblieben wie ein Korsett, aus dem ich nicht mehr fallen konnte. Ich hatte einen Halt.
Dort durfte ich nicht schreien. Nie. Und schon gar nicht, als ich sie tot wiedersah.15.3.95
Dieses heiße Land und ihre kalten Hände. Wie sie jetzt wohl aussehen.
Vor dreißig Jahren war ich schwanger mit ihr.Ich habe das ganze Unglück nicht sehen können, nicht sehen wollen.
„So schlimm ist es nicht -“, sagt Karim manchmal.
So schlimm ist es doch. Es ist schlimmer.Es gibt nichts Schlimmeres.
Sagten sie. Dann sagte ich es auch. Was sollte ich sagen. Es gibt nichts Schlimmeres.
Die lächerliche Rücksicht der Polizisten, die mit dem Polaroid Bild kamen, damit ich sie identifizierte. Natürlich war sie es. Was von ihr zu sehen war, sah so unversehrt aus.Gestern hat in Ouaga ein Lastwagen einen Mofafahrer geköpft.
17.3.95
Die Frauen schlafen bei ihrem Gemüse.
Ich lerne die Kunst, eine Mango zu essen. Den Bauch aufschneiden, den Kern ausgraben.Der Unterricht beginnt jetzt erst richtig, eine Woche Ferien ist vorbei. Aber Arbeit ist mir lieber als Ferien, Aufgaben an jedem Tag, die ich mir nicht selber geben muss. Das brauchte mehr Kraft.
Es ist gut, dass ich hier bin, nicht nur für mich. Für alle zuhause. Kann ich doch nicht wirklich wieder glauben, dass etwas bleibt. Da kann es sein, dass ich durch mein Verletztsein verletze, vielleicht ist ja schon Vorsicht, Zaghaftigkeit, Ängstlichkeit eine Verletzung.
Wenn etwas nicht weh, sondern nur gut tut, bin ich schon froh, ja glücklich. Darum ist dieses freundliche Netz von Menschen in mittlerer Entfernung, in dem ich mich hier finde, gerade richtig. Auch wenn die Zeit lang ist. Und wenn dann jemand auf mich zukommt und mich irgendwohin mitnimmt, wo wieder geredet wird über alles Mögliche und nichts, das wehtut, dann ist es auch gut.
Jetzt geht wieder ein Tag zu Ende. Der Sand vor meinem Fenster wird rot, bevor ihn die Nacht schwarz färbt. Radfahrer ziehen ferne Linien hindurch, die ersten Mofafahrer schalten ihr gelbes Licht an. Ich werde vors Haus gehen. Dort sitze ich gerne, wenn es dunkel wird.
Ruhe finde ich nur dann, wenn ich nichts mehr verstehen will.Es sind viele Tage. Es ist eine lange Zeit. Es sind lange Tage.
Kein Selbst und ohne Verbindung. Unbeweglich ohne Sprache.
Sie schweigt wie ein Grab.Habe ich Kinder oder habe ich ein Kind. Wie soll ich es sagen. Es beginnt ja schon damit, dass ich, wenn ich von meinen „Kindern“ spreche, nicht weiß, ob ich sage: „sie sprechen“ oder „sie sprachen“ keinen Dialekt. Man kann – oder konnte – an ihrer Sprache nicht hören, wo sie geboren sind. Geboren war. Geboren ist.
Wenn ich mich für Präsens und Plural entscheide, dann ist es, als gäbe es sie noch. Das ist nicht wahr.
Wenn ich nur von einem Kind rede, ist es, als hätte es sie nie gegeben.
Wenn ich unterscheide – es gab und es gibt – muss ich weinen. Ich sage nichts mehr.Kinder, die kurz nach der Geburt sterben, sind Kinder, die nicht leben wollen, sagen sie. Man ritzt ihnen, bevor man sie begräbt, ein Zeichen in die Haut des rechten Ärmchens. Es kommt vor, dass das nächste Kind derselben Mutter mit diesem Zeichen geboren wird. Und man muss es mit allen Künsten des Kräuterheilers dazu bewegen, dass es nun am Leben bleiben will.
An der roten Ampel lege ich ein Münze auf den Stummel eines Arms. Das ist heute die dritte. Ein paar Münzen habe ich noch, dann ist mein täglicher Vorrat verbraucht.
20.3.95
Seit dem Sturz mit dem Mofa sitzt meine Brille schief.
Diesem Mofa kann ich nicht trauen. Es ist eine unzuverlässige Beweglichkeit. Es muckt oft. Wenn es warm ist, springt es nicht mehr an. Dabei hat es der Mechaniker am Mittag durchgesehen. Ich fahre nur noch Straßen, wo alle 100 Meter ein Mechaniker sitzt. Aber auch die schaffen es dann nicht, und man muss es mindestens eine Stunde stehen lassen, dann geht es wieder.
Ich bin in der finsteren Stadt herumgelaufen, was ich ja kaum tue, wenn das Mofa läuft, mittendrin und mit den Füßen auf dem Boden. Dann habe ich mich gegenüber der großen Moschee vor eine Buvette gesetzt und ein Sob.b.bra getrunken, ein bisschen niedergeschlagen war ich schon. Ein Einarmiger hat mich begrüßt und sich zu mir gesetzt. Ich war recht einsilbig, bis ich dachte: Mach es anders. Ich habe ihn eine Spur freundlicher angeschaut. Da war es wieder: Sofort lachte er und ich lache zurück und spüre, wie ich mich verändere. Er hat gefragt, ob ich ins Kino gehe, ich sagte ja, aber nicht jetzt, er ist dann ins nächste Kino gegangen und ich zum Essen direkt an der Straße, nur ein paar hundert Meter weiter. Als ich zurückkam, war er wieder da, lachte schon, als er mich kommen sah, und man versuchte mit vereinten Kräften, das Mofa zu bewegen. Und siehe da: es ging wieder. Wenigstens bis nach Hause. Der Mechaniker muss ein Teil austauschen, ich hoffe, dass dann Ruhe ist. So traue ich mich nicht mehr über die Stadt hinaus.22.3.95
Ouaga wäre die Chance, mein Leben neu einzuräumen. Allein mit mir, mit meinem toten Kind und einer Aufgabe. Keine leichte Aufgabe, und doch fällt sie mir nicht eigentlich schwer. Ich arbeite ohne Widerstand. Das ist neu. Die Lust auf Vorbereitung, Nachdenken, Einsatz kommt immer zur rechten Zeit. Dann treffe ich die Entscheidungen, die sich als gut erweisen, vertrete sie, bis die Dinge getan sind.
Manches was mir früher schwer fiel, fällt mir jetzt überraschend leicht. Ist gar nicht mehr der Rede wert. Gedacht, getan. Ich darf gespannt sein, was wirklich wichtig und schwer sein wird.
Vier Stunden Unterricht bei 40-45 Grad mit müden, erschöpften, Studenten, die Kopfschmerzen haben und denen noch eine Malaria in den Knochen steckt, nach wegen der Hitze fast schlaflosen Nächten, sind schwer. Da klappe ich beinahe zusammen. Danach habe ich Magenkrämpfe. Aber mit duschen und ausruhen geht es wieder weiter, die Vorbereitung fällt mir wieder leicht. Ich halte Ausschau nach neuen Zielen. Ich will die Nacht fotografieren.Das Entscheidende: Ich spüre, was ich möchte, und handle danach.
Mit niemandem mehr verbunden in der Weise, dass ich ohne ihn nicht weiterleben könnte. Diese Klammer kann ich ihr mitgeben in ihr Grab.24.3.95
Ich erkenne meine Hände nicht wieder, nachdem ein Mechaniker das Mofa angelassen hat. Mit solchen Händen stand ich dann in der Französischen Botschaft, um mein Visum für die Elfenbeinküste in Empfang zu nehmen.
Als ich das Visum beantragt habe, machte ich einen Fehler. Ich schrieb statt des Datums 23.3. den Tag 25.5. Der Beamte hat es korrigiert. Das falsche Datum ist ihr halbjähriger Todestag. Gegenwärtig.26.3.95
Afrika hat mich neu geboren. Mir fehlt nur noch eines: die Farbe. Unvollständig, unfertig, finde ich mich. Und staune immer noch, dass Haut dort, wo ich sie bis dahin nicht gesehen habe – am Hintern, am Geschlecht – auch schwarz ist und nicht rosa wie die Fußsohlen und Handinnenflächen.
Der Harmattan, der warme Wüstenwind, fegt durch die Blüten und über den Sand und zieht einen undurchsichtigen Schleier über die Erde. Rote Wirbel steigen zum Himmel auf, verteilen sich und überziehen uns mit einer sandigen Haut.
Der Kugelschreiber schiebt sich schwer über das Papier, läßt Lücken, wo er den Staub nicht schafft, ich streife den Berg ab, den der Stift nicht mehr übersteigt. Werde ich die Lücken noch füllen können, wenn ich wieder zuhause bin?
Die Zähne knirschen, die Augen tränen. Husten am Abend.
Der Friseur am Weg nach Tangin hat sich die Mütze über beide Ohren gezogen, während er einem anderen die Haare schneidet. Nackte Irrläufer sitzen an den Stauseen und schauen leer auf das Wasser.
Hier fangen sie die Fische mit den Händen. Stehen im Wasser der Barrage. Halten die Hände unter das Wasser, die Fische schwimmen hindurch, sie packen zu. Haben den Fisch, kochen ihn, essen ihn oder verkaufen ihn.
Man muss zupacken, wenn man einen Fisch fangen will. Wie lange stehe ich schon im Wasser. Greifhemmungen. Ich sehe den Fisch, fasse nach ihm, aber packe nicht zu. Im letzten Moment gleitet er mir durch die Hände, geschmeidig und schön. Und ich sage: ein Fisch ist eben nicht zu greifen.Ich bin gegen Sturm, Sand und Staub aus der Stadt hinausgefahren. Für Sekunden ohne Sicht. Wollte zu den Krippen und die Kinder wiederfinden, die mich geführt haben, den Jungen, der gar nicht mehr aufhören wollte mit: Dort ist noch eine und noch eine und noch eine!
Da hatte ich nicht genug zum Verschenken dabei. Heute wollte ich ihnen Schuhe bringen und Kugelschreiber, Kekse und Bonbons. Natürlich fand ich die Kinder nicht wieder, dafür andere. Natürlich habe ich den Weg verloren. Dafür einen anderen gefunden. Mädchen, die an einem Stand neben einer Krippe Öl verkaufen, verlangen lachend 1000 Francs für ein Foto. Da lache ich auch.
Ich lasse die Schuhe bei einer Frau, die ein Kind auf dem Bauch, eines auf dem Rücken trägt, und einem Jungen, der sich stolz als Propriétaire neben seine Krippe stellt, den Arm auf die Hüfte gestützt. Bis zur Regenzeit wird sie noch stehen, dann schwemmt das Wasser zuerst die Bemalung und dann den Lehm selber fort und lässt Ruinen zurück.
Am Abend reibe ich mir den Sand aus den Augenwinkeln.
Es ist die Zeit der Papayas.27.3.95
Ein Poulet télévisé ist das Hähnchen, das sich hinter dem Glas dreht, dem Poulet grenouillé ist der Bauch aufgeschnitten und die Beine sind so auseinandergeklappt, dass es wie ein Frosch aussieht, und das Poulet bicyclettebekommt diesen Namen, wenn es zäh ist, was darauf schließen läßt, dass es in seinem kurzen Leben lang und viel in Burkina herum gerannt ist.
Ich gehe zur Mensa, berühre den Boden Schritt für Schritt. Habe ich dieses Land vor drei Jahren überhaupt berührt? So wie diesmal, als ich mich schon beim Aussteigen von ihm umfangen ließ. Diesmal habe ich die Freundlichkeit angenommen und manchmal vielleicht erwidern können. Sie machen es einem so leicht und ich kann es glauben.
Dann bin ich zusammengefahren. Ein Höllenlärm bricht aus, als ich in die Halle trete, wo gegessen wird. Alle schlagen heftig mit ihren Löffeln auf den Teller zu meiner Begrüßung. Und lachen. Auch darüber, dass ich so erschrocken bin.28.3.95
Am Abend beim Hinaustreten habe ich den Wunsch, die Brille abzunehmen, weil sie verdunkelt, und noch nicht wieder aufgehellt hätte von der starken Helligkeit, die sie geschwärzt hat. Der Wunsch ist ein Irrtum: Nicht die Brille, die Nacht ist so schwarz.
Wann werde ich mich an den Rand der Terrasse stellen und – ohne irgendetwas zu sehen – Francois? sagen und nicht mehr überrascht sein, wenn sich etwas bewegt. Oui, madame?
Ich hebe die Blüten des Granatapfels auf. Der Sandwind hat sie heruntergeworfen. Ich werde die Äpfel nicht reifen sehen. Ich betrachte die Blüten, die in Deutschland erbleichen werden. Ihre Farbe verlieren.
Wie die Kleider. Wie die Haut.
Unsere blassen Kleider. Unsere bleiche Haut.Die Hälfte. Die Zeit steht. Eine Waage, die sich von morgen an neigt.
Ich halte den Tag eine zögernde Stunde fest. Zweifel? Komisch. Den gab es bisher hier nicht. Mit dem Weg zum Ende das Gefühl, dass sich bald nichts mehr ändern läßt. Was ich gemacht habe, ist gemacht. So oder so. Das „Hätte ich vielleicht…“ als Abwehr der Endgültigkeit?
„Hätte ich denn können?“Das Gefühl „Ich habe Zeit“, mit dem ich angekommen bin, heißt jetzt „Ich habe noch Zeit“. Wird es „Ich habe nicht mehr viel Zeit“ oder „Ich komme wieder. Das nächste Mal…“?
30.3.95
Der Sprung von 42 auf 45 Grad ist schwer zu ertragen. Jeder leidet.
Immer, wenn ich mittags durch die Sonne fahre, muss ich den Kopf schütteln: Nein, das kann man keinem beschreiben, der diese Luft nie gefühlt hat. „Sauna“ – das hilft nicht viel, obwohl die Temperaturen dem wohl nahekommen, aber wer fährt schon Mofa in der Sauna? Und eine Sauna kann man jederzeit verlassen, um sich in ein kaltes Wasser zu stürzen.
Dass es dabei so hell ist, dass man beim Hinaustreten erst einmal einen schmerzhaften Schlag auf den Kopf kriegt, kommt noch dazu. Heißluftofen von unendlicher Größe mit 1000 Watt-Lampen.
Und wenn ich abends durch ein Viertel fahre, in dem es keinen Strom gibt, um Issa, den Mechaniker, aufzusuchen, der mein Mofa durchsehen soll, dann sehe ich weder einen Weg, noch eine Straße, nur Andeutungen von Häusern, die noch eine Nuance dunkler sind als der Himmel. Das schwache Licht meiner Lampe erhellt gerade zehn Meter – wenn ich tüchtig Gas gebe, sonst nicht. Also muss ich immer dann besonders Gas geben, wenn ich nicht weiter weiß. Wider alle Vernunft? Hier geht es einfach nicht anders, sonst komme ich nirgendwo hin.
Dabei bin ich sicher nicht unvorsichtig, sondern eher vorsichtiger geworden im Laufe der Zeit. Mut und Vorsicht sind miteinander gewachsen.
Wenn man es „Mut“ nennen kann, Grenzen zu überschreiten, die sich nach und nach als innere Grenzen, als Angst, erweisen, ohne die man den Dingen vielleicht ein bisschen näher kommt. Um dann auf ein nahezu unüberbrückbares Nicht-Verstehen zu stoßen. Ich begegne überall denselben Fragen. Habe ich mich, wohin ich auch komme, doch immer dabei. Nur die Farbe der Fragen ist verschieden. Und die Temperatur.
Und das Tempo. Ich überlasse mich ihrem Rhythmus, ihrer Langsamkeit. Es gelingt nicht immer, fällt mir schwer, geht gegen meinen Strich. Doch diese Langsamkeit gehört dazu.Stromausfälle. Als wäre die Nacht noch nicht schwarz genug. Issa repariert mein Mofa im Dunkeln, schiebt es nicht einmal in den Schein einer Öllampe. Als diese auch noch ausgeht, schraubt er es zusammen: fertig. Dazwischen immer wieder sein kicherndes Lachen.
2.4.95
Der Vogel, der am schönsten und am lautesten singt, hat einen roten Bauch, der in der gleichen Farbe leuchtet wie die Blüten des Granatapfelbaumes, auf dem er sitzt. Rot der Bauch und pechschwarz der Rücken und der Schwanz. Ein schwarzes Häubchen auf dem schwarzen Kopf. Neben mir sitzt er, gleich hinter der Wand neben meinem Schreibtisch. Wenn er einmal gerufen hat, kann ich auf weitere Rufe warten. Niemals ruft er nur einmal. Es sei denn, ich öffne die Tür. Dann fliegt er davon und ich sehe nur noch einen roten Fleck, der sich bewegt zwischen den zurückbleibenden Granatapfelblüten.
Ich will nicht zurück.
Ich muss wohl. Oder?
Was kann ich mitnehmen von hier?
Was kann ich mitnehmen außer, gearbeitet zu haben.
Den Duft der Akazienblüten? Das Lachen der Frauen?4.4.95
Die ganze Nacht gab es wieder Stromausfälle, so dass die Klimaanlage immerzu ausgegangen und wieder angelaufen ist. Da war das mit dem Schlafen mal wieder nichts. Mal sehen, vielleicht geht es mittags besser.
Morgens hat es geregnet. Alles sei durcheinander, sagen sie. Es war 3-4 Grad (d.h. manchmal 48 statt 44 Grad) zu heiß bisher, die allgemeine Erderwärmung hat selbst vor dieser Hitze nicht haltgemacht, und der Regen kommt sechs Wochen zu früh. Trotzdem: Il fait beau! Das Wetter ist schön! Regen! Regen und Wind.
Heute haben mich die Studenten gebeten, eine Stunde früher anzufangen, damit sie das Fußballspiel Bayern München gegen Ajax Amsterdam sehen können.Freitagabend. An der Présidence wollte die Mobilette nicht weiter. Ich schob sie zur nächsten Tankstelle. Benzin fehlte nicht. Der Motor wurde auseinandergenommen. Bei jedem nächsten Handgriff versprach der Mechaniker: Dann wird es gehen. Noch einer und noch einer. Es war dunkel geworden, der schwarze Muezzin rief von der großen Moschee. Das Versprochene ist am Ende eine frohe Überraschung.
Der Blick des polierenden Schuhputzers auf die herumstehenden Füße. Tennisschuhe. Lederschuhe, staubig. Er poliert die schwarzen Slipper fertig. Der mit den staubigen Schuhen will die nicht geputzt. Der Junge deutet auf meine Füße und lacht. Ich klappere mit den Plastiklatschen. Er trägt sein Werkzeug in einem Sack auf dem Rücken davon.
Es ist, als wäre aus der Trauer um sie etwas angekommen, was ihr Tod verlangt. Wäre doch dieses Afrika ein Anfang.
Was bleibt, ist eine strenge Forderung nach der Bemühung um Gelingen. Zunächst das Hiersein, dann das Dortsein. Aber erst das Hiersein. Ich tue alles so gut es mir möglich ist, freundlich mit mir und mit anderen. Forderungen und Aufforderungen tragen mich von Tag zu Tag weiter. Ein bisschen krank war ich, „erkältet“, aber das ist wieder vorbei. Nur noch etwas schwach fühle ich mich, vor allem heute, wo es besonders heiß und schwül ist, die Nacht hat zum ersten Mal gar keine Abkühlung gebracht. Wir sind inzwischen bei 43 Grad angekommen. Ich mache mir Wind mit dem Mofa.8.4.95
Ich habe die erste Prüfung vor mir liegen und muss sehen: Ich habe mich getäuscht. Es muss sehr viel auf der Strecke geblieben sein zwischen mir und meinen Studenten. Schade. Wahrscheinlich habe ich sie überschätzt. Man ist wohl immer geneigt, das, was gesagt wird, für das Ganze zu nehmen. Aber die, die nichts verstehen, die sagen nichts. Es war der kurze Kurs im 2.Studienjahr. Vielleicht zu kurz, um die Schwächen auffangen zu können. Das tut mir leid. Nun kann ich nur noch die Bewertung anpassen. Mit dieser Enttäuschung muss ich erst einmal fertigwerden. Und dann bei dem Studienjahr, wo ich doppelt so viele Stunden habe, mehr kontrollieren, was eigentlich angekommen ist. Wahrscheinlich müsste man alles an die Tafel schreiben. Das ist mir bei der Hitze manchmal einfach zu anstrengend. Aber sie haben ja nicht einmal gebracht, was ich angeschrieben oder diktiert habe.
Also: Wie mache ich es jetzt mit der Todesfuge - und überhaupt, um hier mit einem einigermaßen guten Gefühl davonzukommen? 24 Stunden Unterricht habe ich noch. Das muss ich hinkriegen.9.4.95
Mein Schock über die Prüfungen legt sich allmählich, nachdem man mir sagte, das sei ganz normal, und ich mich erinnert habe, dass es mir vor drei Jahren auch so gegangen ist.
Noch 14 Stunden. Dann ist Auferstehung. Und ich kann wieder ausschlafen. Um dann in einem großen Bogen die Rückkehr vorzubereiten, nachdem ich mich zwei Monate in die Büsche bzw. den Busch geschlagen habe. Die Vaterstadt, wie find ich sie noch? Das Hochhaus steht noch neben dem Heimweg.
Keine Frage.
Über den Markt bin ich nur einmal gegangen. Das macht allein keinen Spaß. Ich wollte gar nichts kaufen. Als ich herauskam, hatte ich kein Geld mehr in der Tasche und zwei Stoffe im Korb. Schöne Farben, einer davon voller lapins. Den habe ich dann über das leere Bett gelegt und mich gefragt: warum eigentlich lauter Hasen?
Ach soooo – nächste Woche ist Ostern!
Es ist gut, dass ich hier bin. Etwas Besseres konnte mir nicht passieren.10.4.95
Gestern hat mir meine Vorbereitung überhaupt nichts genützt. Meine Kraft reichte einfach nicht aus, um Ingeborg Bachmanns Gedicht Reklame rüberzubringen. Es gab keinen Funken einer Idee, warum Werbung schlecht sein könnte. Auch meine Provokationen halfen nicht, im Gegenteil. Ich habe aufgegeben.
Ich bin krank. Schnupfen, Husten, Kopfschmerzen. Alles ist heftiger und geht dabei schneller vorüber als zuhause.13.4.95
Zum Abschluss des Lyrik-Kurses wollte ich Brechts Erinnerung an die Marie A. vorlesen, hören lassen, was ich so liebe. Ich habe es nicht bis zum Ende geschafft. … längst vergessen – wenn nicht die Wolke dagewesen wär -
Da konnte ich nicht weiter.
Vergessen – oh Gott! Ich fürchte nichts mehr als das.14.4.95
Es kommt mir vor, als wäre ich schon sehr, sehr lange hier, ich verrechne mich immer wieder mit den Tagen und möchte dauernd meine Malaria-Tabletten einnehmen, weil ich denke, es ist wieder eine Woche vorbei. Es geschieht soviel.
Ich habe sehr viel gearbeitet in dieser Zeit, manchmal waren es 18 Stunden Unterricht in der Woche. So unvorbereitet wie ich hier angekommen war, hatte ich viel vorzubereiten. Das habe ich oft noch in der Nacht gemacht, gegen Morgen. Kurz vor sechs Uhr geht die Sonne auf, um sieben Uhr beginnt der Unterricht. Eine lange Pause am Mittag und gegen Abend dann noch einmal Unterricht.
Wenn ich aus der Uni kam, war es schon dunkel, Nacht. Nach sechs Wochen dann die Prüfungen, die Korrekturen.
Und jetzt will ich noch eine Woche ans Meer. So wie ich aussehe, kann ich nicht nach Hause fliegen. Ich habe heute einen Flug mit der Air Burkina an die Elfenbeinküste gebucht.
Der Angestellte der Fluggesellschaft hat mich nach meiner Adresse gefragt und ich habe erschöpft und müde Maison des Hôtes - Gästehaus – gesagt. Er hat mich angeschaut und Maison des pauvres - Armenhaus – aufgeschrieben.’
Ob ich es schon wieder kann: eine kleine Reise machen, so wie ich sie mag, ohne Reservierungen, nur mit einem Stadtplan und einer Landkarte auf dem Schoß. Zum ersten Mal werde ich mich im schwarzen Afrika frei bewegen. Allein. Den Namen folgen: Abidjan. Grand-Bassam. Abidjan – Treichville. In einer Woche bekommen die Namen ein Gesicht.15.4.95
Seit die Arbeit getan ist, schlafe ich schlecht. Die Ruhe ist weg. Diese Ruhe, wenn ich mich hinlegte. Ganz neu und ganz innen. Der Rückweg steht bevor. Ein Rückschritt auch?
Zwei Schritte vor, einer zurück. Wenn es denn sein müsste, so dürfte ich mir nicht böse sein dafür.
Im Moment ist mir schleierhaft, wie diese Ruhe möglich war, wo sie herkam und wie sie wiederzufinden wäre. Vielleicht unterwegs.Osterspaziergang mit dem Mofa. Die Krippen von Weihnachten stehen noch da, verstaubt und abgebröckelt. Und die Kinder, die immer lachen. Die Jungen stellen sich sofort zum Fotografieren auf, strecken stolz den Bauch heraus. Ich brauche nur zu winken. Die Mädchen muss ich auffordern, mit Nicken ermutigen, sie lächeln verschämt, ich muss ihre zaghaften Schritte ins Bild bejahend unterstützen. Und auch dann lächeln sie nur schüchtern.
Diese Kinder. Schwarz-grau schmutzig hungrig. Dass sie immer und überall lachend gelaufen kommen, ist ein Wunder.16.4.95
Elfenbeinküste.
Der Flughafen von Abidjan ist klein. Zwei Hallen, um darin zu stehen für den Stempel und für das Gepäck. Schon auf dem Weg über das Rollfeld mit den ersten Schritten auf ivorischem Boden packten mich wieder die Magenkrämpfe. Heftig wie noch nie. Warum hier, warum jetzt. Beim Aussteigen aus dem Flugzeug. Durchatmen, durchatmen. Zu der Hitze kam nun auch noch die Luftfeuchtigkeit. Eine unklimatisierte Empfangshalle ohne einen Platz zum Sitzen. Man sollte stehend warten und schnell durchgehen. Was heißt hier schnell. Wenn ich mich nur irgendwo hinsetzen, hinlegen könnte. Aber es gab keinen Stuhl, keine Bank, nichts. Hier sollte keiner sitzen bleiben, alles war zum Durchgehen gemacht. Ich hielt mich an Brüstungen fest, der Schweiß lief mir von der Stirn, durchhalten, bis eine Bank kam. Ich hatte Angst umzufallen, suchte immer eine Wand, um mich anzulehnen, schob mich daran weiter und schließlich hinaus. Dann stand ich mit meinem Gepäck vor der Tür des Flughafens.
Eine Bank? Von wegen. Nichts, gar nichts. Keine zum Sitzen und keine für Geld. Auf der anderen Seite die Chauffeure, die ein Geschäft machen wollten. Sie kamen nicht über die Straße, Soldaten, Polizei und ein Flughafenbeamter sorgten dafür. Gleich war da ein Soldat. Der fragte mich, wo ich hinwollte. Grand-Bassam, ans Meer. Mit dem Taxi? Was es kostete. – Ob ich 500 Francs hätte.- Ja.
Der Soldat – er sollte wohl die Passagiere weiterbringen, bevor sie von den Chauffeuren zerrissen wurden – führte mich zu einem Buschtaxi. Auf dem kurzen Weg, es waren nur ein paar Schritte, mindestens fünf Angebote für die Fahrt nach Grand-Bassam. Der Soldat schüttelte sie ab, setzte mich in das Taxi mit dem Befehl: 500! Bis zum Gare routière. Ich ließ mich fallen. Sitzen! Liegen. Nicht wieder hinaus müssen. Als der Fahrer das Angebot machte, mich selbst nach Grand-Bassam zu fahren, wusste ich, dass ich das tun würde, wenn mein Geld noch bis dorthin reichte. Wenn es hier keine Bank gab, musste es billig sein. Ich würde nicht handeln können. Mein Geld musste bis dahin reichen, wo man meine Visa Card nahm.
Der Fahrer sagte: 15000. Ich: 10000. Das war alles, was ich noch hatte. Er nahm an. Wir fuhren. Ich legte den Kopf auf meine Tasche und sah Palmen. Palmen, nichts als Palmen. Und dann: das Meer. Palmen vor dem Fenster. Meer. Märkte unter Palmen am Meer. Wir fuhren auf der Palmenstraße am Meer entlang in die ehemalige Hauptstadt der französischen Kolonie.
Ich lag im Auto. Die Schmerzen ließen nach. Ich begann zu ahnen, was kommen würde. Ich ließ den Fahrer das Hotel aussuchen. Wo er hielt, würde ich bleiben. Er hat ein gutes Geschäft gemacht. Ich machte ein paar noch unsichere Schritte und war am Meer. Alles war ganz nah. Im warmen Wind unter den Palmen. Ich ließ mich auf ein Bett fallen, das für mich bereit war, neben einem schlafenden Hund, der mich erkannte. Und ich dachte: Hier gehe ich nie nie nie wieder weg. Vor einer Stunde bin ich angekommen, jetzt lande ich in meinem Traum. Ich erkenne ihn wieder. Genau. So sah er aus. In den letzten Tagen hatte ich ihn vergessen. Jetzt ist er da.
Das Einzige, was ich noch tun musste, waren wenige Schritte. Die machte ich. Dann ließ ich mich zum letzten Mal fallen.
Ich würde die Brandung hören Tag und Nacht. Und ich konnte sicher sein, dass das Rauschen des Meeres meine Ohren nicht mehr verlassen würde, bis ich ging.17.4.95
Ich hatte einen Traum, der war warm. Warmer Wind, weißes Wasser, weicher Sand. Eine Welt ohne Widerstand. Hier war sie.
Da bin ich. Staune und schaue: So also hat mein Traum ausgesehen.
Und leben wäre, sich etwas vorstellen, ganz tief vorstellen. Dann in die Welt gehen und sich überraschen lassen, wie es entgegenkommt.
Angekommen weiß ich: Das habe ich gewollt. Die eigentliche Überraschung ist nur das Wie.Ich habe eine glänzende Narbenhaut.
19.4.95
Der Wind. Tag und Nacht. Ich habe schlecht geschlafen. Oft hat mich ein anderes, lauteres und gleichmäßigeres Rauschen aufschrecken lassen. Regnet es? Ich bin hinausgegangen und habe keinen Regen gefunden. Der Wind hatte die Palmenblätter ergriffen und aneinandergerieben, das machte dieses Rauschen, das eine ganze Weile blieb, nachließ und wiederkam.
Wie lange müsste ich hier leben, bis ich das Klappern der Palmenblätter nicht mehr für klopfende Regentropfen hielte, die langsam und schwer zu fallen beginnen. Oder bis ich bei bedecktem Himmel erleichtert aufatme und bei anhaltendem Regen nicht mehr traurig bin.Ich habe den größten Teil der Nacht in der Hängematte verbracht, die zwischen zwei Palmenstämme gespannt war. Der Hund, der sich am Tag in den Sand unter meinen Liegestuhl gegraben hatte, kam heran und legte sich unter die Hängematte. Es gab noch drei andere Hunde, die das Hotel bewachten, dieser hier ging immer allein, er sah krank aus, hatte ein struppiges, verklebtes Fell mit vielen aufgekratzten Flecken. Er legte seine Pfote auf meinen Arm. Ich kraulte ihm den Kopf, den Hals. Er hob den Kopf hoch und schloß die Augen. Als ich aufhörte, legte er wieder die Pfote auf meinen Arm, und ich kraulte ihn. Das machten wir ein paarmal. Dann legte er sich neben mich in den Sand. Ich habe ihm von ihr erzählt in diesen Nächten.
Warum hat sie das nie gesehen. Warum hat sie diesen warmen Wind nie gespürt. Warum bin ich alleine hier. Warum ist sie nicht mit mir gekommen. Sie hat schon die Nordsee so geliebt. Ein Jahr war sie alt, als wir zum ersten mal mit ihr dahin gefahren sind. Ihr Kopf reichte schon bis über mein Knie, ihre Ärmchen umschlangen mein Bein, wenn sie die großen Wellen sah. Als sie größer war, lief sie hinein und verscheuchte mit Schreien und Jauchzen den Schrecken der Kälte.
Hier gab es diesen Schrecken, an den wir so gewöhnt waren, nicht. Das Wasser ist ebenso warm wie die Luft. Ein weicher fließender Übergang beim Eintauchen in den Schaum und das Licht. Da hätte sie glücklich sein können.
Warum hat sie mich nicht überlebt.Der Hund hat sich mein Weinen angehört. Irgendwann hatte er genug, ist aufgestanden und hat sich ein paar Schritte entfernt wieder zusammengerollt. Mondschein versilberte die Shoreline. Die Sonne würde wieder aufgehen. Dann würde der Hund sich wieder unter meinen Liegestuhl graben und schlafen. Gegen Morgen bin ich in mein Zimmer zurückgegangen. Wenn das Licht von außen kam, hatten die Moskitos kein Interesse mehr an mir, und ich konnte schlafen
In Grand-Bassam lief ich über ausgefransten Asphalt, dessen Ränder zerrissen und abgestürzt waren. Von vielen Regenzeiten fortgespült. Unterlaufen. In der Mitte stand der Asphalt noch. Einen halben Meter höher. Unbefahrbar.
Die Gesichter der Weißen, die mit Schwarzen leben, sind oft so ausdruckslos und leer. Kann ein Schwarzer für einen Weißen ein Spiegel sein. Ein schwarzer Spiegel? Und umgekehrt? Vielleicht braucht man gar keinen Spiegel.20.4.95
Gestern war ich die Nr. 31 in der Reihe, die bis 34 reichte, um in den Bus nach Abidjan einzusteigen.
Der Junge, der gesehen hatte, wie ich eine wartende Frau fragte, wo ich ein Ticket kaufen könnte, forderte mich auf, ihm schnell zu folgen, lief zu einer Bude, die – wie ich jetzt erst erkannte – ein Fensterchen hatte, das verschlossen war. Der Junge trieb mich zu erhöhter Eile in die andere Richtung, ich folgte seinem froschgrünen T-Shirt mit den vielen Löchern vor eine andere Bude. Wieder ein Fenster, 20×30 cm groß. Davor ausgestreckte Arme, Hände mit Geldscheinen, Stimmen dahinter.
Der Junge trieb mich weiter an, war unzufrieden, weil ich nicht sofort meinen Arm, meinen weißen Arm dazwischendrängte. Zuletzt gelang es mir doch. Das Geld wird aus meiner Hand genommen. Ich sage: Abidjan. Abidjan-Plateau. Eine Münze wird in meine Hand gelegt, eine zweite fällt daneben. Jetzt schiebt der Kleine mich in eine Reihe. Da stand ich nun. Drei Männer stellten sich hinter mich. Dann war Schluss.21.4.95
Für 1000 Kilometer braucht der Schmerz drei Tage. Dann ist er auch angekommen. Für den Weg von Europa nach Afrika waren es 10 Tage. Und in der Zeit zwischen meiner Ankunft und seiner erlebte ich etwas, das sich anfühlte wie Glück. Gerettetsein. Dankbarkeit für die Rettung. Alles gut. So soll es bleiben.
Sie – blass, kalt.
Nichts bleibt.
Nach drei Tagen läuft sie mit ihren kleinen eineinhalbjährigen Füßen auf die Wellen zu und dann wieder in meine Arme. Sie lacht.
Vielleicht war sie da ein bisschen glücklich.
Und ich habe geglaubt, ich kriegte sie groß mit meiner Liebe. Mit meiner durchlöcherten Liebe. Habe noch nicht gewußt, dass das, was ich ihr geben konnte, nicht genügen würde dafür. Das rote Frotteemäntelchen. Kinderbilder.
Das Glück, das sie verlor. Finde ich es hier?
Hier hätte sie sich nicht umgebracht. Es fehlen dazu die Kälte, das Grau, die hohen Häuser.Wie kommt es, dass ich denke, der Atem des warmen Windes, der vom Wasser kommt, sei alles, was ich brauche. Dass ich in dieses Wasser auch noch eintauchen kann, ist schon fast zuviel des Guten von dieser Welt.
22.4.95
Nach einer Woche bin ich aufgestanden und sage: Ja, ich bleibe. Es ist genug zerstört worden. Zuviel.
Auch ich habe sie zerstört. Und das wird immer zu meinem Leben gehören.
Ich werde bleiben, um dem einen Sinn zu geben.
Die Welt ist dazu da, sie zu sehen. Und es kam mir vor, als müsse ich das jetzt für uns beide tun.
Die Mangos, die Papayas, die Ananas waren noch nie so süß.
Die Avocados sind noch nie so zart auf meiner Zunge zergangen.wir
die sie zurückgelassen hat
haben die Pflicht
dafür zu sorgen
dass uns
dieses gottverdammte Leben
gelingt23.4.95
Ouaga.
Ich bin nach Ouaga zurückgeflogen. Habe angefangen, meine Sachen, oder vielmehr das, was ich davon nicht verschenkt habe, wieder zusammenzupacken und weiß: Ich gehe mit nichts zurück. Ich werde in mein Leben von nun an nur wieder aufnehmen, was mich zusammenfügt.
Ich kann ja sagen und es ist ja, und nein sagen und es ist nein. Ich fühle mich sehr klein, verwundet, zerbrochen, aber die Stücke fangen an zusammenzuwachsen. Es ist wie ein Glück.Und immer wieder ihr Lachen. Die Schwarzen haben mich lachend empfangen und – was sollte ich tun – ich habe zurückgelacht. Und ich spürte, wie heilsam das war. Als streichelte mir eine Vogelfeder die Seele. Überall war es zu haben, ich musste nur vor die Tür gehen. Draußen habe ich gelacht, drinnen habe ich geweint.
Schreien vor Schmerz. Hören, was hält, um nicht zu
Ihr Lachen und mein Weinen haben mich zusammengefügt.24.4.95
Die Schönheit der Menschen hat mich immer wieder hingerissen. Stehenbleiben, Schauen, Staunen.
Ich habe diese Schönheit, die mir bei meinem ersten Aufenthalt nicht in dieser Weise aufgefallen war, staunend mit den Augen verschlungen. Besonders die der Frauen. Wie oft bin ich einer ein Stück hinterhergefahren, deren Boubou locker über die Schulter gerutscht war, wie es alle Boubous tun. Wem konnte ich dafür danken, dass ich das sehen durfte.
Ich sah mehr als früher. Jetzt hatte ich meine und ihre Augen.Hatte sich ihr Wunsch erfüllt, in mich zurückzukehren? Ihre beschwörenden und durchdringenden Blicke, mit denen sie mir zuletzt überallhin folgte, alles mit mir tun wollte, als wäre alles gut, wenn sie ich wäre. Wenn sie nie geboren wäre.
Sie hatte keine Kraft mehr, mich zu hassen. Die wütenden Kämpfe – „Hier kommt nur eine lebendig heraus: du oder ich!“ – hatten sie erschöpft. Sie hatte aufgegeben. Sagte nur noch: „Wenn ich doch wäre wie du -“
Nur schlafen konnte sie nicht.
Ich habe mit ihr den Menschen verloren, der mich am besten verstanden hat. Wie habe ich mich auf das erwachsene Zusammenleben mit ihr gefreut. Dass ich so eine Tochter hatte.Wäre sie gekommen und gegangen
und hätte nie ein Glück gekannt in ihrer Zeit
es sei denn im ganzen Verzicht auf die WirklichkeitEine grauenhafte Vorstellung.
25.4.95
Die Geier fliegen so tief, dass ihr Flügelschlag die Bäume berührt. Dann sitzen sie auf dem äußersten Rand der Zweige und warten auf totes Fleisch.
Nach der Prüfung mit dem dritten Studienjahr brauche ich drei Tage für die Korrektur und nehme den nächsten Flieger von Air Afrique. Den Laubfrosch. Stunde um Stunde lasse ich Afrika hinter mir. Auch das Anstrengende: Die Städte, die Märkte, die Hitze ohne Wind. Wo die nasse Kleidung an den Körper klatscht und das Wasser an den Hosenbeinen breite Spuren hinunter zieht.Ich bin drei Kilo schwerer geworden. Ich habe sie in mich zurückgenommen.