26.-28.4.2019 – OUA-2
26.4.2019
Der Morgen hat noch einen offenen Himmel, nur am Horizont im Westen liegt eine Wolkenschicht. Wir können noch einmal zwischen den Feldern laufen, so hart und trocken wie die Erde ist. Ich höre die Lerchen. Ob sie im Winterweizen nisten? Der muss noch eine ganze Weile wachsen, dann haben sie vielleicht eine Chance.
Der Raps ist hoch geschossen. Ist das nicht ein Junibild? Ich kann Yalla nicht mehr sehen und es dauert eine Weile, bis sie am Feld um die Ecke kommt.
Wir warten sehnsüchtig auf den angesagten Regen. Es ist kalt geworden. Ich mache die Fenster zu und höre meine Vögel nur ganz leise. Ich werde den Wintermantel wieder hervorholen müssen, wenn ich sie richtig hören will.
27.4.2019
Ich bin müde vom Hund. So müde. Als ich mit ihm losgehen wollte, kam er nicht. Rufen und überreden hat nichts genützt, ich musste ihn an die Leine nehmen. Da lief er dann ganz munter vorneweg. Ich wollte den Bach probieren, vielleicht sucht er sich eine Stelle, wo er springt. Tat er auch nach mehreren Versuchen an verschiedenen Stellen und jaulte nicht. Heißt das: Es tut nicht weh? Aber dann hielt Yalla das linke Hinterbein hoch, lief mit drei Beinen, schüttelte das linke und lief wieder damit weiter, nur noch kurz mit einem leichten Unterschied rechts und links. Und ich habe dem Tierarzt gesagt: Es wird besser. Wird es denn besser? Das Würstchen war heute so schwarz wie schon lange nicht. Wann kommt die Magenspiegelung?
Wir laufen weiter, die Sonne kommt heraus, ich höre wieder Lerchen. Als ich zum Hochsitz abbiege, wo er gerne läuft, sehe ich sie noch. Auf dem Feldweg tauchen zwei Leute mit drei großen Hunden auf. Wo ist Yalla? Nicht zu sehen. Die beiden sagen, sie sei in die Richtung gelaufen, aus der wir gekommen sind. Ach so, sie rennt nach Hause. Wie immer. Ich gehe den Weg zurück, falls sie irgendwo auf mich wartet. Sie ist nicht da. Rufen und läuten bringt nichts, ich will ruhig bleiben, esse erst mal mein Müsli. Als ob das möglich wäre: ruhig. Da kommt sie rundum nass und freudig wedelnd dahergelaufen! Wie bin ich froh. Und müd.
Ich kann das Fenster wieder aufmachen. Es war verwirrend, fast verstörend, die Vogelstimmen hinter Glas zu hören, nachdem ich wochenlang gewöhnt war, sie rund um meine Ohren zu haben. Ich sage mir immer wieder, wie bitter nötig Regen ist. Endlich! Aber ich musste immer wieder hinaus und den Stimmen folgen. Die Amsel auf meiner Telefonleitung sang um neun Uhr für mich.
Um halb zwölf dann drei Schüsse für drei Schweine.
Es war kein richtiger Regen. Unter den Bäumen nicht einmal nass.
28.4.2019
Jetzt bin ich wieder so an die Stimmen in meinen Ohren gewöhnt, dass ich mir vorkomme, als würde ich abgeschnitten vom Leben, wenn ich die Tür hinter mir zumache am helllichten Tag. Immer wieder muss ich hinausgehen. Da werde ich sofort angenommen, aufgenommen.
Jetzt auch von den Tauben, die im Baum über meinem Bett ihr Nest gebaut haben. Kukurukuku kukurukuku… Ihr Flügelschlag ist so laut, dass er mich beim Lesen und Dösen immer wieder erschreckt. Werde mich daran gewöhnen müssen. Ich hätte mir keine Taube gewünscht, wenn ich gefragt worden wäre. Es ist wie mit den Kindern, die man sich auch nicht immer wünscht, und die, wenn sie kommen, zum Leben gehören.
Im Norden von Burkina Faso gab es einen Angriff auf eine protestantische Kirche. Sechs Menschen sind tot.
OUA-2nichts schöneres unter der sonne
als unter der sonne zu seinIngeborg Bachmann16.11.1995Paris. Vergiss Weihnachten. Deshalb.
Ich bin vor Weihnachten auf und davon.
Nie mehr Weihnachten, habe ich gesagt. Weihnachten nie mehr da, wo sie Kind war. Die Hoffnung, du kriegst sie groß in ein Leben, das leben will. Ein Leben mit Freude.
Vergiss
Die Störche sind schon da. Alle. Ich habe sie eingeholt.Aller Anfang ist leer. Und dann.
Eine Woche vor dem ersten Todestag bin ich wieder hier.
Nicht an ihrem Grab, nicht bei dem Hochhaus, nicht bei mir. Hier.
Das Flugzeug ließ die tote Landschaft unter sich zurück. So sollte es sein. Man musste es sich schon sehr warm machen, um dem etwas entgegenzusetzen. Ich konnte das nicht. Hier muss ich es nicht. Es ist alles schon da, ich muss es nur fühlen. Das ist alles.
Die Augen aufmachen und eine Welt sehen, die unberührt von mir ist. Den süßen Duft der blühenden Bäume riechen. Die Akazien sind es diesmal nicht, ich glaube, es sind die Mangoblüten. Irgendein Baum hat immer Frühling am Winteranfang, aber vielleicht sind es auch die kleinen gelben Blüten eines fast dürren Strauches, die diesen starken Duft verbreiten. Und die vielen zarten Vogelstimmen hören, die besonders gegen Abend und in der Nacht die Ohren verwirren.
Und für Wärme brauche ich nicht zu sorgen, ich muss mich ihr nur aussetzen.
Der Wärme der Luft und der Wärme der Menschen. Ich habe immer das Gefühl, dass sie sich freuen, wenn sie mir eine Freude machen können. Wenn ich komme und sage: ich brauche dieses oder jenes, und denke, das gibt es hier bestimmt nicht, haben sie sofort eine Idee, wie sie mir dazu verhelfen können. Sie sind so erfinderisch mit ihren bescheidenen Mitteln.
So aufgenommen bin ich da und werde es bleiben. Das ist keine Frage mehr.
Mein Dasein bedarf keiner Rechtfertigung.18.11.1995Überhaupt weiß ich alles wieder. Dass es das Beste war, was mir passieren konnte: nach ihrem Tod nach Afrika zu gehen. Ich habe das oft gesagt, ohne zu wissen warum.
Jetzt weiß ich es: Weil es niemanden gab im Haus und in den Straßen und überall und irgendwo, der davon wusste.
Weil niemand mich hätte fragen können, wie geht es dir jetzt? – und es nicht tat. Das war wie eine Freiheit. Die Leere eines Anfangs. Die ungesehenen Bilder einer anderen Welt fanden darin Platz.
Ich bin froh, alles wiederzufinden, als hätte ich gefürchtet, es sei eine Fata Morgana gewesen. Eine Spiegelung in der Luft der weiten Auffahrt zu unserem Gästehaus.
Und als dann die Fledermäuse aus den Bäumen fielen, wie sie es immer tun in der Stunde zwischen Hund und Wolf, da hätte ich in die Hände klatschen mögen vor Freude. Es gibt sie!
Es gibt mich. Ich bin da.
Den großen Bananenbaum vor meinem Fenster gibt es nicht mehr. An seiner Stelle stehen zwei kleine junge Pflanzen, die eine hat zwei Blätter, die andere erst eines. Die Fenster sind so schmal und so hoch wie immer. Wenn ich im Bett liege, füllen sie gerade meine schmerzenden halbgeschlossenen Augen. Die Schatten noch so lang und schon so heiß!
Die Ohnmacht vor der Sonne fühlen und den Genuss der Ohnmacht. Du kannst nicht ausweichen. Sie trifft dich ganz. Den immer nassen Körper. So kennst du ihn nicht. Es ist deiner und er ist es nicht. Dein afrikanischer Körper. Zwei Tage wird er überleben, wenn du gehst.So weit muss mein Afrika sein. So weit wie hier. Mein Blick soll sich im Dunst vor dem Horizont verlieren, damit ich nicht sehe, wo ein Ende ist. Die Menschen ziehen manchmal mit ihren schwerbeladenen Rädern auf unsichtbaren Wegen leise Linien durch das Bild. Ihre Schritte sind schnell, als wäre ihr Ziel immer sehr, sehr weit entfernt. Und die Stimmen sollen unverständlich bleiben. Weißsein heißt Draußensein. So stimmt es wieder. Draußen und da.
Das was man Selbstwertgefühl nennt, und von dem ich niemals viel hatte, fehlt mir seit ihrem Tod ganz. Jeder Tod eines geliebten Menschen ist ein Verlassenwerden, das meine Liebe disqualifiziert und zurückweist. Mich ganz und gar entwertet.
Um wieviel mehr noch muss das so ein gezielter Tod tun.
Da bleibt nichts zurück, was man lieben könnte. Ich glaube keinem mehr.
In einem blitzhaften Durchblick habe ich das schon sehr bald gewusst. Dass ich Zeichen von Zuneigung nun immer verkennen würde. Dass ich damit jeden, der mir näherkommen wollte, verletzen würde durch meine Ungläubigkeit. Ich würde nicht glauben können, dass mich einer mag, ich würde misstrauisch prüfen und wehtun, wenn ich es überhaupt an mich herankommen ließ.20.11.1995Guten Morgen - bien dormi? - so beginnt der Tag mit Amadou, Francois und Kindo im Gästehaus, wo jeder jedem jeden Morgen die Hand gibt. Dann kamen die Geschichten von der Nacht: ob sie kalt war oder nicht, ob es viele Moskitos gegeben habe oder wenige, ob man einen guten oder bösen Traum gehabt habe.
„Meine“ Studenten haben zuerst einmal festgestellt, dass ich dicker geworden bin. Sie meinen das natürlich als Kompliment. Sie haben Recht. Als ich mich in diesem Spiegel wiedersah, habe ich gedacht: das letzte Mal hast du nicht soviel bedeckt.
Zuerst ist es Ankommen, dann ist es Wiederkommen und beim dritten Mal fühlt es sich an wie Heimkommen.24.11.1995Wenn im Lauf des Nachmittags die Wand hinter meinem Bett immer wärmer geworden ist und ein Öffnen der Fenster noch keine Abkühlung bringt, dann – es ist etwa vier Uhr – muss ich hinaus. Der große alte Amadou bewacht das Gästehaus. Es ist die Zeit, wo Amadou Staub und Steine von einem großen Stück Pappe schüttelt und mit seinen langen schlenkernden Armen die Worte unterstützend, die mir unverständlich sind, in die Ecke des Gartens geht. Die Geste der erhobenen Hände, deren Handflächen nach oben zeigen, mit einer angedeuteten Verbeugung führt den Satz zu Ende. Die untergehende Sonne im Rücken wird er beten.
Morgen war sie tot.
25.11.1995Der erste Todestag.
Dass nichts anders ist. Als gestern. Als morgen.
Aus den Pfützen, die Amadous morgendliche Reinigung auf den Steinen zurückgelassen hat, trinken wieder die zarten bunten Vögel, die bei uns nur in Käfigen überleben. Entflogene Vögel sind zum Tode verurteilt. Sie singen so süß in der Freiheit. Manchmal fällt ein Blatt laut zu Boden. Es gibt viel trockenes Laub, abends leuchtet es in den Feuern. Herbst? Kein Herbst. Trockenzeit. Ein sengender Geruch.
Vor einem Jahr gab es sie nicht mehr. Es sei denn unter der Erde. Mit gefalteten Händen, in die ich ihr das Kettchen gegeben habe, die Hand der Fatima von mir mitgebracht von meiner letzten Reise.Es ist der fünfundzwanzigste November.
Auf dem Campus ist es still geworden, das ständige Hin-und-Her der Studenten mit den Mofas zur Uni und wieder zurück an dem Gästehaus vorbei, hat sich gelegt.
16.35 hWo ist Amadou, es ist noch zu früh für das Gebet, wäscht er sich gerade die Füße? Der warme Wind trägt Rufe aus der Ferne herüber, dumpfe Schläge und plötzlich lautes Schreien und Klatschen dazwischen. Der Samstagnachmittag hat mit dem Sport begonnen.
Ist es die Stunde für eine Zigarette? Ich erinnere mich – ich bin ja nicht das erste Mal hier , dass er das am Freitag oder Sonntag manchmal tat. Samstags auch? Vertauscht er den Zweig, an dem er immer kaut, heute mit einer Zigarette? Dann wäre er diese kaufen gefahren, einzeln, wie die Tütchen Kaffee auch.sechzehnuhrfünfunddreißig. In jedem Tag.
Eine Stunde später kommt diese Minute hierher.also jetzt
aber gewusst habe ich es da noch nicht
26.11.95Wer denkt an sie an diesem letzten Sonntag im November. Totensonntag in Deutschland. Wer geht an ihr Grab. Liegt die Rose noch dort, wo ich sie hingelegt habe zum Abschied, bevor ich wieder nach Afrika ging. Sie war weiß. Hat der Schnee ihr Verwelken freundlich bedeckt.
Ein Jahr ist vorbei. Jetzt beginnt der Abschied vom Abschied.
Gestern hätte ich mir gewünscht, dass mich einer gefragt hätte: wie geht es dir. Einer, der weiß. Manchmal brauche ich diese Frage, um weinen zu können und das Gefühl zu haben: so stimmen die Dinge.
Hier sage ich immer noch, wenn mich einer fragt: enfants - combien? ich hätte zwei Kinder. Und sie sagen: Das ist gut, denn zwei sind besser als eines und wenig genug, und ich sage: ja.
Ja. Stimmen die Dinge?
Manchmal möchte ich ihnen sagen, dass meine Kinder keine Kinder mehr sind. So gestern Abend. Dazu habe ich meine Hand mit der Innenfläche nach unten in die Höhe meiner Augen gehalten: so groß sind sie schon, fast so groß wie ich.
Da trat auf einmal ein junger Mann aus der Gruppe, die mich gefragt hatte, heraus und kam kopfschüttelnd und ernst auf mich zu. Ich dachte, er glaubte mir nicht, wiederholte die Geste, und nickte bekräftigend dazu. Er wiederum schüttelte heftiger seinen Kopf, kam noch einen Schritt näher und sagte dann in einem belehrenden, fast tadelnden Ton: das dürfe ich nicht machen, ich müsse die Hand umdrehen, so dass die Handinnenfläche nach oben zeigt. Wenn ich die Hand so halte, wie ich es getan habe, dann hieße das, das Kind sei tot.27.11.95Lass mich los, sonst kann ich nicht sterben.
Sie ist tot.
Und ich habe gelernt.
Mit dem Polaroidbild, das die Polizei von ihr gemacht hatte, vor Augen nahm ich nur noch auf, was gut war. Von außen und von innen. Ich spürte das Tödliche in mir genau. Und ich konnte es lassen. Oder: ich legte es zu ihrem Bild. Es soll ein Ende haben. Soll es mit ihr für immer gegangen sein. So nicht wieder. So nie mehr. Der Preis eines Lebens ist genug. Ist zu viel.
Es war eine Mischung aus Magie und Dressur, einer Art Verhaltenstherapie, was mir vorkam wie der Anfang eines neuen Lebens. War es wohl auch. Quälendes ist verschwunden. Wenn es wieder einmal drohte, habe ich mir meine tote Tochter vorgestellt, als müsste sie mir jetzt helfen, mich schützen, mich bewahren. Kindergebete richtete ich an sie.
Heute sehe ich: Das Böse ist vertrieben. Aber ist etwas Neues entstanden? Da wo ich bin, sei es in Afrika, sei es zuhause, da bin ich wie immer allein.28.11.95Wenn ich mir einen Ort vorgestellt habe, an dem es nicht Weihnachten würde, dann war er hier. Es muss doch einen Ort geben, an dem es nicht Weihnachten wird.
Aber die Kinder. Ich hätte es wissen müssen, denn ich hatte vor der Regenzeit die kleinen verfallenden Gebäude gesehen, die wie Minikirchen oder kleine Kathedralen aussahen und neben den Eingängen zu den Höfen an den Mauern standen. Als ich fragte, was das zu bedeuten hätte, bekam ich von den verwunderten Kindern – wie konnte ich das nicht wissen?! – die Antwort: Krippen. Was sonst. Die Kinder aus christlichen Familien bauen sie jedes Jahr wieder für ihr Weihnachten.
Heute bin ich wieder hinaus nach Tangin gefahren, wo Ouaga zum Dorf wird. Die kleinen Berge von Lehmklumpen an den Mauern der Höfe müssen es sein. Wo Ruinen sind, wird es neue Krippen geben. Da steht schon ein halbes Häuschen und ist von Jungen und Mädchen umringt, die Arme bis zu den Ellenbogen voller Lehm. Und ich staune einmal wieder, dass Erde soviel heller als die Haut ist. Sie winken mir schon von weitem mit ihren lehmverschmierten Händen, als sie mich kommen sehen: Ça va?Ça va?
Ob ich sie fotografieren dürfe, frage ich, wie sie ihre Krippe bauen, man kenne bei uns so etwas nicht, weil es doch soviel regnet. Ich würde ihnen die Bilder bringen und zu Weihnachten auch ein kleines Geschenk. Einer der größeren Jungen schüttelt den Kopf – will er nicht oder hat er mich nicht verstanden? Die anderen Kinder nicken und lachen. Ein Größerer kommt hinzu, ich stelle meine Frage noch einmal, und der nickt nun zustimmend. Aber der andere habe es nicht gewollt, gebe ich zu bedenken. Nein, der wollte nur selbst nicht fotografiert werden. Er ist ein Muselman. Die anderen und er, der sich als der Baumeister – oder wie sie sagen: propriétaire, Besitzer – herausstellt, sie wollten schon. Stolz und fröhlich stellen sie sich vor das begonnene Werk und machen es unsichtbar…
Gegenüber kann ich die Welten wechseln: nur Weiße oder Reiche sitzen um das Schwimmbad des Hotels mit dem weiten Blick über die Barrages, Ouagas Stauseen. Nach dem Sprung ins Wasser bekomme ich die Speisekarte aufgeschlagen an den Beckenrand gelegt.Es ist der schönste Ort in Ouaga für den Sundowner. Ich höre und schaue den Fledermäusen zu. Wie sie sich aus den Bäumen fallen lassen, ein paar Kreise ziehen, die Mücken über dem Wasserjagen und sich wieder an einen Ast hängen. Von einem Blatt kaum zu unterscheiden. Nur eine fällt auf, weil sie nicht aufhört, mit den Flügeln zu zittern, als wollte sie weg und käme nicht los. Jetzt hat sie sich fallen lassen. Oder ist ruhig geworden. Hängt mit den Füßen am Zweig, den Kopf in die hautigen Flügel versteckt. Ich sehe sie nicht mehr.
Wenn ich zurückkomme in der Nacht, fährt Francois jedes Mal von seinem Lager hoch, auch wenn ich den Motor schon auf der Straße abgestellt habe und leise hereinrolle. Er richtet sofort seine Taschenlampe – er muss sie immer schon in der Hand gehabt haben – auf Schlüssel und Schloss meines Mofas, damit ich es leichter finde, und dann auf seine Uhr: Minuit vorbei, ein Uhr – oh, so spät! stellt er fest, „Bonne nuit, Francois!“ sage ich schnell und gehe ins Haus, und höre in meiner Stimme eine besondere Wärme, als könnte ihm diese die Decke ersetzen, die er nicht hat.
Er legt sich früh schlafen, und gegen Morgen höre ich ihn schon lange vor Sonnenaufgang draußen den Tag vorbereiten. Er fragt, ob ich gut geschlafen hätte, als ich nach Sonnenaufgang hinauskomme. Danke – und er? Die Moskitos und die Kälte haben ihm zu schaffen gemacht. Um vier Uhr stehe er auf, sagt er, da könne er wegen der Kälte gar nicht mehr schlafen.
Und er beginnt, die kalten Monate aufzuzählen: November – da wird es kalt, Dezember: da ist es kalt, Januar – er hebt die Stimme: da kommt der Wind, und im Februar – die Spannung steigt, ihr folgt die Erleichterung – da wird es wieder wärmer.
So wie jetzt hier ist es bei uns nur manchmal im Juli oder August, sage ich. Francois staunt. Schüttelt sich ein bisschen und lacht.
Francois ist mit drei Narbenstrichen auf jeder Wange gezeichnet. Er redet gerne mit mir und stellt Fragen: ob es diesen oder jenen Baum, diese oder jene Pflanze bei uns gebe, und er deutet auf die hochgewachsenen Mimosen. Im Freien? Nein, aber ich kenne sie, wir haben sie im Zimmer, draußen würden sie nicht überleben. Alles was hier groß und ausladend gewachsen ist, das haben wir in kleinen Töpfen im Zimmer. Und die zarten Vögel mit ihren wunderschönen Farben und den feinen Stimmen, die haben wir im Käfig. Dass bei uns jetzt überhaupt kein Laub, kein einziges Blatt an den Bäumen sei, das lässt ihn wieder lachen und den Kopf schütteln, begleitet von einem langgezogenen, durch mehrere Tonlagen fallenden uuuuuu…
Francois spricht von Weihnachten und ich beginne, mich nach den Kindern der Gardiens zu erkundigen. Fünf, habe er – erzählt Francois, drei Mädchen und zwei Jungen, und er geht, um ein Foto zu holen, das fünf Kinder zeigt: elf Jahre sei das große Mädchen alt, sechs und acht Jahre die beiden Jungen. Das Mädchen und ein Junge halten Babys in den Armen. Sie haben dicke Mützchen auf dem Kopf, es muss wohl Winter sein. Francois zeigt auf die Kleinen und erzählt, dass es Zwillinge sind. Das eine rechts im Bild mit dem besonders schönen feinen Gesichtchen, sei gestorben, eine Woche krank gewesen und dann tot. Auch der Junge links im Bild sei ein Zwilling, dessen Bruder als Baby gestorben ist. So hat er also vier lebende Kinder. Es sind genug. Die Schule ist teuer und die Medikamente für die Krankheiten kann man nicht bezahlen, in diesem halben Jahr, wo ich nicht hier war, sei er selbst so krank gewesen, dass er geglaubt habe, er stirbt. Aber nun sei alles wieder gut.30.11.95Immer habe ich das Gefühl, etwas schuldig zu bleiben, wenn ich sie nicht alle am Morgen mit einem Ça va? begleitenden Handschlag begrüße, immer sehen sie abwartend auf meine Hand, ob ich ihnen diese nun entgegenstrecke oder nicht, wie es eher meine Gewohnheit ist. Die muss ich ändern, ich will nicht jeden Tag mit dem Gefühl beginnen, schon etwas versäumt zu haben, bevor er überhaupt angefangen hat.
Am Donnerstagnachmittag haben die Kinder keine Schule. Da wird gebaut. Sie bauen ihre Krippen wie ihre Väter die Häuser, und die Väter finden, dass das gut ist so, denn auf diese Weise lernen sie die Arbeit. Den Plan entwerfen die Älteren, ich schätze sie auf 15, 16, 17 Jahre, und auch die wichtigen Etappen lassen sie sich nicht nehmen: das Anlegen der Grundmauern, die Übergänge zu neuen Stockwerken, die Dachkonstruktion, das Verputzen und die Fertigstellung des Baues. Und zuletzt das Bemalen.
Die Farben machen den Unterschied zu den Häusern der Väter, und noch etwas: Die Väter müssen vor der Regenzeit das Geld für ein Dach aus Wellblech beisammen haben, soll ihnen nicht auch nur ein Haufen Lehm zurückbleiben. Das ist das Schwierigste, denn es ist teuer. Den Lehm, den Sand, die Hitze, die die mit selbstgefertigten Holz- oder Blechschablonen geformten Ziegel trocknen und hart werden lässt, die gibt es umsonst. Am Dach sind viele Häuser gescheitert. Die rund gewordenen Mauern von unterschiedlicher Höhe, die überall zwischen den Häusern mit Dächern zu sehen sind, mit ihrer groben ausgewaschenen Oberfläche zeugen davon.
Die Kinder überlassen die Krippen dem Regen und manchmal helfen sie auch selbst ein bisschen nach, dass nichts übrig bleibt als ein Haufen Ziegel oder Mörtelbrocken. Was täten sie auch nächstes und übernächstes und überübernächstes Jahr um diese Zeit, wenn jede Krippe für die Ewigkeit geschaffen wäre. Da macht es keinen Unterschied, ob einer Christ ist oder Muselman oder eben keines von beidem.
Das Häuschen ist seit dem letzten Mal wieder ein Stückchen gewachsen, jetzt sind alle vorbereiteten und inzwischen getrockneten Ziegel verbraucht, und es müssen neue gemacht werden: Sand und Lehm mit Wasser mischen, das aus dem nächsten Brunnen heraufgezogen wird, und in die dafür vorbereitete Schablone füllen. Das kann auch eine Ölsardinendose sein. Oder eine Streichholzschachtel, wenn sie aus Holz ist.Nie mehr Weihnachten, habe ich gesagt, nie mehr.
Nie mehr die falsche Hoffnung, dass etwas gut wird, was nicht gut werden kann.
Und: nie mehr Weihnachten da, wo sie Kind war.
Wo ich Kind war. Wo ich ihre Mutter war.1.12.1995Mit diesen Gedanken bin ich sitzen geblieben, ohne Licht zu machen, als es schon dunkel wurde. Nur der Bildschirm leuchtete blau und immer blauer. Das Klopfen an meiner Tür ließ mich hochschrecken: Seydou, ein Student stand da, um mich zu einer Krippe zu bringen. Ich glaubte, er wollte mir die Stelle zeigen, damit ich morgen oder übermorgen, wenn es hell wäre, zum Fotografieren wiederkommen kann. Nein, ich sollte die Kamera mitnehmen. Ob ich keinen Blitz hätte. Doch, ich habe, also gut. Wir fuhren lange die Avenue Charles de Gaulle hinauf, hier gab es eine Straßenbeleuchtung. So versuchte ich, als er das Zeichen zum Abbiegen gab, mir ein paar Schilder zu merken, denn mit dem Asphalt ist auch die Straßenbeleuchtung zu ende. Jetzt war es Nacht, schwarze, tiefschwarze Nacht um sechs Uhr, nur hier und da leuchtete ein Neonstab in einer Bude oder eine Petroleumlampe auf einem Tisch mit den kleinen Häufchen von Erdnüssen. Fehlt der Tisch, so sitzen die Frauen am Boden, haben ein Kind auf dem Rücken, an der Brust oder auf dem Schoß, sie schwatzen, lachen, warten, bis einer kommt, der etwas kauft, oder bis es Zeit ist, die Dinge in ein Tuch zu binden, auf den Kopf zu heben und heimzugehen.
Ich durfte dieses bunte, von meinem Scheinwerfer beleuchtete Hemd nicht aus den Augen verlieren, ob ich den Weg ohne dieses je wiederfinden werde? Wir fuhren ein langes Stück an einer Mauer entlang, die würde ich erkennen, nun bog Seydou nach links ab und begann, mit seinem Scheinwerfer die Mauern der Höfe auf der rechten Seite abzusuchen. Am Ende des Weges, der in eine Querstraße mündete, kehrte er um, hier war es nicht, sagte er, wir fuhren zurück zu der breiteren Straße bis zur nächsten Abbiegung, wieder das Suchen, dann hielt er: hier ist es. Wir stiegen ab. Er wollte der Familie Bescheid sagen. Der Junge, der die Krippe baute, sei nicht da, meinte er, als er wiederkam, aber die Familie werde gleich kommen. Es waren Männer und Frauen, junge und alte, alle gaben mir die Hand. Sie hatten eine Taschenlampe dabei, die das begonnene Werk erkennen ließ: groß angelegte Grundmauern, eingeteilt in verschiedene Räume, davor eine gerundete Treppe. Neben den Mauern lagen in ordentlichen Reihen noch nasse Lehmformen, die sollten bis Donnerstag trocken sein, dann wollte der Junge weiterbauen. Da sollte ich wiederkommen. Ob ich jetzt ein Bild machen wollte? Warum nicht. Ich hielt den Sucher in die Richtung des Bauwerks, neben dem inzwischen zwei lachende Jungen Stellung bezogen hatten, und drückte ab. Einmal, zweimal, dreimal, sicherheitshalber.
Es war das erste Mal, dass ich etwas fotografierte, was ich nicht sah.2.12.95Es ist Samstag, ich habe frei. Beim morgendlichen Handschlag stelle ich erschrocken fest, wie kalt die Hände von Francois sind. Er nickt und lacht, ja, die Nacht war wieder kalt.
Die Kinder haben heute keine Schule, sagt er. Nicht alle Kinder gehen in die Schule, aber viele hier in der Stadt, meint er. Die mit den Blechbüchsen bettelnden Kinder gehen gewiss nicht zur Schule. Aber manche von ihnen tauschen mittags ihre Schulsachen gegen die Blechbüchsen aus.
Wenn sie keine Schule haben, dann bauen sie wieder, so fuhr ich hinaus nach Tangin.
Morgens ist die Wäsche gewaschen worden. Als ich an den Stauseen, die den Wasservorrat von Ouaga speichern, vorbeifuhr, lag sie schon bunt in den Büschen zum Trocknen, neben den flachen Teichen, die für diesen Zweck nicht verboten sind.
Mit den Stauseen ist es jetzt anders: Neue Schilder mit fetten roten gekreuzten Strichen zeigen, was hier bis vor Kurzem noch Gewohnheit war: die Wäsche zu waschen, wie es die Leute, die selbst bis zu den Hüften im Wasser stehen, auf dem durchkreuzten Bild gerade tun. Auch das Waschen von Autos ist verboten: Das Bild zeigt einen Lastwagen, der bis zur Hälfte im Wasser steht. Das Abladen von Abfällen ebenso: Ein etwas kleinerer Lastwagen mit offener schräggestellter Ladefläche kippt einen Haufen Dreck in das Wasser. Das Bild von einem Berg Sand oder Lehm und Ziegeln, die neben dem Wasser trocknen, zeigt, dass auch das Herstellen von Ziegeln – die Erde ist gerade hier besonders gut dazu geeignet – nicht mehr erlaubt ist. Und fröhlich plantschende Kinder sind rot durchgestrichen: Baden verboten.
Dann sitze ich mit den Kindern und ihrer Mutter in ihrem Hof. Cynthia, die gerade in die Schule gekommen ist, hat sich mir von der Seite genähert und kratzt mich am Arm, einmal leicht und dann ein bisschen fester. Die Mutter lacht: es sei wegen der Haut, sagt sie.
Ob ich Spielzeug hätte? Weil ich nicht sicher bin, ob ich verstanden habe, was sie meint, schickt sie Cynthia, etwas zu holen. Und Cynthia kommt mit dem Rest eines kleinen Plastikautos zurück, das einmal auch Räder und ein Lenkrad gehabt haben muss. Nein, so etwas habe ich nicht dabei. Und eine Puppe? die Mutter lacht verschämt, als sie das sagt, wiederholt es aber noch einmal: eine Puppe? Und ich sage: wenn ich das nächste Jahr wiederkäme, dann könnte ich eine Puppe mitbringen. Damit sind alle zufrieden. Und ich probiere den To, einen festen Hirsebrei mit einer Blättersauce, der sauce feuille.
Wie viele Puppen liegen zuhause, wer könnte noch nach ihnen fragen. Wie kommen sie hierher. Auf dem Heimweg bin ich zum Dolo, dem frischen Hirsebier, das jeden Samstag fertig ist, eingeladen worden. Die Frauen bereiten das Bier während der Woche und verkaufen es am Wochenende in einer Strohhütte. Dort trifft man sich, viele Männer, wenig Frauen. Sie winken mich heran, reichen mir eine fast volle Kalebasse und freuen sich, als mir das Bier schmeckt.Ich werde zuhause anrufen und ihrer Schwester sagen, dass sie Karim eine von ihren Puppen mitgeben soll, wenn er Weihnachten kommt. Es gibt so viele Spielsachen, die niemand mehr will, und auch ich werde nicht alle ihre Puppen aufbewahren. Cynthia wird sich freuen. Warum sollen wir auf das nächste Jahr warten.
3.12.1995Still ist es, keine knatternden Mofas der Studenten am Morgen. Ja, der Sonntag ist still, bestätigt Francois und macht mit ausgebreiteten Armen eine beruhigt – beruhigende Geste. Nur das Rauschen des Windes ist in den Bäumen. Die flatternden Blätter und die an den sonnigen Wänden hinauf- und hinunterflitzenden Geckos verbreiten eine angenehme Unruhe. Diesen warmen Wind aus der Wüste im Norden mögen sie hier gar nicht. Francois findet ihn ebenso schlimm wie die Kälte. Für mich ist dieser Wind eine einzige große Zärtlichkeit.
Ob er zufrieden sei mit seiner Arbeit, frage ich Francois, und er nickt: Ja, sicher, sie sei hart, aber er könne nicht lesen und nicht schreiben, was soll er da anderes machen? Und die Schule ist teuer, wenn da die Frau keinen Handel betreibt, wie es sehr viele Frauen hier tun, aber seine Frau nicht, dann sei es nicht einfach. Er schüttelt immer wieder seinen Kopf, nein, leicht sei das Leben nicht. Er braucht diese Arbeit, auch wenn sie schwer ist. Drei Wochen lang jeden Tag und jede Nacht, dann eine Woche zuhause bei der Familie, die er sonst nur ein paar Stunden am Nachmittag sieht. Er tut seine Arbeit umsichtig, aufmerksam und aufrecht, ohne übertriebene Verbeugung oder das plötzliche Lächeln, das in Kindos Gesicht fährt, sobald er einen von den Gästen sieht.
Ein Weißer, der gerade angekommen ist, bittet Francois, ihm die ersten Dinge, die man braucht, zu holen: Brot, Butter, Bananen, Wasser - Laafi - und Zitronen. Francois wiederholt einmal, zweimal, dreimal und wartet jedes Mal auf die Bestätigung. Dann nimmt er das Geld und fährt los. Es wird eine Weile dauern, er muss für die Butter in den Laden, eine Boutique, für das Brot zu einer Buvette und für das Obst auf den Markt.4.12.95Alte Frauen und Kinder, Jungen und Mädchen, tragen am Nachmittag getrocknetes Holz, Bündel von Ästen nach Hause, kurz vor der Dämmerung, wenn sich über der roten Erde auch die Luft und das Laub rot zu färben beginnen. Die Feuer. Buschfeuer. Man hat schon lange den sengenden Geruch in der Nase, bevor man sie sieht.
Für mich ist hier immer August. Gestern heute und morgen wieder. Das ist sicher. Dass die Tage kürzer, die Schatten länger werden und es dabei so heiß ist, das macht mir dieses Augustgefühl im Dezember. Dabei werden die Tage nicht kürzer, es wird immer so früh dunkel, die Unterschiede sind gering. Ich kann mich nicht nach ihnen richten.6.12.1995Mit meinen Weihnachtsbriefen komme ich an dem bügelnden Francois vorbei. Ob ich ausgehe? – Ein bisschen: zur Post. Ich habe nur dort einen Briefkasten gesehen. Und ich zeige ihm mein Päckchen Briefe: das ist meine Tochter, das sind meine Freunde. Er staunt und klatscht vor Freude laut in die Hände: Das ist gut, das ist gut, sagt er, dann vergessen sie dich nicht!
Ja, dann vergessen sie mich nicht. Schreiben gegen Vergessenwerden. Er kann es nicht.Ob ich diesmal Fotos von meinem Mari, meinem Mann, dabei habe? Ich habe es ihm doch versprochen. Ich schüttle den Kopf, er ist enttäuscht, das versteht er nicht. Wo er mir doch so oft es nur geht, die Bilder von seiner Familie zeigt und immer wieder die Namen der Kinder nennt.
Ich bin durch die langen Schatten zur Post gefahren. Heute ist Nikolaus.
Da bin ich ein Glücksfall für die Jungen an der Post, die sich schon so oft vergeblich auf mich gestürzt haben. Denn mir ist heute eher nach Schenken als nach Feilschen zumute. Das sehen sie sofort. Von mir aus, warum soll ich sie täuschen, warum nicht ein Glücksfall sein. Nachdem ich mein Interesse an ihren Karten mit den Krippenmotiven aus Batik gezeigt habe, bin ich auch schon so dicht umringt, dass ich – auf eine Bank gesetzt, wo ich in Ruhe aussuchen soll – gar nicht mehr sehen kann, wo ich bin. Über mir ihre Köpfe, ihre Gesichter mit den bittenden und beschwörenden Augen und Worten, vor mir ihre Hände und ihre Arme, die mir Päckchen von Karten entgegenstrecken. Ich schaue manchmal suchend nach oben, welches Gesicht zu welchem Arm gehört. Sie beruhigen mich, das sei kein Problem, ich solle nur aussuchen, das andere würden sie schon regeln. Na gut. Da kommt noch ein Neuer dazu, redet laut, es gibt Streit, jetzt in ihrer Sprache. Werden sie sich prügeln? Sie sehen meinen erschrockenen fragenden Blick und erklären, das sei ein Verrückter, kein Problem. Auch kein Problem.
Also aussuchen. Mir ist klar, dass ich alles bezahlen würde, was sie verlangen, oder alles, was ich bei mir habe, deshalb nehme ich ja schon immer nicht zu viel Geld mit, wenn ich einkaufen will. Aber Briefmarken brauche ich heute auch noch. So sage ich ihnen, es ist so: ich brauche unbedingt auch Briefmarken und ich weiß nicht, wieviel sie kosten. So werde ich zuerst zur Post gehen und danach wiederkommen, dann weiß ich, wie viele Karten ich kaufen kann. Sofort sind sie einverstanden. Wenn auch auf einem Umweg so rückt doch das Geschäft immer näher. Ein Junge begleitet mich, zeigt mir den Schalter, wartet und begleitet mich zurück. Also, ich habe noch 6000, das reicht für die Karten aber nicht für die Umschläge. Spätestens jetzt müsste ich sagen: 6000 für alles, oder ich gehe, und entschlossen meine Tasche packen und aufstehen. Ich aber beginne noch einmal zu sortieren, um ein paar Karten zurückzulassen. Da macht ein Junge den Vorschlag, ich solle ihm die fehlenden 1000 bringen, wenn ich wieder vorbeikomme. Ich sehe ihn an, um mir sein Gesicht einzuprägen, er schiebt seine Wollmütze hoch und zeigt mit den Fingern auf seine Haare, mit denen er sich mehr zu unterscheiden glaubt als mit seinem Gesicht. Stimmt: Sie sind lang, stehen 10 Zentimeter um seinen Kopf herum. Ich nicke, wir lachen, damit ist das Geschäft beendet. Der denkt gewiss nicht, dass ich wiederkomme, habe ich doch bestimmt immer noch doppelt soviel bezahlt, als sie – wenn sie kein Glück haben – bekommen.
Weihnachtseinkäufe.7.12.1995Wir haben Andersch: Vater eines Mörders besprochen. Cheik Ouattara erzählt, dass er zwei Stunden in der Klasse knien musste, weil er verheerend mit einem ean die Tafel geschrieben hatte.
Die Kinder kommen mir aus der Kirche entgegen, eben habe ich noch von dort Gesang gehört. Nun sind sie fertig und gehen nach Hause, die Jungen mit den Jungen und die Mädchen mit den Mädchen. Den Schemel, auf dem sie gesessen haben, oder das Buch, aus dem sie gesungen haben, tragen sie auf dem Kopf. Manchmal ist der Schemel nicht größer als das Heft, das sie sich unter den Arm klemmen.
Die Mutter meiner kleinen Freundin Nadeche aus Tangin hat mich im Gästehaus besucht. Sie ist nach der Scheidung von ihrem Mann wieder zu ihrer Familie zurückgekehrt. Als ich nach ihm frage, macht sie nur eine wegwerfende Armbewegung über die Schulter. Nein, der fehlt ihr nicht. Aber Kleider für die Kinder, und ob ich etwas hätte.
Dann erzählt sie, dass manche Katholiken Protestanten werden wollen, weil die Protestanten selber lesen dürfen. Die Katholiken müssten immer nur nachsagen. Sie nimmt eine Zeitschrift vom Tisch, legt sie auf ihren Schoß, faltet darauf die Hände und nickt eintönige Silben murmelnd dazu. Die Protestanten aber: sie schlägt die Zeitung auf und tut, als läse sie darin und schnalzt dazu – hörbar aber nicht sichtbar – mit der Zunge. Dann macht sie noch einmal die Katholiken, jetzt lacht sie. Ja, ihr Bruder sei auch Protestant geworden.8.12.1995Ich bin am Abend zur Post gegangen, dann ist es dort ruhiger geworden, und die Jungen sind nicht mehr da, um wieder ihr Glück bei mir zu versuchen. Eine Telefonkarte habe ich schon erstanden, jetzt muss ich noch das richtige Häuschen finden. Von außen sehen alle gleich aus, so stelle ich mich bei dem ersten an. Da fällt noch etwas Licht von der Straßenbeleuchtung hinein, so dass ich die Zahlen erkennen könnte, nach hinten wird es immer dunkler. Dort sehe ich, wie die Leute ein Feuerzeug vor den Apparat halten. Als ich an der Reihe bin, ist es ein Münzfernsprecher. Das war also nichts. Ich frage eine Frau, die ebenfalls wartet, ob es hier nur Münzfernsprecher gebe. Nein, sagt sie, der vierte sei einer für Karten. Aber da ist es finster, ich kann überhaupt nichts mehr sehen, im zweiten wäre es gerade noch gegangen. Ich müsse mir Streichhölzer kaufen, dann werde sie mir helfen und diese halten, wenn ich die Zahlen wähle. Wo? Der Tisch steht schon da, aber natürlich möchte der Verkäufer mir auch gleich noch ein paar Karten mitgeben. Als ich zurückkomme, wäre ich beinahe durch den Boden der Zelle gefallen, hätte die Frau nicht schon Vorsicht gerufen: es gibt nur ein großes Gitter, dem die Zwischenräume als Boden fehlen. Wenn man nicht die Kreuzungen trifft, fällt man durch.
Die Frau leuchtet, ich wähle. Ein Streichholz reicht für das Einschieben der Karte bis zum Freizeichen, das nächste für fünf Zahlen und das übernächste für sechs. Ein drittes, bis es klingelt. Ne quittez pas, sagt sie, denn den Hörer hat sie mir bisher noch nicht überlassen, jetzt gibt sie ihn mir und zündet weiter die Streichhölzer, um das Verschwinden der Einheiten zu verfolgen. Ich will ja gar nicht viel sprechen, nur, dass ich angerufen werden möchte, damit man ohne Streichhölzer reden kann. Selbst dafür sind fast alle Einheiten verschwunden. Meine Freundin staunt, war das Deutschland? Ja, das war Deutschland. Ich bin fertig. Jetzt ist sie an der Reihe, und ich halte ihr die Streichhölzer.9.12.1995Weihnachtsvorbereitungen sind auch die geschorenen Köpfe der Jungen und die aufgelösten Haare der Mädchen. Häufiger als an den bisherigen Samstagen sitzen die Frauen und Mädchen an den Mauern ihrer Höfe und flechten sich gegenseitig neue, kunstvolle Muster aus winzigen Zöpfchen um den Kopf. Manche kommen mit einem halbfertigen Kunstwerk auf mich zu, um mich zu begrüßen: eine Seite ist ein feines Ornament, die andere Hälfte ein 10, 20 Zentimeter abstehender, scheinbar undurchdringlicher Busch, der noch mit Linien und Vierecken vermessen werden muss. Wie schön sie sind.
Immer wieder haben mich die Kinder gefragt und nun tun es auch die Eltern, ob ich denn am Fünfundzwanzigsten käme. Natürlich, sage ich, dann machen wir die schönsten Bilder. Ist doch selbstverständlich. Das stellt sie sichtlich zufrieden, und sie wenden sich wieder ihrer Arbeit zu. Jetzt sind sie schon beim Verputzen. Dazu verwenden manche Zement, das sehe ich zum ersten Mal. Den müssen sie kaufen, kiloweise in kleinen Plastiktüten. Zum Bemalen muss die Oberfläche glatt sein, sonst würde sie viel zu viel Farbe verschlucken. Die Bemalung selbst wird erst in den letzten Tagen vor Weihnachten vorgenommen, damit die kleineren Kinder sie nicht mehr schmutzig machen können.10.12.1995Die Vögel haben sich heute Nacht besonders laut gerufen. So viele verschiedene Stimmen kreuzten sich da draußen, oben. Manche trugen Träume unter ihren Flügeln. Und dazwischen das hustende Bellen der Flughunde. Es ist ein Bellen, es ist nicht das Piepsen von Mäusen.
Die Nacht ist zum Hören da, zum Horchen, zum Lauschen. Der Tag zum Schauen. Purpurrote Spatzen trinken am Morgen aus den Pfützen, die vom Gießen der Pflanzen stehengeblieben sind. Sie sind so klein und so zart, dass ich sie leicht mit meiner Hand umschließen könnte, ohne sie dabei zu zerdrücken.
Trockene Zweige treiben von einem Tag auf den anderen leuchtend rosarote Blüten. Seit Monaten schon hat es keinen Tropfen Regen gegeben, und auch der im letzten Jahr war nicht reichlich. Der Wasserstand der Stauseen ist so niedrig, wie er erst in drei Monaten sein dürfte.12.12.1995Am Abend, als ich heimkomme, liegt seine Matratze schon im Pavillon bereit, und Francois hat sein tip-top-gepflegtes Tages-outfit – weißes Hemd und Hosen mit scharfen Bügelfalten – bereits gegen den „Schlafanzug“ vertauscht: ein eng anliegendes durchlöchertes Sweatshirt, das erkennen lässt, wie dünn er ist, und eine zerrissene, geflickte Hose, und die Gummistiefel „gegen die Reptilien“, sagt er. Ich schließe das Mofa ab, er hat es von seinem Lager aus im Auge, und als ich bonne nuit sagen will, fängt er noch einmal an zu reden. Er ist verlegen, streckt die Hände in die Luft, kratzt sich den Kopf und schlägt sich manchmal mit der Hand auf die Brust oder den Bauch, dann kommt eine Bitte: ob ich ihm nächste Woche, wenn er nicht hier arbeiten muss, einen Tag das Mofa leihen könnte, damit er in sein Dorf fahren und seinen Vater besuchen kann, am Dienstag. Am Montag werde er nach Hause gehen und am Dienstag Morgen kommen, das Mofa nehmen, am Abend bringe er es wieder zurück. Ich überlege nicht lange, eigentlich tue ich nur so, als ob ich überlege, sage dann: das geht, das lässt sich machen. Vierzig Kilometer ist das Dorf entfernt, und es wäre die einzige Möglichkeit, den Vater vor Weihnachten zu besuchen. Und die Mutter? frage ich. Die auch, die ganze Familie wird er sehen. Es gibt sie also noch, ich hätte keine Mutter mehr, erzähle ich ihm. Oh! – er schlägt die Hände zusammen, und einen Vater? Nein, den auch nicht mehr. Und keinen Mann und von den beiden Töchtern nur noch eine. Das sage ich nicht. Habe ich doch immer auf die Frage, wie es der Familie gehe, mit „danke“ und „gut“ geantwortet ohne die Absicht zu lügen.
Francois freut sich, dass ich zugestimmt habe, zu einer Mobilette werde er es nie bringen, dazu reicht sein Verdienst einfach nicht.
Ich habe diesmal schon seit dem dritten Tag eine eigene P 50, wie – fast – jeder hier, der es sich leisten kann. Ich werde sie verkaufen und zurücklassen. Aber auch dafür hätte Francois nicht das Geld. Kann er doch kaum die Bücher und die Hefte und die Stifte bezahlen, die die Kinder in der Schule brauchen. Wie das bei uns sei, ob die Eltern auch die Schulsachen bezahlen müssen. Ja und nein, ich weiß nicht, ob er meinen Unterscheidungen folgen kann. Ich suche den Übergang zum Abschied für die Nacht, und wir gehen schon ins Haus, als er auf einmal mit einem völlig veränderten Tonfall spricht, abgehackt und energisch zugleich sagt er: Er wollte sie nicht haben, diese Farbe, nein, er schüttelt sich, wie um etwas abzuschütteln, und wiederholt, als er sieht, wie überrascht ich bin: nein, er wollte diese Farbe nicht.
Er lässt mich nachdenklich gehen. Er wollte wohl auch diese Narben nicht, mit denen sie in seinem Dorf das Baby durch tiefe Schnitte über den Backenknochen gezeichnet haben.
Diese Fahrt in sein Dorf wird mein erstes Weihnachtsgeschenk sein. Ich kann es nicht lassen. Denke dabei an das verfallene Weihnachtsgeschenk: die Reise zu der Mutter auf die andere Seite der Sahara ins schwarze Afrika.Natürlich habe ich ihren Reisepass dabei. Er gilt noch bis zweitausendundzwei. Und sieben Passfotos für die Visa. Vier davon zeigen sie schmal, zerbrechlich und schön in der Zeit, als sie nirgends mehr Ruhe fand, keine Nacht, keine Stunde, ein halbes Jahr, nachdem ich aus Afrika zurückgekommen war. Die Haare mit den Händen zurückgestrichen stehen hoch, wo sie sich einen Büschel abgeschnitten hat. Jedes Bild ist anders, sie probiert verschiedene Posen, auf der Rückseite ihre Schrift: „H. versucht verführerisch auszusehen“ und ein Kommentar, der sagt, warum das misslungen ist.
Die drei anderen Bilder sind gleich, das in dem Rechteck fehlende vierte wird sie gebraucht haben, ein paar Monate oder Wochen vor ihrem Tod. Jetzt sind die Haare ordentlich gekämmt um ein rundes, dick gewordenes Gesicht. In den gerade auf das Gegenüber gerichteten Augen sehe ich eine müde leere Strenge, sie wissen und sie wissen nicht. Ihr kindlicher Mund versucht ein Lächeln, das an einer kleinen Falte scheitert.14.12.1995Mit Kafkas Urteil wurde es schwierig. Das vierte Studienjahr war in zwei Hälften gespalten: eine, die mir folgte, und die andere, die sich die Situation und ihre Bedeutung überhaupt nicht vorstellen konnte. Oumar brachte es auf den Punkt: „Ein Vater liebt immer seinen Sohn.“, so seine Meinung. Er wollte nichts mehr hören. Seydou beendete die Diskussion mit seiner Frage: „War Kafka Afrikaner?“
Die Hierarchien befremden mich immer wieder: Das offene Lachen der Frauen, wenn ich allein komme, verschwindet sofort und wird Ernst, wenn ein Student bei mir ist, ihr Gesicht unbewegt, verschlossen oder ausdruckslos.
Die Kinder, die lachend mit mir gesprochen haben, werden still und ernst und ziehen sich sofort zurück, sobald ein Älterer kommt. Sind auffällig unauffällig verschwunden.
Seydou übergibt, was er trägt, sofort seinem jüngeren Bruder, wenn er ihn sieht. Er besucht mich mit seinem Bruder. Der spricht kein Wort. Nur knappe Antworten, wenn ich ihn direkt anspreche. Er hatte mich selbst besuchen wollen und Seydou getroffen. Was hätte er mir gesagt, wenn er allein gekommen wäre?Die Kinder haben überall weitergebaut. Auch am Tag der Unabhängigkeit, da bin ich nicht gekommen. Auch neue Krippen sind begonnen worden, und die kleinen frischen Ziegel liegen zum Trocknen daneben. Andere stehen im Rohbau, sie haben noch kein Dach, aber die Bambusstangen, die es einmal tragen sollen, sind schon an den Seiten mit Mörtel befestigt. Manche sind bereits zum Teil verputzt und andere vollständig, vielleicht erst heute, denn einige Stellen sind noch dunkel vor Nässe.
Hier und da sehe ich um die verputzten Kirchen – eigentlich möchte jede Krippe eine Kirche sein – Gräser keimen. Die Kinder haben Blumen gesät und Pflanzen eingesetzt. Sie gießen sie jeden Tag zweimal. René hat Bambusstäbe über die Keime gelegt und diese an den Seiten mit Mörtel an einer Ziegelreihe befestigt, damit die Hühner, die überall herumlaufen, nicht die Keime herauspicken, sagt er. Wenn die Pflanzen groß genug sind, wird er die Stäbe entfernen und die kleine Mauer um Kirche und Garten fertigbauen.
Die Bemalung aber, so erzählen mir die Kinder, wird erst am 24. gemacht. Bis dahin heißt es, die Farben beschaffen. Das Rotbraun, das Blau und Weiß finden sie im Sand, das Gelb und Grün müssen sie in der Stadt kaufen. Sie zeigen mir auch eine Tüte voller kleiner Plastikfiguren, Maria und Josef und das rosarote Jesuskind, Ochsen und Esel und ein paar zerknitterte glänzende Girlanden. Ich erzähle, dass man damit bei uns die Bäume, die man ins Zimmer stellt, behängt. Da lachen sie. Ob sie mich verstehen?15.12.1995Für Cynthia ist die Schule ein Dürfen, nicht Müssen. Wie auch Glauben für ihren Vater etwas anderes ist, als ich es kannte. Ich treffe ihn lesend an, als ich am schulfreien Donnerstag Nachmittag komme. Ob ich ihn störe? frage ich. Oh nein, er lese die Bibel – er zeigt sie mir – um sich in seinem Glauben zu festigen.
Cynthia kratzt mich nicht mehr. Aus dem Kratzen ist ein Streicheln geworden, der Arme, der Beine, der Zehen mit den roten Nägeln, die aus den Sandalen herausschauen.
Cynthias Mutter wundert sich über die hohen Sohlen meiner Sandalen, ein Modell, dass ich inmitten der Abwasserpfützen bevorzuge. Da fällt ihr eine Erklärung ein: Ah! Das ist gegen den Schnee, den es doch bei euch gibt!
Cynthia greift immer nach meiner Hand, wenn ich komme und wenn ich gehe, um mich in den Hof zu ihrer Mutter und wieder hinaus zu führen.
Nassara! Nassara! Nassara!
Dieser Ruf hat mich schon lange verfolgt und ist mir vorausgegangen, so dass ich endlich Josie, meine kleine Begleiterin auf den Wegen durch das Viertel, frage: was rufen sie, was heißt denn das: Nassara! Ich vermute, dass es ein Wort ist, das dem „wie geht es?“ – „Ça va?“ entspricht. Josie lächelt offen , aber auch ein bisschen entschuldigend. Das heißt: die Weiße. Deshalb also wissen sie immer schon, dass ich komme, lange bevor ich wirklich da bin. Seit ich dieses Wort erkenne, höre ich es immer häufiger in ihren Gesprächen und in den Anweisungen der Mütter für die Kinder. Ich nehme das Wort auf, sie lächeln verschämt, als hätte ich sie bei einer Heimlichkeit ertappt, die nun nicht mehr zu verbergen ist. Nassara - das komme von Nazareth, von Nazarener, und es meine den weißen Mann aus Nazareth. Dieses Wort haben die Afrikaner den Weißen gegeben und es sei allen Sprachen in West-Afrika gemeinsam, erklärt mir der Vater, der die Bibel kennt. Also sei Jesus ein Weißer gewesen? Ja, die Menschen in Israel seien immer Weiße gewesen, aber Mohammed, von dem wisse man, dass er schwarz war.
Amadou kam heute viel später zum Gebet. Er betet sowieso, wann er will, manchmal mitten in der Nacht.16.12.1995Dieser Wind ist kein Wind mehr, das ist schon ein Sandsturm. Der trockene rote Sand ist leichte Beute für ihn. Die Luft wird undurchsichtig, die Augen tränen, die Zähne knirschen. Wer nicht muss, geht da nicht hinaus.
Ich bin hinausgefahren, meine kleine Freundin Nadeche hat mich abgeholt, wir sind gleich zu ihrer Familie gegangen. Der Großvater rasierte sich gerade über einem Eimer mit Wasser, die Großmutter trug auf ihrem Kopf die Maisstangen herein, um damit das Feuer unter den Tonballons zu erhalten, in denen der Dolozubereitet wird. Nachdem sie noch dürre Zweige von dem Strohdach, unter dem der Esel tagein tagaus angebunden steht, heruntergeangelt und unter die dicken Rohre geschoben hatte, legte sie sich zum Ausruhen auf eine Matte am Boden. Neben ihr wusch eine junge Frau wie jeden Samstag die Wäsche. Jeder Hof hat hier einen Brunnen, aus dem das Wasser mit schwarzen Gummibeuteln heraufgezogen wird. Die Luft ist so trocken, dass die tropfnasse Wäsche in zwei Stunden getrocknet ist. Als ich erzähle, dass das bei uns einen ganzen Tag dauern kann, schaut man mich ungläubig an. Die Kinder untersuchen mein Mofa, und nachdem Nadeche ihren To aus Mais gegessen hat, machen wir uns auf den Weg.
Als wir vor den Hof treten, sehe ich auf einem Baumstamm an der Mauer gegenüber eine ganze Reihe von Jungen sitzen, alles mir inzwischen vertraute Krippenbaumeister. Ich bin überrascht, sie hier so versammelt zu finden, dabei sehen sie alle ein bisschen finster drein. Gleich kommen sie auf mich zu, umringen mich und begleiten mich auf meiner Runde. Und dann höre ich auf einmal Dinge, die ich sie bitte, ganz langsam zu wiederholen, damit ich sie nicht falsch verstehe: dass ich da nicht hineingehen solle, mein Mofa nicht dort zurücklassen, es sei gefährlich, denn die Kinder seien schlecht erzogen, Banditen. Ja, ich habe richtig gehört: Banditen. Ich solle auch nicht den Dolo aus den Kalebassen trinken, der sei schmutzig, davon würde ich krank.
Erst später merke ich, dass Nadeche da schon verschwunden sein muss.Auch sie laden mich zum Fünfundzwanzigsten in ihren Hof ein und freuen sich, dass ich die Einladung annehme. So werde ich Weihnachten hier sein. Überall sollen Schafe und die Ziegen geschlachtet werden. Es sei das Hammelfest der Christen, sagen sie. So wie Tabaski das Hammelfest der Muselmanen ist? Genau. Im ganzen Land, vor allem aber in den Städten werden die Schafe und Ziegen auf die Märkte geschafft: Wenn einer nur ein Tier auf dem Fahrrad oder auf dem Mofa transportiert, bindet er es mit gefesselten Beinen auf den Sattel, hat er zwei, dann bindet er die Vorder- und die Hinterbeine der beiden Tiere zusammen und hängt sie ebenfalls über den Sattel, so dass auf beiden Seiten eines – den nach unten hängenden Kopf verzweifelt nach allen Seiten verdrehend – blökt. Es ist wie vor Tabaski, dieses Fest überlebt auch kaum ein ausgewachsenes Schaf.
Und die Hühner? Die auch nicht. Aber die Geier.
Wir essen bei den Geiern in einem Restaurant vor der Stadt, wo die Vögel auf jedem freien Stuhl sitzen und auf die Hühnerknochen warten, die die Gäste fallen lassen oder ihnen zuwerfen.17.12.1995Weil Francois schon seine Matratze herausgelegt und die dicke Wollmütze über die Ohren gezogen hat, will ich ihm nur schnell Bonne nuit sagen, aber er hält mich auf. Morgen früh sei er nicht mehr da, um sechs Uhr sei sein Dienst zu Ende, dann ist er frei! Ach ja, ich hatte vergessen, jetzt ist es soweit: Seine Woche zuhause beginnt morgen. Er strahlt und lacht, macht einen Satz auf einen Sessel, mit dem Gesicht nach unten, und umfasst dabei mit den ganzen Armen fest seinen Kopf. So sieht er nichts, so hört er nichts, so wird er schlafen, morgen den ganzen Tag. Schlafen, nur schlafen. Hier habe ich ihn immer schon um vier Uhr draußen herumgehen hören, die Pflanzen wässern, die Terrasse abspülen, allein, bis endlich auch andere aufgestanden sind. Und nun darf er bis Weihnachten zuhause sein, einen Tag danach kommt er wieder.
Ich frage ihn, ob es dann bei der Fahrt am Dienstag bleibe mit meinem Mofa. Nun, er kann es noch nicht sagen, denn die Sache ist so: Wenn er zu seinem Vater fahre, müsse er ihm immer Geld bringen. Und er weiß noch nicht, wie er das beschaffen soll bis Dienstag. Dann könne er nicht fahren. So gebe ich ihm wenigstens ein paar Stifte, Hefte und T-Shirts für die Kinder mit. Die Stifte freuen ihn sehr, er schaut sie immer wieder an und bedankt sich oft, bis ich dem mit den Weihnachtswünschen für ihn und seine Familie ein Ende mache.18.12.1995Francois ist nicht da. Beim Aufwachen habe ich noch seine Stimme gehört. Jetzt ist er weg. Er fehlt mir. Sein Gang, sein Lachen und seine Fragen. Und wie er sich immer mit der Hand über das ganze Gesicht fährt, kräftig, entschlossen, es sieht wie ein Waschen mit frischem Wasser aus.
Kindo ist heute auch nicht gekommen. Am Freitag hat er seinen Sohn mit Malaria ins Hospital gebracht. Es war, als wollte er seinen Kopf noch ein bisschen mehr zwischen die Schultern ziehen, als er es sowieso schon tut. Es wird gehen, sagte er immer wieder, es wird gehen. Um sich zu beruhigen, um uns, die nach dem Kind gefragt hatten, zu beruhigen: es wird gehen. Mit einem Nicken. Es hörte sich wie eine Beschwörung an. Dabei ging sein Blick suchend in der Küche herum und blieb auf dem Boden liegen.19.12.1995Noch drei Arbeitstage. Ich habe meine Arbeit sehr ernst genommen. Was sonst soll ich ernst nehmen.
Eine Sache nach der anderen will ich rund und ganz machen. Dafür setze ich mich ein und zum ersten Mal bin ich auch zufrieden.
Glück ist, seinen Anlagen gemäß verbraucht zu werden.
Dieser Satz – Wedekind? – ist mir eingefallen. Dann wäre ich jetzt glücklich.
Ich habe mir etwas vorgenommen, ich habe es erreicht. Ich bin zufrieden und erschöpft.Da erschrecke ich, als hätte ich etwas Entscheidendes versäumt: Ich muss ihrer Schwester sagen, dass ich weiß, was Glück ist. Wenn ich plötzlich nicht mehr da wäre, es könnte ja sein, dann soll sie nicht denken, ihre Mutter hätte in ihrem Leben das Glück nie gekannt.
Karim kommt am Vierundzwanzigsten. Heute bin ich in die Stadt gefahren, um eine Glühbirne für die zweite Lampe am Bett zu kaufen. Wenn ich das Kindo sage, wird es Wochen dauern. Also glaube ich jetzt daran, dass Karim kommen wird? Wirklich?! Ich freue mich. Ich kann mich freuen! Ich kann mich wieder freuen!!! Es ist ein Geschenk.
Jetzt merke ich, wie ich angefangen habe, alle Dinge daraufhin anzusehen, wie ich sie ihm von ihrer angenehmsten Seite zeigen kann. Für die Sonne, für die Wärme, für das Licht, für die Blüten brauchte ich nichts zu tun. Ich würde ihm alles zeigen können, sagen: schau hier, schau dort! Hörst du die Vögel in der Nacht? Magst du lieber Papayas oder Mangos? Oder essen wir eine Ananas zusammen?Ich erzähle es Francois, als er kurz vorbeischaut, und er zeigt mir mit einem weit ausholenden Handschlag, dass er sich auch freut. Endlich will er ihn kennenlernen, meinen mari. Er hätte zwar in der Woche gerade frei, aber er werde natürlich kommen, um meinen mari zu begrüßen.
Dann ist Germaine gekommen, die Studentin, die ich nun seit drei Jahren kenne und schon vermisst habe. Heute verbarg eine Mütze ihren Kopf, und ich fragte nach ihren Haaren, denn sie hat eine Vorliebe für besondere Frisuren. Sie nahm die Mütze ab, ihr Kopf war kahl. Geschoren.
Ihre älteste Schwester sei gestorben. Deshalb muss sie sich die Haare scheren. Ihre Schwester war 29 Jahre alt.20.12.1995Amadou hat um drei Uhr in der Nacht ein Feuer gemacht. Den ganzen Tag ist er schon herumgegangen, hat Zweige von den Bäumen gebrochen, Äste abgehauen, Blätter zusammengerecht. Das ist die Stunde des Feuers, hätte er gesagt, wenn ich hinausgegangen wäre. So wie er, als ich heimkam, die Stunde des Kaffees angekündigt hat: um elf Uhr und um ein Uhr nachts noch einmal. Um drei Uhr weckt mich der Geruch des Feuers. Ich höre es knistern, es bewegt die Schatten an der Wand.
Nun ist Francois doch nicht gekommen, um mit meiner Mobilette zu seinem Vater zu fahren. Das Weihnachtsgeschenk ist verfallen. Das Geld hat gefehlt. Francois hatte es nicht.
Ich mache meine gewohnte Fahrt gegen Abend. Spät tauchen die Dinge auf, denen ich ausweichen muss. Die Menschen auch. Die weißen Gummistiefel eines kleinen nackten Mädchens laufen durch die Nacht.21.12.1995Dieser Vogel übt eine neue Kadenz. Drei Töne zu kleinen Terzen von oben nach unten. Einmal, noch einmal und immer immer wieder. Ob es der schwarze mit den metallisch-blauen Flügeln ist? Verstummen die Vögel hier nie, so wie bei uns im August?
Als ich heute zu den Kindern hinausgefahren bin, war es, als führe ich nach Haus. Drum habe ich es ganz langsam getan, langsamer als jeder Radfahrer, die konnten mich leicht überholen. Und sie taten es auch. Zwei Jungen auf einem Rad: der eine sitzt auf der Stange und lenkt, der andere auf dem Sattel tritt die Pedale. Sie winken, sie lachen, als sie an mir vorbeifahren: Bonjour!Ça va? – Bonjour! Ça va! Sind sie noch fröhlicher als sonst, die Kinder, oder bilde ich mir das nur ein? Freuen sie sich auf Weihnachten?
Eine Ziege auf dem Abfallhaufen versucht, eine andere zu bespringen. Die Schweine machen es genauso. Ein Hahn rennt auf einen Berg von Sand, schreit laut, was er schreien muss, als wäre es das erste und das letzte Mal, und stürzt sich sofort wieder hinunter, um zu den Hühnern zu rennen.
Ein Esel wird angetrieben, in seinem Karren einen Ochsen zu ziehen, der mit angewinkelten Beinen und rundem Rücken darin liegt. Kann er zur Schlachtbank nicht laufen? Der Esel schafft kaum das Gewicht des massigen Tieres, das viel zu groß für seinen Karren ist. Es braucht viele Hiebe, bis er sich langsam bewegt.Telefon. Francois hat geklopft, es war für mich. Karim hat den Flug nach Ouaga abgesagt. Die Impfungen. Der Arzt. Er nannte Gründe. Ich verstand sie nicht. Es gibt keinen keinen keinen Grund. Karim kommt nicht.
Er will also Ouaga nicht sehen. Mein Ouaga. Wie ich es liebe, wie ich es vor seiner Ablehnung schützen muss!
Ouaga ist schmutzig, Ouaga ist laut, Ouaga ist ungesund, Ouaga ist arm.
Ouaga liegt nicht am Meer. Mein Ouaga.22.12.1995Der Strom ist ausgefallen, natürlich am Abend. Als ob es auch mit der spärlichen Beleuchtung nicht schon dunkel genug wäre. Der Wunsch ist vergeblich, sich an einer Mauer oder einem Zaun entlang zu tasten, um nicht in einen der Risse im Boden oder über Äste und Steine zu stolpern. Ich halte die Arme ins Leere, in die Richtung, wo es weitergehen muss. So komme ich ins Gästehaus. Amadou meldet sich aus der Küche, wo er mit einer Taschenlampe herumfuchtelt, Kindo taucht aus dem Garten auf, ebenfalls ausgerüstet mit einer Taschenlampe, dem Werkzeug der Nachtwächter. Beide haben schon ihre warmen Zipfelmützen auf den Köpfen. Der Strahl ihrer Lampen kreuzt sich, sie weisen mir den Weg zu meinem Zimmer. Dort dann die Kerze.
Eine Kerze genügt schon, dass es nach Weihnachten riecht.
Ich werde Weihnachten allein verbringen und dieses Jahr wird für mich allein zu Ende gehen, ohne einen Menschen, der weiß.
Tagsüber habe ich die Kurse zu Ende gebracht. In der Nacht ist Trennung passiert. Jedes Mal wenn ich einschlafen wollte, traf mich ein scharfer Schnitt.
Als ich gestern Abend begriffen hatte, dass ich allein bleiben würde, bin ich spät noch ins Bel Air gefahren, das kleine Restaurant an der Straße, wo ich zum ersten Mal den Fisch mit den Händen gegessen habe. Mit der rechten Hand, die linke nimmt man nicht dazu, die ist nicht rein. Es war so köstlich, dass ich einen Finger nach dem anderen abgeleckt habe und immer wieder dorthin gefahren bin. Die Frau, die die Fische zubereitete, freute sich, als ich wiederkam, streckte mir gleich die Hand zur Begrüßung hin, und die jungen Frauen neben ihr taten das gleiche. Ça va?Ça va? et chez vouz?… Dann suchte ich mir einen Fisch für 700 oder 800 CFA aus, setzte mich an einen Tisch und wartete bei einer Flasche Bier auf meinen gebratenen Fisch.
So habe ich es auch gestern Abend gemacht. Als ich das Bier beinahe ausgetrunken hatte, war der Fisch fertig, und ich fing an zu essen. In diesem Augenblick zersprang mein Glas mit einem lauten hellen Klang. Die Scherben flogen in alle Richtungen. Erschrecken, dann Lachen um mich herum, die Scherben wurden aufgesammelt, sie sagten, dass das Bier zu kalt gewesen sei. Nach einer halben Stunde in dieser Wärme?
Auf dem Heimweg ist mir bei der Fahrt durch ein kurzes Parkstück ein Huhn in die Mobilette gelaufen.
Karim wird nicht nach Ouaga kommen.
Das Glas neben mir ist zersprungen.
Ein Tier läuft mir ins Mofa, als ich durch den Busch fahre.
Eine Sekunde lang habe ich weiche Federn an den Füßen gespürt, dann ist es wieder zur Seite gesprungen.
Erst habe ich geschrien, dann habe ich geweint.23.12.1995Heute wurden in den großen Kirchen die Kinder getauft. Aber nur die kleinen, die noch keine fünf Jahre alt sind und nicht wissen müssen, was mit ihnen geschieht. Die Taufe der größeren Kinder und der Erwachsenen, die dafür eine Vorbereitung brauchen, findet Ostern statt.
Heute ist Thierry dabei, der kleine Bruder von Basil, einem der ernsthaftesten Krippenbauer. Er ist 13 Monate alt und stapft breitbeinig in einem goldbestickten weißen Anzug mit dem winzigen Boubou kreuz und quer über den Hof, nur manchmal nimmt ihm ein Lachen den Ernst von der Stirn, die er oft in feine Falten legt, als täte ihm etwas weh. Erst als man ihm die inzwischen tropfnasse Hose auszieht, kommen seine dünnen Beine hervor, die ich schon kenne. Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, war er krank und weinte viel, besonders wenn ich kam. Man hat ihn ausgelacht.
Der Vater wetzt ein Säbelmesser und schärft beide Seiten der Klinge. Dann geht er in die Ecke und greift sich eines der an einem Bein angebundenen Hühner, macht es los und legt es auf den Boden. Den rechten Fuß setzt er auf die Hühnerfüße, den linken auf die Flügel. Dann bekreuzigt er sich und murmelt vermutlich ein Gebet und bekreuzigt sich noch einmal, um dann mit der linken Hand nach dem Kopf zu greifen. Er spannt den Hals und zieht zwei Schnitte, hält das Tier an den Füßen hoch, das Blut tropft heraus. Jetzt klemmt er den Kopf unter den Flügel und legt es zur Seite, um das nächste Huhn loszubinden. Thierry ist angezogen vom Tun seines Vaters, halbherzig versucht man ihn abzulenken, beim ersten Huhn, beim zweiten nicht mehr. Die gleichen Gesten, die gleichen Handgriffe, nur Bekreuzigung und Gebet fallen aus. Inzwischen hat das Huhn mit dem durchgeschnittenen Hals noch einmal herumzurennen angefangen, es kriegt den Kopf wieder unter die Flügel gesteckt und als beide Hühner so daliegen, heißt es: waschen! Der Vater ist fertig, dies ist der Einsatz für Basil, den Ältesten. Er holt sofort heißes Wasser, wirft das Huhn hinein, dann beginnt er, es zu rupfen. Schnell und geübt packt er zu, die Federn fallen büschelweise in den bereitgestellten Korb. Nach einer Viertelstunde ist es nackt. Jetzt holt Basil das Messer und schneidet die Füße von den Schenkeln, um sie dann – macht er den Scherz nur für mich, er sieht mich dabei so schelmisch an ?! – dem Huhn in den Schnabel und durch den Hals zu schieben, bis sie an dem Schnitt wieder herauskommen.
Nun trennt er den Kopf mit dem Schnabel, der seine Füße frisst, völlig ab. Die Brust wird aufgeschnitten und der Klumpen von Därmen, Herz, Magen und Häuten sachkundig auseinandergenommen und Essbares von dem Nicht-Essbarem getrennt. Das dauert wieder eine Viertelstunde.
Inzwischen ist eine Delegation der alten Frauen des Viertels gekommen. Die Delegation der alten Männer ist am Morgen dagewesen und hat eine würdevolle Runde gebildet. Bevor sie die Kalebasse mit dem frisch gebrauten Dolo, in beide Hände nehmen, senken sie das Haupt mit der bestickten Kappe und bekreuzigen sich.
Eine alte Frau wünscht frohe Weihnachten. Klein, gebeugt und mager macht sie bei den Männern die Runde mit gegenseitigen Verneigungen, dann kommt sie auch zu mir. Als sie mir die Hand reicht, greift sie zuerst ein paarmal daneben, dann finden sich unsere Hände: wie kalt und trocken ihre ist, wenn ich sie nicht sähe, würde ich nicht glauben, dass es eine Hand ist. Als sie den Hof verlassen hat, erklären mir die Männer voller Ehrfurcht: sie sei 90 Jahre alt. 90 Jahre, sagen sie immer wieder und nicken dazu voller Achtung und Würde.
Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Manche, die sich schon einmal mit allen Verbeugungen verabschiedet haben, kommen ein paar Stunden später wieder. So geht es vom Morgen bis in die Nacht, bis alle Hühner gegessen sind und aller Dolo getrunken ist.Ob es Sinn macht zu schreiben – ich weiß es nicht, ich beginne, weil ich hoffe, damit irgendwie aus dieser Traurigkeit herauszukommen. Ich kann ja mit niemandem mehr reden, ohne dass mir die Tränen herunterlaufen, wenn sie mich bloß ihr
Ça va? fragen. Bei allem, was ich jetzt anschaue, merke ich, dass ich mich, seit ich hier bin, immer wieder gefragt habe: wie mag er es sehen, was wird er dazu oder dazu sagen, wie findet er den, wie findet er die? Wie schmeckt ihm dieses, wie jenes? Mag er die Menschen? Auf alles war ich neugierig.
Was soll ich jetzt damit. Alle diese Gedanken muss ich zurückholen, verschlucken, vergessen. Aber das geht nicht, es kostet eine sinnlose Kraft, sich so zu belügen. Wegweinen, wegreden – wie? –, wegschreiben.
Morgen war Weihnachten. Sagen.24.12.1995Nachtmarkt an der Avenue Charles de Gaulle: Die Frauen lachen, als ich vor einem Auto erschrecke, das mir auf dem Fußweg entgegenkommt. Als ich auf dem Rückweg wieder vorbeigehe, machen sie mein Erschrecken lachend nach. Die ersten Mangos sind da.
Von allen Seiten wird geknallt. Von wegen stille Nacht. Weihnachten ist hier überhaupt nicht still.
Die Schafe blöken, die Ziegen schreien auf den Dächern der Busse, auf die sie mit zusammengebundenen Füßen geworfen worden sind, unter ihnen hängen die bunten runden Rücken der Menschen aus den Fenstern, so viele wollen heute noch von hier nach dort.
Ich fahre hinter einem Widder her, er hat es verhältnismäßig gut: man hat ihn mit einem Brett auf den Sattel des Mofas gebunden, so hängen seine Füße und sein Kopf nicht herunter auf seiner letzten Fahrt. Ich suche seinen Blick. Der ist schwarz und geht überall hin, auch zu mir.
Eine Frau trägt eine riesige Schüssel voller Hähne auf ihrem Kopf in die Stadt. Die roten Kämme schauen rundherum über den Schüsselrand. Die werden auch nicht mehr krähen. Wie die, die büschelweise und in Trauben an den Fahrrad- oder Mofalenkern hängen, wenn der Sattel an keiner Seite noch ein einziges mehr fassen kann. Kein Huhn gackert, wenn ihm die Füße gebunden sind und der Kopf nach unten hängt, man hört sie überhaupt nicht. Anders die Schafe und Ziegen. Oft höre ich es jämmerlich blöken und schreien und erst, wenn ich mich suchend umsehe, entdecke ich sie auf einem Sattel oder Autodach.
Jetzt streichen die Kinder ihre Häuser. Basil ist mit der weißen Farbe schon fertig, seine Hände sind weiß, er hat Spritzer im Gesicht und auf Armen und Beinen. Jetzt sucht er nach einem Schwamm oder Lappen, mit dem er das matte, helle Rotbraun auf das Dach reiben kann. Ein graues Pulver, das im Wasser weiß wird, ein braunes und ein dunkelblaues liegen auf auseinandergefaltetem Zeitungspapier vor der Krippe. Ob sie die Farben gekauft hätten, frage ich. Nein, sie sind nicht gekauft, sondern man könne sie finden. Wo? Überall. Überall sind es die gleichen Farben: das Weiß, das helle Rotbraun und das leuchtende Blau. Mit dem Blau, das er im Wasser aufgelöst hat, beginnt Basil nun, die Krippe zu bemalen: Mit einem Hölzchen, das er für jeden Punkt aufs Neue in die Farbe tauchen muss, malt er Blumen und Tiere auf seine kleine Kirche und einen Elefanten. Aus seinem Rüssel wächst eine Sprechblase: Ich wünsche frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr. Basil ist immer so ernst, dass ich ihn gerne einmal zum Lachen bringen würde. Als er den Elefanten reden lässt, da schmunzelt er, taucht fix das Hölzchen ein, zweimal für jeden Buchstaben und schreibt und schreibt. Andere, die im Besitz eines Pinsels sind, haben es da leichter: da genügt es, für ein ganzes großes Wort nur einmal einzutauchen. Natürlich werden ihre Linien klarer, schärfer. Das sind schon die Profis. Dazwischen liegen die stumpfen, kurzen, abgestoßenen und harten Pinsel. Auch gefunden. Oder die Buchstaben, die als Schablonen geschnitten sind. Basil hat das alles nicht, er nimmt sich Zeit. Am frühen Morgen hat er angefangen, nachmittags ist er fertig. Da fangen andere erst an.
Am Abend komme ich noch einmal. Ich bin noch nie bei Nacht in Tangin gewesen. Als ich vom Mofa steige und kein Licht mehr habe, fürchte ich mich. Wovor? Vor einem Griff aus dem Dunkel? Stimmen, Lachen, man hat mich schon lange gesehen.
Es ist mir unheimlich, dass selbst das, was mir inzwischen so vertraut geworden ist, einfach nicht mehr zu sehen ist. Die Stimmen in den Höfen sind lebhaft, wechseln, es geht hin und her. Reden sie miteinander, ohne sich zu sehen? Oder sehen sie mehr als ich?
Die Nacht macht uns nicht gleicher. Sie werden schwärzer, ich werde weißer. Ich kann nichts erkennen, sie sehen mich sofort.
Stehen plötzlich neben mir, ich erkenne ihre Stimmen, sehe ihre Zähne, denke: das muss die oder der von der einen oder der anderen Krippe sein. Wenn sie mir so nahe gekommen sind, habe ich keine Angst mehr. Es ist ja auch noch immer so warm, warum sollte ich da Angst haben. Unheimlich ist es nur, solange das Schwarze sich nicht bewegt und nicht spricht.
Habt ihr hier kein Licht? frage ich einen der Jungen, die ich regelmäßig besucht habe, und er antwortet: eins. Er verschwindet im Dunkeln und kommt mit einer Petroleumlampe zurück, die stellt er vor seine Krippe. Jetzt sehe ich die Bemalung, die er am Nachmittag noch gemacht haben muss. Viel gröber und größer als bei Basil und nur das Blau auf dem weiß.
Ob ich ein Bild machen wolle? Warum nicht. Ich halte den Sucher in ihre Richtung und drücke ab. Einmal, zweimal, dreimal, sicherheitshalber.
Es ist das zweite Mal, dass ich etwas fotografiere, was ich nicht sehe. Schwarze Weihnachten. Ihr Fest ist morgen.25.12.1995Ich habe meinen Schlüssel ins Zimmer gesperrt am Heiligen Abend. Kein Fortkommen mehr. Kein Fortgehen. Gar kein Fest. Ausgesperrt von allem. Ich habe mich ausgesperrt eingesperrt.
Gegen Mittag habe ich mein Mofa beladen. Kekse, Bonbons, Kugelschreiber und Stifte für die Kinder und T-Shirts für die Baumeister und für Nadeche. Und natürlich die Fotos. Kaum abgestiegen bin ich schon umringt. Ich mache meine gewohnte Runde, um die Kinder zu den Bildern zu finden. Das gelingt mir nicht immer, vieles wird mir entrissen. Irgendwann habe ich nichts mehr. Fini.
Dieses Fini wird hier doch eigentlich immer verstanden. Aber heute ist es nicht so.
Warum hat der die Fotos? Er gibt sie nicht her! Ich habe noch nichts! Sein T-shirt ist schöner. Warum habe ich keines bekommen? Die anderen Stifte sind besser. Noch Stunden später kommt René und möchte seinen Kugelschreiber gegen einen anderen tauschen.
Da habe ich etwas falsch gemacht. Ich wollte ihnen eine Freude machen, und jetzt streiten sie sich. Sehen missmutig und unzufrieden aus. Ich habe kein Glück gebracht.
Vergiss Weihnachten.Für Cynthia habe ich eine kleine Plastikpuppe im Supermarkt gekauft. Es ist eine Weiße, andere gab es nicht. Cynthia machte einen Satz und hüpfte abwechselnd auf dem einen und dem anderen Bein durch den Hof. Dann lief sie zu ihrer Mutter und wollte etwas von ihr, ihre drängenden Gesten verrieten es. Die Mutter ist mit einem verschämten Lächeln aufgestanden, ins Haus gegangen und mit einem Tuch wiedergekommen. Das hat sie Cynthia um Brust und Bauch gebunden, so dass sie ihre Puppe auf dem Rücken tragen kann.
Für mich habe ich bei den behinderten Frauen eine schwarze Stoffpuppe gefunden, mit einer aus Wolle geflochtenen Frisur, die ein Baby fest in eine Pagne, einen Streifen Stoff, gewickelt auf dem Rücken hat. Am liebsten würde ich ihr jedes Mal, wenn ich an ihr vorbeigehe, einen Kuss auf den gestickten Mund drücken.
Wenn sie mich fragen werden, wie viele Kinder ich habe, werde ich sagen: Ich hatte zwei.
Jetzt habe ich nur noch eine Tochter. Ihre ältere Schwester hat sich umgebracht, als sie 29 Jahre alt war. Vor einem Monat und einem Jahr.27.12.1995Ouaga liegt nicht am Meer. Ouaga liegt der Wüste viel näher. Der Sahelzone, dem Hungerland. Ans Meer wären wir geflogen. In die Wüste fahre ich allein mit dem Bus. Gute 300 Kilometer von Ouaga. Eine Tagesreise.
Geh nicht nach Gorom-Gorom. Ein Kinderbuch.
Ich gehe morgen nach Gorom-Gorom.
Erst waren die Namen. Dann kamen die Bilder. Gorom-Gorom. Was bleibt.29.12.1995Um sechs Uhr bin ich aufgebrochen, um halbsieben hatte ich meine Fahrkarte in der Hand und wartete als einzige Weiße mit allen anderen auf dem Parkplatz für die Busse darauf, dass wir einsteigen durften. Man versorgte sich noch mit frischem Brot oder Bananen oder Wasser, was eben auf den Köpfen angeboten wurde, für die Reise, dann stiegen wir ein. Pünktlich um 7 Uhr fuhr der Bus los, bog aus der Einfahrt in die Straße, fuhr bis zur nächsten Ecke, dort blieb er stehen. Mit dem rechten Vorderrad war etwas nicht in Ordnung, ein Mechaniker musste kommen, um es aufzupumpen oder überhaupt zu reparieren. Nach einer Stunde ging es dann wirklich los. Ein Stück gute Asphaltstraße, dann Asphalt mit vielen Schlaglöchern, die Bremsen und Ausweichen nötig machten und uns unvorbereitet herumwarfen, dann Wellblechpiste, die uns gleichmäßiger durchschüttelte, aber noch staubiger war. Inzwischen waren auch Ziegen auf dem Dach zugestiegen, ihre Kotkügelchen flogen an meinem Fenster vorbei. Fenster auf, Fenster zu, je nachdem, was unerträglicher war: die Hitze oder der Dreck.
Der Bus kratzte zwischen den stacheligen dürren Sträuchern hindurch, die neben der schmalen Piste wachsen. Einmal hielt er, als ein Alter von weitem heftig winkend angerannt kam, und ließ ihn einsteigen, Geld hatte er offenbar nicht, es gab ein paar Worte hin und her, und es ging weiter, bis ein anderer aussteigen wollte. Nichts war draußen zu sehen als der Sand und die dürren Büsche, wären irgendwo Zelte gewesen, so hätte ich sie nicht erkannt. Der Mann lief los, als hätte er ein Ziel. Er würde schon wissen, wohin.
Wir erreichten Gorom-Gorom am Nachmittag. Der Markttag ging bald zu Ende. Die dicht mit Tüchern in kräftigen Farben verhüllten Tuareg machten sich schon bereit, in die Wüste zurückzukehren. Sie beluden die Kamele. Die ersten Sanddünen der Sahara würden sie in einer Stunde erreichen, die Grenze nach Mali ist nah. Die schönen Peul-Frauen ritten festlich geschmückt auf ihren schwer beladenen Eseln in alle Richtungen aus dem Dorf.
In zwei Stunden würde es dunkel sein. Als die Sonne unterging und die Lehmhäuser rot leuchten ließ, ging ich in die verwinkelten Gassen, von denen ich nie weiß, ob sie dort nicht schon enden, wo ich den Weg nicht mehr sehen kann, oder wohin sie mich sonst führen.
Ein Mädchen, es trug nur eine kleine schmutzige zerrissene Hose, kam auf mich zu, lachte mich an, sagte „bonjour!“ und schob seine Hand in die meine. Es schaute vertrauensvoll zu mir auf und war offensichtlich entschlossen, mit mir zu gehen. Die kleine Hand war sehr trocken und rau, die Lippen waren aufgesprungen, die Augen gerötet. Die Haut hatte einen gräulichen Schimmer und auch die Haare waren nicht schwarz, sondern grau von dem Sand im Wind, vom Staub. Ich war inzwischen umringt von Kindern, die mich begleiten wollten.
Die rauen Hände der Kinder. Sie betrachten ihre Hand, nachdem sie sie mir gegeben haben, als suchten sie etwas.
Der heiße Wind aus der Wüste trocknet alles aus, das Land und die Menschen. Hier wächst nichts mehr. Die einzigen Früchte, die zum Kauf angeboten werden, sind kleine, blasse Orangen. Solche kaufte ich und gab sie den Kindern, die mich anstrahlten und darin bestärkt waren, dass eben doch von den Weißen das Glück zu erwarten ist.
Ja, sagen sie in Ouaga, dort muss man sich jeden Tag einölen. Und wie? Könnten sie sich Öl kaufen, würden sie es erst einmal für das Essen verwenden.31.12.1995Geh nicht nach Gorom-Gorom.
In Gorom-Gorom wurde ich im Dunkeln in ein großes leeres Haus geführt. Ein Fort mit dicken Mauern aus Lehmziegeln, in die Stroh hineingebacken ist. Ziegel wie das Land. Luftgetrockneter Lehm, gestampfte Erde. Zwei winzige Schlitze waren die Fenster, die am Tag nicht zu viel Hitze und in der Nacht nicht zu viel Kälte hereinließen. Man gab mir eine Matratze auf einem Holzgestell.
Das Haus hatte einen rechteckigen Grundriss und war genauso hoch. Ein Würfel. Ein Haus wie das im Film Himmel über der Wüste“ in dem John Malkovicz stirbt. Genauso eines war es. Ich würde dort allein sein, sagte man mir, abschließen konnte man es nicht. Es wurde von außen ein Stein vor meine Tür gerollt. Zuerst hatte ich noch das Licht einer Petroleumlampe, die machte ich aus, als mich der Geruch störte. Nun nützen mir meine Augen gar nichts mehr. Es muss Neumond gewesen sein, oder der Mond hatte gerade andere Zeiten, jedenfalls gab es weder durch die Schlitze in der Mauer, noch durch die Ritzen um die Holztüre einen Schimmer von Licht. Ich hatte keine Taschenlampe und keine Streichhölzer dabei, ich würde bis zum Morgen warten müssen, um wieder etwas zu sehen. Mit meinen Augen war ich am Ende. Mit den Ohren auch. Nichts, aber auch gar nichts war zu hören als Stille. Nicht eine einzige Stimme eines noch so kleinen Vogels. Wollte ich hinaus, müsste ich mich an den rauen Wänden entlangtasten, an den Rissen in den Ziegeln, dem Stroh im Lehm, bis ich an die Vertiefung käme und an das Holz, das die Tür sein musste. So wäre es, wenn man blind und taub wäre? Die Welt nichts als dunkel und still?
Ich müsste mich gegen die Tür lehnen, um den Stein davor zu bewegen und einen Spalt zum Durchschlüpfen zu schaffen. Draußen würde mir vielleicht die Milchstraße weiterhelfen, wenn schon kein Mond. Ich stellte mir das vor, blieb aber liegen, als hätte ich weder Hände noch Füße. Warum sollte ich auch hinausgehen, nur um hinauszugehen. Ich habe gewartet. Das Lager war hart, ein Rohrgeflecht mit einer Decke. Das Moskitonetz hing sehr tief und berührte mich. Da war es für die Mücken leicht, mich zu finden. Vielleicht war auch eine mit mir unter dem Netz und hielt mich wach mit ihren Bissen. Mit den ersten Schreien der Hähne, dem ersten Lebenszeichen, bin ich eingeschlafen.
Von den Ziegen auf dem Dach und ihrem Meckern wurde ich geweckt. Das Dach bestand aus Ästen und darüber waren die Stängel von Hirsepflanzen gelegt. Verbunden mit Stroh, verklebt mit Lehm. Der war feiner trockener Staub. Die Ziegen lockern den Lehm, er bröselt herunter. Als die Sonne durch die schmalen Fenster fiel, strahlte der Staub, den die Äste losgelassen haben. Es ist Silvester.1. Januar 1996Es ist kalt in der Nacht in Gorom-Gorom. Aber ich muss nur warten. Nichts tun als warten. Und es wird warm. Immer.
Der Tag beginnt mit dem Hahnenschrei. Dann die Rinder. Dann kommt der Wind. Und das Gefühl, auszutrocknen, ohne überhaupt zu schwitzen. Das Klopfen. Sie stampfen die Hirse.
In Dori, der nächsten Stadt, sollte gestern Markt sein, jedenfalls nickten alle, die ich danach fragte, so fuhr ich mit einem Buschtaxi hin.
Ich habe noch nicht gelernt, eine Frage so zu stellen, dass die gewünschte Antwort nicht zu erkennen ist. So werden sie mir in ihrer Freundlichkeit immer das bestätigen, von dem sie glauben, dass ich es gerne hören möchte. Ich fand an diesem Tag keinen Wochenmarkt in Dori, nur den alltäglichen, ich sah mir die Stadt an, wurde zum Tee in einen Hof eingeladen, verbrachte dort die Zeit der unerträglichsten Hitze und sah einer Frau beim Backen der Bohnenküchlein zu, die sie vor dem Hoftor zwischen der Teig- und der Ölschüssel sitzend verkaufte.
Dann wurde es Zeit, an die Rückfahrt zu denken, mein Gastgeber wollte mich zum Abfahrtsplatz begleiten. Wie alle anderen, die ich gefragt hatte – und es waren nicht wenige gewesen – hatte er genickt, als ich mich nach der Rückfahrt am Nachmittag erkundigte: Pas de probème, pas de problème. Bien sur.
Der Sammelplatz für Busse und Buschtaxis war leer. Keine Spur von einem Buschtaxi oder einem Bus. Heute würde kein Auto mehr nach Gorom-Gorom fahren. Erst nächstes Jahr wieder. Ich solle hier bleiben. Aber ich wollte zu meinen wenigen Dingen und in die Stille von Gorom-Gorom zurück. Aber nicht in einem Auto für mich allein. Da ging nichts mehr.
Das glaubte ich nicht. Ich wäre nicht in Afrika, wenn es keinen Weg mehr gäbe.
Der zeigte sich bald. Mein Begleiter meinte, er könne einen Motoradfahrer fragen, ob der mich fahren würde, und einen Preis aushandeln.
Wir fanden auf dem Markt, der sich schon zu verlaufen begann, eine in hundert Teile zerlegte Yamaha. Wenn sie zusammengebaut sei, würde er mich fahren, meinte der Mann neben den Teilen und er nannte einen akzeptablen Preis für das, was ich mir als ein passendes Abenteuer am Silvesterabend vorstellte. Ich setzte mich neben ihn und sah ihm und der Geschicklichkeit seiner öligen schwarzen Hände zu. Die Eselschatten wurden lang und immer länger, als wären sie von Giraffen. Die Teile fügten sich zusammen. Zuletzt fehlte nur noch Geld für das Benzin. Ich bezahlte die Hälfte der Fahrt, der Fahrer kaufte damit Benzin und einen Ersatzreifen, Den hängte er sich um den Hals und steckte einen Arm durch. Daran hätte ich nicht gedacht. Es konnte losgehen.
Zwei Stunden fährt man von Dori nach Gorom-Gorom auf einer Wellblechpiste. Die hob mich in die Luft und schleuderte meine Füße von den Tritten, kaum dass sie Halt gefunden hatten. Eine Stunde vor Sonnenuntergang, eine Stunde nach Sonnenuntergang. Mir flogen Tropfen ins Gesicht, eine Sinnestäuschung? Wieder. Dieses Land wird erst im Juni Regen sehen, und das nur, wenn es unwahrscheinliches Glück hat, bis dahin bleibt der Himmel offen, so wie jetzt. Trotzdem: Tropfen.
Einmal hielten wir. Da sah ich die nassen Wangen des Fahrers, der ohne Brille gefahren war. Ich hatte seine Tränen im Gesicht.
Die Stille. Das Nichts. Unendlich. Überall.
Es wird ein Ritt in die Nacht. Feuer in der Ferne. Die gelben Lichter von Gorom-Gorom lagen in der Nacht. Das letzte Stück war Sand. Der Fahrer musste das Motorrad schieben. Wir gruben uns im Dunkeln durch den tiefen, warmen, schweren Schnee auf die Lichter zu.
Dort fing dieses Jahr an.
Ich bin auf einen heiligen Felsen geklettert, der Funken sprühte, wenn man seine Steine auf ihn warf. Einmal dachte ich um elf Uhr nach unserer Zeit: es ist zu Ende. Vielleicht würde zuhause jetzt jemand an mich denken. Aber wie auch immer einer an mich denken würde, es wäre falsch. Eine Stunde später war dann auch hier das Jahr vorbei.Als sie sieben, ihre Schwester vier Jahre alt war, waren wir Silvester mit Freunden und deren vier Kindern in unserem Gartenhaus hinter dem Wald. Die Kinder waren schon um neun Uhr müde, fingen beim Essen an zu jammern und zu fragen: wie lange noch, wie lange noch? Sie wollten unbedingt bis Mitternacht aufbleiben. Das würde anstrengend werden. Da haben wir die Uhren eine Stunde vorgestellt, es gab ja keinen Fernseher und keine Kirchturmuhr in der Nähe. Sie merkten nichts. Wir stellten noch eine Stunde weiter und verkündeten um zehn Uhr das neue Jahr. Sie liefen mit Fackeln durch den Garten und ließen ihre kleinen Raketen los. Als alles abgebrannt war, gingen sie zufrieden ins Bett, und wir konnten ohne müde weinende Kinder Silvester feiern.
Jahre später haben wir es ihnen erzählt. Sie fanden uns gemein, sie war eine von ihnen.
Ich glaube, alle fünf, die noch leben, kann man heute noch damit ärgern, wenn man sie an diese Geschichte erinnert.Silvester war ich also allein. Keiner der wusste, aus was für einem Jahr ich gekommen bin. Keiner auch, der von ihr hätte sprechen können und es nicht tat. Zwei Tassen Wein mit zwei Freiburgern, die meine Kinder hätten sein können. Aber sie waren es nicht. Ein völlig leeres gutes neues Jahr. So leer habe ich das noch nie gesagt, und französisch sagt es mir gar nichts.
Ich muss aufgeatmet haben. So ein Jahr wie das, das hinter mir lag, würde es in meinem Leben nicht mehr geben. Es konnte nichts Schlimmeres kommen. Auch eine Gewissheit2.1.1996Einsamkeit ist ein hilfloser Hilfsbegriff. Am Anfang war das Nichts. Und die Welt wäre erst noch zu schaffen aus der Leere. Oder sie war schon da, aber mit mir hatte sie nichts zu tun. Und ich hatte weder Hände noch Worte, nach ihr zu greifen. Habe sie noch immer nicht und nie.
Diese erste Nacht im neuen Jahr schlief ich draußen unter dem Himmel des Sahel. Da staunte ich, dass so viele Sterne so wenig Licht gaben. Und es fielen überall Sterne: Sternschnuppen herunter. In Gorom-Gorom habe ich zum ersten Mal das Kreuz des Südens gesehen tief unten am Horizont.
Wüstenmusik kam ganz aus der Nähe. Der Rhythmus der Tuareg-Musik, die aus diesem Land gewachsen ist wie eine Blume, die nur einen Tag blüht, ist die erste Bewegung, mit der mein Körper übereinstimmt.
Ich schlief ohne Moskitonetz.
Sternschnuppen mit langem Schweif fragen mich nach meinen Wünschen und ich antworte: ich möchte dieses Leben leben und ich möchte es nicht mehr allein.
Ich weiß, dass sich meine Wünsche erfüllen.
Diese Nacht hat mich glücklich gemacht.In jedem Glück der Gegenwart schläft der Schmerz des Anfangs. Weiß ich, wie ich ihn wecke.
4.1.1996Wieder waren es die Sprünge der übermütigen kleinen Ziegen über das Dach, die mich aufgeweckt haben. Frech, wild und scheu zugleich nähern sie sich neugierig, aber schon die Wendung des Kopfes genügt, sie zu vertreiben. Da oben auf dem Dach sind sie ungestört.
Das Stampfen der Hirse. Die Schreie der Esel. Das Brüllen der Rinder.
Nach einer Nacht unter dem Himmel von Gorom-Gorom spürte ich eine neue Kraft. Ich sah ein Bild, hatte eine Vision. Und die Ruhe, dorthin zu leben.10.1.1996Wieder in Ouaga bin ich krank. Nachdem mir immer so übel war, machte ich die üblichen Untersuchungen. Ergebnis: Amöbenruhr. So ist es. Von dem traurigen Abend bei Anastasie?
Anastasie lebt allein, ihre beiden Kinder sind bei dem Vater. Sie wohnt in einem Haus mit zwei Zimmern ohne Wasser. Das muss sie in einem großen runden Kanister an der Sammelstelle kaufen, wo es abgefüllt wird. Wie lange muss Anastasie gearbeitet haben, um dieses Essen für mich vorzubereiten? Kam sie deshalb zwei Stunden später als verabredet, um mich abzuholen?
Der Gaskocher steht auf dem Boden, die Propangasflasche unter dem Tisch. Ein Glas gibt es, das zweite sei gestern zerbrochen. Anastasie gießt das warme Bier hinein. Sie selbst trinkt Bisap aus der Tasse. Sonntags kein Bier, sagt sie, am Montag müsse sie arbeiten.In Karims Brief zum „neuen Jahr“ steht kein Wort von ihr. Ist sie nicht tot genug, muss man sie jetzt noch totschweigen? Warum darf sie nicht einmal mehr in unseren Worten sein?
Als hätte es sie nie gegeben -
Dabei gehört ihr Tod stärker zu mir als ihr Leben.Die Stimme. Meine Stimme. Meine Stimme, die spricht, ist meine Stimme, die schrie. Der Schrei, der mir meine Form wiedergegeben hat.
Ich habe eine Ruhe gefunden, und ich habe sie ihr zu verdanken. Ich habe lähmende und zerstörerische Spannungen aus meinem Leben verbannt. Sie sollen keine Macht mehr über mich haben.Ich möchte glauben, es gibt ihn gar nicht, den Boden, auf dem wir gehen, auftreten, sicher auftreten. Es gibt nur Erde und Häuser aus dieser Erde auf dieser Erde und in diesen Häusern die Menschen auf dieser Erde.
Nov 95 – Feb 96