30.4.-1.5.2019 – jenseits

30.4.2019

Ich habe mir eine Enttäuschung eingefangen. Meine Erwartungen waren schuld. Ich habe mich auf die Freunde, die ich lange nicht gesehen habe und noch länger nicht wiedersehen werde, sehr gefreut. Sie haben mir schon oft zu einem neuen Blick auf die Dinge des Lebens verholfen, vielleicht heute auch?
Aber man kann nicht kurz vor einem Abschied mit dem Wichtigsten daherkommen und Antworten erwarten. Da war keine Ruhe, keine Leichtigkeit, keine Freiwilligkeit mehr. Hätte ich das wissen müssen? Ich hätte es wissen können, hätte ich es mir nicht so sehr gewünscht. Zuviel hätte. Ich habe zu viel gewollt.

Das Universum besteht doch nicht aus Atomen sondern aus Enttäuschungen – sagt ein Comic. Kommt mir gerade recht.
Es ist wie es ist, weil es war wie es war. So einfach ist das heute. In Torremolinos mit Doris Dörrie.
Affirmativ? Und wie! Aber das sagt man ja heute nicht mehr. Es heißt jetzt: Akzeptanz der Dinge, so wie sie sind. 

Was komisch ist: Meine Angst hört nicht auf, auch wenn die Ursache inzwischen behoben ist. Als hätte ich das vergessen. Ich erschrecke wieder immer: Ich finde das Handy nicht, es lässt sich nicht rufen, ist stumm. Dabei ist doch das Suchen mit dem Finden vorbei. Bei mir nicht? Ich muss mich immer wieder daran erinnern: Das Handy ist wieder da! War mit leerem Akku in einer Hosentasche!

Kraftlos, mutlos, ratlos.
Im Kampf gegen die Löcher, die mir immer mehr Angst machen, habe ich einen Termin zur Früherkennung von Demenz ausgemacht.
Die Ärztin schaut mich nach dem Test erstaunt an, als wollte sie sagen: Was wollen Sie denn hier?
Ich wollte nicht gegen Windmühlen kämpfen.
Diese Angst hat also keinen Grund. Ich muss ihn anderswo suchen.

Zwei Tipps bekomme ich für Prävention: Kreuzworträtsel – ich schüttle den Kopf, zu viel Grübeln mit zu wenig Aussicht auf Erfolg. Zweiter Versuch: Jeden Tag eine Viertelstunde Buchstaben in Texten zählen.
Mach ich gleich: 25 x A, 27 x S, 4 x Z, 1 x P, 5 x F, 22 x T – da höre ich auf, ist zu leicht. Buchstaben gehören zu meiner täglichen Arbeit. Damit hätte ich mir schon geholfen. Auch wieder nix.

Es regnet wirklich.
Der Regen stülpt mir eine Glaskugel über den Kopf. Da kommt der Jubel gedämpft in meine Ohren. Aber er ist da, stärker als an kalten Tagen. Heute muss ich nicht gießen.
Auf dem Weg zu meiner Klavierstunde höre ich zwischen Agawang und Häder die Meldung von einem Anschlag in Ouaga. Und dass die Islamisten aus Mali gekommen sind. Ouaga.
In den Fernsehnachrichten kommt keine Meldung, auch nicht im arte-Journal, das die meisten Meldungen aus dem frankophonen Afrika weitergibt. Heute wäre ich ausnahmsweise gerne globalisiert. Wo mir doch meistens zu viel ist, was ich von der Welt wissen soll.

In diesem April hat es Momente gegeben, wo ich wusste: Dahinter geht es für mich nicht mehr zurück. Verweilen ist gut, zurückgehen, umkehren ist für mein Leben genauso unmöglich wie für einen Fluss. Und meine Birke, die über mir in den Himmel wächst, wird mir helfen. Ihr kann ich mich anvertrauen. Sie war schon da, bevor ich kam, und sie wird – ohne Unglück – auch nach mir da stehen. Um sie habe ich keine Angst.
Aber ich habe Angst. Das war nicht so, als ich hier angekommen bin und es als Heimkommen erlebt habe. Wo ich hingehöre und wo ich nicht verlassen werden kann.
Wenn soviel Leben verschwindet oder schon vernichtet ist, gibt es auch diese Sicherheit nicht mehr. Die selbstmörderische Bedrohung, die über die Welt gekommen ist, die wir auf die Welt gebracht haben, verschont mich nicht.
Als ich anfing, hier draußen zu schlafen, wurde ich oft gefragt: Hast du da keine Angst? Ich habe überlegt, und keine Antwort gefunden als: Nein, sonst könnte ich das ja nicht.
Jetzt frage ich mich: wie lange noch, wenn ich keinen Ausweg finde? Die Birke! 

1.5.2019

Vom Jubel wurde ich aufgeweckt um viertel nach fünf und vom Gesang wieder in den Schlaf gesungen.
Über dem Küchenfenster, wo ich meinen Kaffee trinke, baut eine Taube ihr Nest. Ich schaue ihr zu, wie sie kleine Stöckchen sucht und bringt und wieder suchen fliegt.

Ich will wieder dorthin, wo noch Wiesen sind, und nehme das Rad. Als ich ins Dorf komme, sehe ich überall Toilettenpapierpapier in Schlangen und in einzelnen Stücken und gesprühten weißen Schaum. Wer hat daran nun Spaß? Über meinen in einer schmalen Gasse quer gestellten Fiat Panda konnten wir lachen! Und mein ausgehängtes Gartentor war am 3. Mai wieder eingehängt.
Der Storch, der gerade zu seinem Nest auf der Kirche fliegt, hat wie mein Tauber einen Stock in seinem Schnabel, nur viel größer.
Ich mache immer wieder Pausen für Yalla, wir setzten uns an einen Bach und sehen darin Sterne hüpfen. Weiter durch hohe, leuchtende Wiesen zum Weiher, über dem Schwalben hin und her fliegen und Lerchen hochsteigen. Noch einmal durch hohe blühende Wiesen und dann zurück zu uns. Am Dorfrand liegt eine letzte Wiese neben einem riesigen Erdbeerfeld, dann gibt es nur noch Grün vom Winterweizen und Braun, das auf die Maissaat wartet. Kein Ort für Lerchen. Obwohl ich das ja weiß, ist es besonders dann ein Schock, wenn ich aus den blühenden Wiesen komme. Sag mir, wo die Blumen sind, wo sind sie geblihiben? Sag mir wo die Blumen sind – was ist geschehn?

Mai. Es war Mai, als ich meiner Großen zum ersten Mal bei David begegnet bin.

Mai 2005

David:
Junge Frau mit dunklen Haaren.
Diese junge Frau kommt nicht näher, sie weiß nicht, ob sie darf.
Sie weiß nicht, ob du sauer bist. Wenn sie so zögerlich kommen, hat das meistens mit Freitod zu tun, Schuldgefühle, schlechtes Gewissen, sie wissen nicht, ob sie dürfen.
Sie spricht in einer Mischung von Sprechen und Gefühl.
Es fühlt sich an, als wollte sie gern Anerkennung, dass du stolz bist auf sie, aber sie war nicht überzeugt, dass sie das schaffen könnte, dass sie die Leistung bringen könnte.
Es ist, als ob sie sehr auf Leistung fokussiert war, es war ihre Überzeugung, sie müsse gute Noten bringen.
Das war meine Meinung, ich kam selber auf diese Idee: Das ist die Methode, um Anerkennung zu bekommen.

Was ist gewesen, dass ihr Leben zu Ende ging?
Blut. Blut, nur Blut. 

 -  Sie ist vom Hochhaus gesprungen.
Es war überlegt, kein Kurzschluss. 

Warum hat sie es so gemacht?
Oh – schöner Ausblick!
Das letzte, was ich gesehen habe, war ein schöner Ausblick, das will ich für mich behalten.

Sie zeigt mir einen Kaffeeautomaten wie in einer Firma, sie zeigt mir Kaffee mit Schaum, Cappuccino. Vielleicht hat sie einen Cappuccino getrunken, bevor sie versucht hat zu fliegen.

-  Was möchte sie von mir?
Verzeihung. Sie möchte Verzeihung haben.
Weil sie ihre Mutter so falsch eingeschätzt hat. Sie dachte, das Einzige, was die Mutter von ihr haben will, ist Leistung.
Jetzt weiß sie, die Liebe war einfach da, sie musste nichts machen.
Für dich ist es so, dass es selbstverständlich war, wieso muss ich das immer zeigen, ich bin einfach da und meine Liebe ist auch da. Deine Einstellung ist, man muss nicht immer großes Theater machen, die Liebe ist da.

Sie hat das missverstanden, sie hat gedacht: Ich bin nicht gut genug. Sie hat dich falsch eingeschätzt, möchte dafür Verzeihung.
Jetzt weiß sie es besser.
„Stille Wasser sind tief“ – so ist es mit deinen Gefühlen, solche Gefühle sind bei dir auf einer seelischen Ebene, etwas Privates, sind da, du zeigst sie nicht immer.

Deine Mutter ist auch da, sie stützt sie von hinten: Bleib dran, bleib dran, gib nicht auf!

Deine Tochter erwähnt den Namen El, … irgendwas mit El.
Ihre Schwester muss immer noch Probleme damit haben.
Sie möchte ihr nur sagen, sie soll sich keinen Vorwurf machen.
Sie zeigt mir jetzt einen Balkon an einem Hochhaus, nicht Holz, Beton.
Niemand sollte meinen, schuldig zu sein. Dass sie etwas hätten tun müssen. 
Es ist auf meinem eigenen Mist gewachsen.
Mir geht es gut! Es ist vieles viel klarer geworden.
Durch Leistungsdruck bin ich nicht mehr in dieser Tretmühle wie ein Hamster
Ich habe Zeit nachzudenken. Hier ist kein Leistungsdruck.

Sie zeigt mir ein Bild von sich, wo sie lacht, und sie lacht wirklich.
Sie hat eine humorvolle Ausstrahlung, das muss eine schöne Erinnerung an eine schöne Zeit sein.
Alle denken an dieses Ende, das ich mir ausgesucht habe.
Eigentlich wäre das Lachen typischer für mich.
Das ist, wie ich am liebsten in Erinnerung sein möchte.

Sie freut sich, dass du nicht gesehen hast, wie sie zerstört war.
Dass es nicht so sein sollte. Deswegen hat sie die Uhrzeit ausgesucht.
Hat sie ein bisschen schwarzen Humor? Nicht nur auf ihren Freitod bezogen –
Das Fliegen ist schön, aber mit der Landung hatte ich immer ein Problem. Achterbahn.

Sobald sie jemand runtergeholt hat, war es schwierig für sie.
Sie wollte nur, dass du weißt, dass es ihr gut geht.
Sie hat sehr viel Hilfe bekommen, die hat sie am Anfang gebraucht.
Aber diese Phase ist jetzt vorbei. Sie hat noch keine Aufgabe bekommen, aber sie freut sich drauf.

Heute ist so was wie eine Abschlussprüfung – aber ohne Noten. Ich weiß schon, ich hab es geschafft.

In meinem Tagebuch steht:

28.5.2005

Gestern hat meine Welt ihre vierte Dimension bekommen.
Es ist so gut. Wie heil, wie ganz, und ganz und gar fraglos. Dass es das gibt! Ich bin glücklich.
Die Selbstverständlichkeit, mit der David, das Medium, die Verbindung mit einem Jenseits, mit meinen Verstorbenen herstellt, ist unglaublich. Und doch wirklich. Scheint so einfach, so normal.
Ich fahre mit dem Rad über Land zu mir zurück, als ich absteige, um das Tor aufzumachen, komme ich mir vor, als wäre ich in – durchsichtige – Watte gepackt. Vollkommen beschützt. Geliebt, wie im Leben nicht.

29.5.2005

Unglaubliches: die Ohren voller Grillenzirpen und Vogelgesang. Wenn der verstummt ist, übernehmen die Frösche. Der kleine Laubfrosch quakt laut von rechts, der große Frosch von links unten, wo die Weiher sind. Die Augen voller Sonne, Mond und Sterne. Die Nase voller Duft von verblühendem Raps und süßem Heu. Auf der Haut die leicht bewegte Luft, die die Hitze nimmt. Ich bin Augen, Ohren, Nase, Haut und sehe und spüre meine Mutter und meine Tochter. Und staune, dass das möglich geworden ist.