Juden in der deutschen Literatur
Außenseiter und Provokateure – Franz Kafka (1973)
Von Marcel Reich-Ranicki
In einem 1921 geschriebenen Brief an Max Brod spricht Kafka von „dem Verhältnis der jungen Juden zu ihrem Judentum“ und von „der schrecklichen inneren Lage dieser Generation“ und meint: „Weg vom Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Väter (diese Unklarheit war das Empörende), wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration.“1
Bezeichnet ist damit, was nicht wenigen jüdischen Schriftstellern – gerade ihnen! – ermöglicht hat, sehr früh, oft schon vor dem Ersten Weltkrieg, die sich abzeichnende Vereinsamung und Entfremdung des Intellekuellen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft Deutschlands und Österreichs zu spüren und wahrzunehmen und mit besonderer Schärfe zu artikulieren. Schnitzler und Karl Kraus, Döblin, Broch und Werfel, Albert Ehrenstein, Alfred Lichtenstein und Ernst Toller, Tucholsky und Benjamin haben an „der schrecklichen inneren Lage dieser Generation“ gelitten und sich von ihr – mehr oder weniger bewußt – inspirieren lassen. Freilich sind bei manchen dieser Autoren derartige Motive – Wurzellosigkeit und Entfremdung des Individuums, seine Einsamkeit und Isolation als Folge einer konkreten gesellschaftlichen Realität – nur angedeutet und skizziert. Sie dominieren hingegen – um mich hier auf das größte Beispiel zu beschränken – in der Prosa Franz Kafkas.
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