Der göttliche Vater und die Vergewaltigung der Welt
Wie Kafka, Rilke und andere Autoren der Moderne Kierkegaard lasen – mit Vorbemerkungen zur Bedeutung des Religionsphilosophen für Jürgen Habermas (2005)
Von Thomas Anz
Rechtzeitig zum 150. Todestag des dänischen Religionsphilosophen und Schriftstellers Sören Kierkegaard kursieren Diagnosen seiner Wiederauferstehung in der gegenwärtigen Philosophie und Literatur. Als Symptom dafür ließen sich nicht zuletzt einige jüngere Aufsätze von Jürgen Habermas anführen, die jetzt gesammelt in dem Band „Zwischen Naturalismus und Religion“ vorliegen. Er enthält die Versuche und Plädoyers eines „religiös unmusikalischen Bürgers“, wie Habermas sich selbst am 19. Januar 2004 in seiner Einleitung zu dem aufsehenerregenden Disput mit Kardinal Joseph Ratzinger, inzwischen Papst Benedikt XVI., bezeichnete (publiziert auch im Internet), die kognitiven und normativen Wahrheitsgehalte religiösen Glaubens durch Übersetzungen in eine säkulare, öffentlich und allgemein zugängliche Sprache postmetaphysischer Vernunft zu retten. In diesem Projekt, das eine vermittelnde Position zwischen den derzeit erstarkten Antagonisten „naturalistischer“ Wissenschaftsgläubigkeit und religiöser Orthodoxie einnimmt, ist Kierkegaard eine wiederholt mit Sympathie genannte Figur. In dem Aufsatz „Die Grenze zwischen Glaube und Wissen“ über die Wirkungsgeschichte und aktuelle Bedeutung von Kants Religionsphilosophie stellt Habermas die an individuellen Heilswünschen orientierte Religionsphilosophie Schleiermachers und Kierkegaards den atheistischen Aneignungen religiöser Gehalte jener Linkshegelianer gegenüber, die sich mit der „Idee vom Reich Gottes auf Erden“ den „kollektiv befreienden Gehalt der jüdisch-christlichen Heilsbotschaft anzueignen“ versuchten.
Die wiederholte Auseinandersetzung von Habermas mit Kierkegaard als Indiz für eine religiöse Wende seiner Intersubjektivitätsphilosophie zu werten wäre allerdings in zweifacher Hinsicht verfehlt. Zum einen lassen die Aufsätze bei ihren Gegenüberstellungen des „religiösen“ und des „säkularen Bürgers“ keinen Zweifel, welchem Typus der Autor sich selbst zuordnet. Zum anderen reicht die Sympathie für Kierkegaard bis in die Anfänge seines intellektuellen Werdegangs in den existentialistischen 1950er Jahren zurück. Darauf weist der öffentliche Vortrag hin, den Habermas im November 2004 bei der Entgegennahme des Kyoto-Preises hielt und der den Aufsatzband eröffnet. Erstmals geht Habermas hier auf die lebensgeschichtlichen Wurzeln seiner Sprach- und Moralphilosophie ein. Wie er hier auf seine Sprachbehinderung als inspirierende Erfahrungsbasis dieser Philosophie verweist, auf die Wahrnehmung des Kindes, dass „andere mich nicht verstanden“ und „darauf mit Ablehnung reagiert haben“, verleiht seiner Philosophie etwas von jener „existentiellen Wahrhaftigkeit“, die den Studenten an Kierkegaard imponierte – und zunächst auch an Heidegger.
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