Kafkas Helden der Moderne
(2008)
Von Thomas Anz
Wer Wissenschaftler wird, lernt mit den Untersuchungsgegenständen der Wissenschaft distanziert und analytisch umzugehen. Man hält sie von sich fern, man betrachtet sie unter dem Mikroskop, man seziert sie, man experimentiert mit ihnen. Wenn die Untersuchungsgegenstände Lebewesen sind, wenn sie gar Menschen sind, macht man sie gleichsam zu toten Objekten, eben zu Gegenständen. In der Humanwissenschaft Medizin wird der menschliche Körper dann zum idealen Untersuchungsgegenstand, wenn er tot ist. Der Anatomie verdankt die Medizin entscheidende Erkenntnisfortschritte. Wer Wissenschaftler wird, lernt, auch in der Literaturwissenschaft, dass es ein Vergehen gegen fundamentale akademische Tugenden ist, mit den Untersuchungsgegenständen der Wissenschaft nicht distanziert und analytisch umzugehen. Deshalb galt lange Zeit, und gilt zum Teil noch immer, dass ein Autor erst dann ein würdiger Gegenstand der Literaturwissenschaft ist, wenn er tot ist. Eine andere, ungemein beliebte und zum Teil auch erfolgreiche Möglichkeit, die Untersuchungsgegenstände der Literaturwissenschaft zu verobjektivieren, besteht darin, nicht von realen Autoren oder auch Lesern zu sprechen, sondern von Texten. Dann gibt es keine Aussagen, Intentionen, Anliegen, Ansichten, Wünsche oder Emotionen von Menschen, die etwas geschrieben haben, sondern das alles ist Sache von Texten. Aus Autorenintentionen hat die Literaturwissenschaft Textintentionen gemacht, der Autor interessiert sie nicht als empirische Person, sondern als abstrakte Instanz, als Konstrukt der Textanalyse. Und der Textanalytiker richtet sein Interesse nicht auf den realen Leser, zum Beispiel also auf sich selbst, auf seine persönliche und individuelle Reaktion auf den Text, sondern auf den Adressaten des Textes, auf den impliziten Leser, also wiederum auf ein Abstraktum, über das sich nur über die Analyse von Texten etwas sagen lässt.
Lassen Sie mich diesen Vortrag mit einigen Bemerkungen beginnen, die gegen die wissenschaftlichen Gebote der Objektivierung und Versachlichung verstoßen. Ich weiß, als Literaturwissenschaftler macht man das nicht: über seine eigenen Lektüreerlebnisse erzählen. Lassen Sie mich trotzdem – wenigstens kurz – davon berichten, berichten auch von anderen Vergehen gegen die literaturwissenschaftliche Vernunft. Diese habe ich erst lange nach dem Lesen von Büchern kennen gelernt – und zum Teil immer noch nicht begriffen. Oder sie einfach nicht begreifen wollen.
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