Praktiken und Probleme psychoanalytischer Literaturinterpretation
Am Beispiel von Franz Kafkas Erzählung „Das Urteil“ (2002)
Von Thomas Anz
„Gedanken an Freud“
In dem enthusiastischen Rückblick auf den rauschhaften Glückszustand der vorangegangenen Nacht, in der er seine Erzählung „in einem Zug geschrieben“ hatte, notierte Kafka am 23. September 1912 in sein Tagebuch: „Gedanken an Freud natürlich“[1]. Gedanken an Freud hatten später auch zahllose Kafka-Interpreten. Sie sind in ihre Interpretationen von Kafkas Werken, gerade auch in die der Erzählung „Das Urteil“, eingegangen. Und sie sahen sich durch Kafkas eigene Bemerkung gerechtfertigt. Diese ist jedoch so vage, dass sie fast alle Fragen offen lässt und wie Kafkas gesamtes Werk zu immer neuen Deutungen einlädt. War es eine bestimmte Stelle oder Passage der Erzählung, bei der Kafka an Freud gedacht hat? Und wenn ja, bei welcher? Oder hatte er bei den Gedanken an Freud die gesamte Konzeption des Textes, die Entfaltung der Handlung, die Konstellation der Figuren oder auch seinen tranceartigen Zustand bei der Niederschrift im Sinn? An welche Bestandteile der psychoanalytischen Theorie hat er gedacht? An die Mechanismen der Traumarbeit, die Symboldeutung, die Theorie des ödipalen Konfliktes? Was davon kannte er zu diesem Zeitpunkt überhaupt? Und hat sein Denken an Freud die Niederschrift des Textes beeinflusst oder fielen ihm erst nach der Niederschrift Parallelen zwischen dem eigenen Text und der Psychoanalyse auf? Und schließlich: Wusste Kafka selbst, woran er genau dachte, als er an Freud dachte?
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