Motive des Militärischen in Kafkas Erzähltexten
Seit Beginn des Ersten Weltkriegs (2012)
Von Thomas Anz
Am 28. Juli 1914 erklärt Österreich Serbien den Krieg. Am 31. Juli schreibt Kafka in sein Tagebuch: „Ich habe keine Zeit. Es ist allgemeine Mobilisierung. […] Aber schreiben werde ich trotz alledem, unbedingt, es ist mein Kampf um die Selbsterhaltung.“ (T S. 543) Betont man, was nahe liegt, im letzten Satz „mein“, dann besagt er folgendes: ,Während Österreich um seine Selbsterhaltung kämpft, kämpfe ich um meine. Und meinen Kampf führe ich schreibend‘.
Als „Kampf“ hat Kafka sein literarisches Schreiben schon vor 1914 begriffen und die Anstrengungen, sich in seiner Schriftstellerexistenz zu behaupten, in den Beschreibungen eines Kampfes wiederholt zum Thema gemacht. Seit dem August 1914 bekommt die Metaphorik des Kampfes jedoch zusätzliches Gewicht. Und zusammen mit dem Ersten Weltkrieg beginnt für ihn eine Phase neuer literarischer Produktivität. Am Tag nach der Kriegserklärung, am 29. Juli, verfasst er literarische Entwürfe, die Vorstufen zu dem Roman Der Prozess bilden. Und neben der Arbeit an dem Roman, die er im Januar 1915 abbricht, schreibt er in einem Urlaub zwischen dem 5. und 18. Oktober die Erzählung In der Strafkolonie und das von Max Brod später so genannte Kapitel „Das Naturtheater von Oklahoma“ aus dem Amerika-Roman Der Verschollene. Es scheint, als habe der Krieg den Horizont von Kafkas Schreiben erheblich erweitert. Zwar bleiben die alten Konflikt- und Handlungsmuster (Auflehnung und Unterwerfung, Schuld und Strafe) bestehen, aber an die Stelle des Vaters und der Familie tritt zu weiten Teilen die verästelte Macht von Richtern, Führern, Personalchefs, Offizieren, Kommandanten oder Aufsehern, von Kanzleien, Akten oder Maschinen. Und das weit über das Kriegsende hinaus: Eines der im Herbst 1920 entstandenen Erzählfragmente handelt von „Truppenaushebungen, die oft nötig sind, denn die Grenzkämpfe hören niemals auf“. (NSF II S. 273) Ein anderes von einem kaiserlichen Oberst, der mit wenigen Soldaten ein Bergstädtchen beherrscht. Motive des Militärischen nehmen auch spätere Texte auf. Im Sommer 1922 erzählt Kafka von drei Soldaten, die einen Zaun verteidigen – „oder vielmehr den ganzen Hof, der von ihm umschlossen war.“ (NSF II S. 495) In dem Hof sitzen zeichnende und schreibende Männer. Einer zeichnet einen Plan des Hofes, nach dem ein anderer, der Kommandant, „die Anordnung für die Verteidigung“ (NSF II S. 495) verfasst.
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