I.6.2 Realer Leser

Leseprobe

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6.2 Realer Leser

Die wissenschaftsgeschichtliche Position des realen Lesers

»Pro captu lectoris habent sua fata libelli«: Je nachdem, wie der Leser sie auffasst, haben die Bücher ihre Schicksale. Was der Antike offenbar klar war, war lange (und ist vielleicht immer noch) für die Literaturwissenschaft keine Selbstverständlichkeit.

Sicherlich gab es Reflexionen und sogar Forschungen über das reale Publikum auch schon deutlich früher; vor allem in den 1920er Jahren wurden interessante literatursoziologische Ansätze entwickelt (etwa bei Levin L. Schücking, Fritz Brüggemann und anderen), die freilich in den 1930er Jahren abgebrochen wurden. Die konsequente Hinwendung zum realen Leser in der Literaturwissenschaft aber war erst eine Folge des Paradigmenwechsels der 1970er Jahre oder vielmehr mehrerer, gar nicht einmal immer gleichlaufender, aber doch miteinander verbundener neuer Paradigmen: der Semiotik, der Rezeptionsästhetik und der Literatursoziologie.

Die elementarste Begründung kam von der Neufundierung der Literaturwissenschaft durch die Semiotik. Die Semiotik besagt ja bereits in ihrer grundlegendsten Bestimmung des Zeichenbegriffs, dass die materielle Zeichengestalt ihre Bedeutung erst dadurch erhält, dass Benutzer ihr eine Bedeutung zuordnen. Das heißt, dass es ohne Benutzer nur materielle Objekte gibt, die aber ›an sich‹ weder Sinn noch Bedeutung haben. Dies war leicht auf den – semiotisch als Superzeichen verstandenen – literarischen Text zu übertragen.

In der Literaturwissenschaft der 1970er Jahre firmierte der Paradigmenwechsel begrifflich als Übergang von der ›Wirkungsgeschichte‹ literarischer Texte zur ›Rezeptionsgeschichte‹ bzw. Rezeptionsforschung. Von Theoretikern wie z. B. Roman Ingarden oder in seiner Nachfolge auch Jan Mukařovský oder Karel Kòsik her setzte sich in den 1970er Jahren die Sicht durch, dass der ›Text‹ noch nicht das ›Werk‹ ist, das ›materielle Artefakt‹ noch nicht das ›ästhetische Objekt‹. In dieser Begrifflichkeit sah man seither das ›Werk‹ erst als das Ergebnis seiner ›Konkretisation‹, die der Rezipient im Akt des Lesens (›Aktualisierung‹) schafft, und für die der ›Text‹ nur das Material stellt.

Die sogenannte Rezeptionsästhetik der 1970er und frühen 1980er Jahre (Wolfgang Iser, Hans Robert Jauß) vollzog den Schritt, den Leser in seiner aktiv-bestimmenden Rolle im Verhältnis zum Text anzuerkennen, aber gerade noch nicht: Sie berief sich zwar auf Ingarden und sprach davon, dass die »Sinnkonstitution des Textes zu einer unverkennbaren Aktivität des Lesers« werde; sie beschrieb aber den Leser als »impliziten Leser«, d. h. als eine analytisch zu erschließende Textstruktur: »Der implizite Leser meint den im Text vorgezeichneten Aktcharakter des Lesens und nicht eine Typologie möglicher Leser.« Ob diese Leser-Rolle von historisch- empirischen Lesern tatsächlich angenommen wurde oder ob sie empirisch überhaupt angenommen werden konnte, interessierte die Rezeptionsästhetik nur wenig. Sie lebte vielmehr, ohne dass dies explizit gemacht wurde, von der für sie notwendigen und unverzichtbaren, aber historisch-empirisch eher abwegigen Fiktion des einsamen, aus sozialen und historischen Bezügen herausgelösten und von seinen materiellen Bedingungen abstrahierten Lesers. Sie konnte insofern aufgrund ihrer Inkonsequenz nur eine philologische Sackgasse sein. Grund dafür war die philologische (seinerzeit gegenüber der Literaturwissenschaft zur Zeit des Nationalsozialismus und der unmittelbaren Nachkriegszeit durchaus positive und fortschrittliche) Position, Literaturwissenschaft sei Wissenschaft von Texten – und nicht etwa von Nationalkulturen.

Die konsequente Hinwendung zum realen Leser verdankte sich erst der Literatursoziologie und ihrer diachronischen Weiterentwicklung als sozialgeschichtliche Literaturwissenschaft.8 Von hier stammt die nicht mehr hintergehbare Einsicht, dass das Verhalten von realen Lesern nur dann adäquat beschrieben werden kann, wenn man respektiert, dass alle Menschen immer Bedürfnissubjekte sind. [...]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.