I.6.1 Textadressat
Leseprobe
Von Wolf Schmid
6.1 Textadressat
Definition
Für den Begriff des Textadressaten gibt es in der Literaturwissenschaft
unterschiedliche Termini: implizierter
oder impliziter Leser (vgl. Booth 1961;
Iser 1972), intendierter Leser (vgl. Wolff 1971), abstrakter
Leser (vgl. Schmid 1973), Modell-Leser (vgl.
Eco 1987). Bei allen Unterschieden, die zwischen
ihren Definitionen bestehen, haben sie gemeinsam,
dass sie ein im Text nicht explizit dargestelltes, aber
gleichwohl in ihm enthaltenes Bild bezeichnen, das
der Urheber des Textes bei dessen Produktion von
dem Publikum gehabt hat, an das er den Text richtet.
Im Gegensatz zum Rezipienten eines Textes,
der ein reales, konkretes Individuum ist, ist der
Adressat eines Textes ein Konstrukt des Autors, die
Gesamtheit der Vorstellungen, die der Autor bei
der Herstellung des Textes von seinem Rezipienten
hatte.
In den meisten Verwendungen wird mit dem Begriff
des Textadressaten und seinen Äquivalenten
nicht die außertextliche Vorstellung des konkreten
Autors bezeichnet, sondern jenes Bild des Autors
von seinen Rezipienten, das im Text durch bestimmte
indiziale Zeichen mehr oder weniger deutlich
objektiviert ist. Ein im Text nicht fixierter »intendierter
Leser« – nach der Terminologie Hannelore
Links (1976, 28) oder Gunter Grimms (1977,
38 f.) –, der lediglich in der Vorstellung des Autors
existiert und den man ausschließlich nach dessen
Aussagen oder nach außertextlichen Informationen
rekonstruieren kann, ohne dass er sich in der
Faktur des Textes geltend machte, ist nicht Teil des
Werks. Insofern sich ein nur intendierter Leser im
Werk nicht manifestiert, sollte man ihn nicht unter
den Begriff des Textadressaten subsumieren. Er gehört
ausschließlich zur Sphäre des konkreten Autors
und dessen Intention. Entscheidend für die
Existenz des Adressaten ist seine Manifestation im
Werk und nicht ein Willensakt des Autors, der ja
im Übrigen – auch bei Vorliegen expliziter Bekenntnisse
und Absichtserklärungen – kaum zu beglaubigen
ist.
Der Textadressat wird oft im Zusammenhang
mit dem ›implizierten‹ (vgl. Booth 1961) oder ›abstrakten‹
Autor (vgl. Schmid 1973 und 2005) diskutiert
(zur Kontroverse darüber vgl. Schmid 2007).
Dabei werden die beiden semantischen Entitäten,
die keine pragmatischen Instanzen sind, häufig in
eine Kommunikationsbeziehung gebracht. Der implizierte
oder abstrakte Leser ist aber weder ein
Kommunikationspartner des implizierten oder
abstrakten Autors noch seine direkte Entsprechung
auf der Rezeptionsseite. Es ist auch folgende verführerische
Symmetrie zu modifizieren, die von
manchen Theoretikern tatsächlich vertreten wird:
Wenn der abstrakte Autor (aA) ein vom konkreten
Leser gebildetes Konstrukt des konkreten Autors
(kA) ist, dann ist, so könnte man versucht sein zu
schließen, der abstrakte Leser (aL) das vom konkreten
Autor (kA) vorgestellte Bild des konkreten
Lesers (kL). Diese Konstellation könnte man in folgendem
Schema darstellen, in dem die Pfeile die
Konstruktionsakte und die Ovale die Konstrukte
symbolisieren: [...]
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