I.7.2 Stimme, Performanz und Sprechkunst
Leseprobe
Von R. Meyer-Kalkus
7.2 Stimme, Performanz und Sprechkunst
Literatur als Augen- und als Ohrenpoesie Dichtung ist keinesfalls in allen Kulturen und in allen Epochen Literatur, also schriftlich fixierter Text. Wir finden Dichtung auch in Gesellschaften, deren Gedächtnis vorwiegend oder ausschließlich durch orale Überlieferung gesichert wird, etwa in der griechischen Antike vor der Einführung der Schrift im 7. Jh., im europäischen Mittelalter oder in Teilen Afrikas noch im 20. Jh. Wie solche mündlichen Dichtungstraditionen verschriftlicht und damit literarisiert wurden, ist ein seit den 30er Jahren des 20. Jh.s diskutierter Forschungsgegenstand von Philologie, Anthropologie und Medienwissenschaften (vgl. Havelock 1986). Einmal eingeführt, übt die Schrift mit ihren Speichermöglichkeiten und spezifischen Darstellungsformen eine prägende Wirkung auf die Dichtung aus. Doch bedeutet dies nicht, dass sich damit der Bezug auf den mündlichen Vortrag löst. Es bleiben Übergänge und Wechselbeziehungen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit: sei es, dass die literarische Rede mit Rücksicht auf Vortrag und Vorlesen verfasst wird und die Unmittelbarkeit gesprochener Sprache in der Schrift fingiert, sei es, dass sie eigene Gattungen der Sprechkunst und literarischen Hörkunst hervorbringt, die auf eine auditive Rezeption zielen. Der Aufschwung literarischer Aufschreibsysteme seit 1800 durch die Expansion des Buchmarkts für schöne Literatur (vgl. Kittler 1985) hat das Interesse an einer ›Ohrenpoesie‹ nicht nur nicht obsolet gemacht, sondern vielmehr in Komplementarität zur visuell zu rezipierenden ›Augenpoesie‹ erst recht stimuliert.
Im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit hatte sich die volkssprachige Dichtung in einem langen Prozess der Durchsetzung ihren Platz in den von der lateinischen Gelehrtenkultur besetzten Räumen der Literatur erobert (vgl. Kiening 1993, 131). Die Erfindung und Ausbreitung des Buchdrucks seit dem 15. Jh. stellte dann einen Wendepunkt im Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit dar. Von nun an wurde die individuelle Lesefähigkeit zur elementaren Voraussetzung für eine Teilnahme an der Kommunikation, die Zugang zu Bildung und Macht verschaffte. Schrift und Drucktechniken drängten in sämtliche Lebensbereiche vor, und der massenhafte Buchdruck ermöglichte gegenüber den älteren mündlichen Vortragsformen andere Arten der Rezeption, etwa das stille Lesen. Haben mündliche Darbietungsformen mit diesem epochalen Umbruch ihren konstitutiven Charakter für das literarische System verloren (vgl. ebd., 133)? Gegen diese Annahme sprechen mehrere Argumente: Zum einen werden auch in der Neuzeit durch Mündlichkeit charakterisierte und auf Mündlichkeit angewiesene literarische Formen gepflegt und sogar neu hervorgebracht, vom Meistersang übers Sprechtheater bis hin zur Lautpoesie; zum anderen bleibt die neuzeitliche Literatur bis weit in die Aufklärung hinein dem ›rhetorischen System‹ mit seinen aus dem mündlichen Vortrag abgeleiteten Normen des unmittelbaren Wirkungsbezugs auf das Publikum verpflichtet. Gewiss distanzieren sich die Aufklärer von der bisher dominierenden rhetorisch geprägten Sprechkultur und sehen im Lesen den Königsweg zur selbstständigen Urteilsbildung (vgl. Goetsch 1994, 11). Doch wer- den mit der Wertschätzung des Lesens zugleich die Gefahren eines asozialen Rückzugs ins Alleinsein erkannt (vgl. Nies 1994, 157). Darauf reagiert man mit veränderten sozialen Praktiken:
Zitat: Geselliges wie einsames Lesen gewannen veränderte Funktionen. Insbesondere das Hauptpublikum der Belletristik, die Frauen, bevorzugte gemeinschaftliche Lektüre, die eine unmittelbare Kommunikation über diese erlaubte. An die Stelle des autoritativen, ›frontalen‹ Vorlesens durch Hausvater, Pfarrer oder Lehrer trat nun jedoch eine durch Lektüre legitimierte und formalisierte Geselligkeit, deren Bedeutung in der ›Erfahrung empathischen Rollenspiels‹ [E. Schön] lag, also einer kontrollierten und disziplinierten gemeinsamen Bewältigung von literarischen Texten. (Wittmann 1999, 437; vgl. Schön 1999, 30 ff.)
Die »Leserevolution« (Wittmann 1999) durch wachsende Alphabetisierung der Bevölkerung und einen expandierenden Buchmarkt für schöne Literatur und Künste verläuft synchron mit der Entwicklung und Expansion von Praktiken der Vortragskunst. [...]
Leseprobe aus dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.