II.2.2 Inhaltsanalyse
Leseprobe
Von Thomas Anz
2.2 Inhaltsanalyse
Sozial- und literaturwissenschaftliche Inhaltsanalysen
›Inhaltsanalyse‹ (engl. content analysis) ist eigentlich kein literaturwissenschaftlicher Begriff. Man verwendet ihn in den Sozialwissenschaften und bezeichnet damit theoretisch fundierte und an Standards empirischer Forschung orientierte Methoden, eine große Menge von Texten in Abhängigkeit von gezielten Fragestellungen auf Inhalte hin zu untersuchen, aus denen sich Schlüsse zur Beantwortung der gestellten Frage ziehen lassen.
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Inhalt, Thema, Bedeutung, Sinn
Sowohl in sozialwissenschaftlichen als auch in literaturwissenschaftlichen Umgangsformen mit Texten ist oft nicht deutlich, was mit ›Inhalt‹ in Relation zu semantisch verwandten Begriffen wie ›Thema‹, ›Bedeutung‹ oder ›Sinn‹ von Texten jeweils gemeint ist. Mit solchen Begriffsunschärfen gehen die bei den Bezeichnungen des wissenschaftlichen Umgangs damit einher: ›Analyse‹ und ›Interpretation‹. Die Verwendung des Begriffs ›Interpretation‹, der in der Literaturwissenschaft seit den 1970er Jahren dem Verdacht der Un- oder Vorwissenschaftlichkeit ausgesetzt ist, ist der sozialwissenschaftlichen Inhaltsanalyse nicht fremd. Sie verwendet ihn zur Bezeichnung der abschließenden Phase eines inhaltsanalytischen Projekts, der ›Interpretation‹ der empirisch gewonnenen Ergebnisse. Und wenn sie vom ›Inhalt‹ eines Textes oder einzelner Textbestandteile spricht, verwendet sie oft synonym auch das Wort ›Bedeutung‹. So z. B. ein Artikel zur »Inhaltsanalyse« aus dem umfassenden Handbuch Text- und Gesprächslinguistik in den folgenden Sätzen:
"Lasswell (1949) und Berelson (1952) stehen für eine Auffassung, dass es vor allem um die »objektive, systematische und quantitative Beschreibung manifester Inhalte« gehe. Dabei wird unter »manifest« jene Bedeutung verstanden, die einem Wort (oder Textteil) »üblicherweise« von einem bestimmten Sprachkreis beigemessen wird – und zwar unabhängig von den Absichten des Autors, den Wirkungen auf spezifische Empfänger, deren Erwartungen und den übrigen Besonderheiten des historischgeographisch determinierten Kommunikationsprozesses."
Vom Inhalt oder von der Bedeutung (oder vom Sinn) eines Textes, eines Aufsatzes oder eines Buches zu reden, meint wiederum Unterschiedliches. In diesem Redezusammenhang sind ›Inhalt‹ und ›Bedeutung‹ keine austauschbaren Synonyme. Der ›Inhalt‹ eines Buches, der im ›Inhaltsverzeichnis‹ angezeigt sein kann, ist hier vielmehr etwas, was auch als sein Thema oder als seine Themen bezeichnet werden kann. ›Themen‹ wiederum deckt sich semantisch weitgehend mit dem, was die sozialwissenschaftliche Inhaltsanalyse als ›Kategorien‹ festzulegen versucht, denen einzelne Textbestandteile zuzuordnen sind. Mit ›Kategorien‹ sind hier meist Sachverhalte gemeint, die ein Text thematisiert. Ein inhaltsanalytisches Kategoriensystem (vgl. Früh 2004, 166 f.) gleicht dem Inhaltsverzeichnis eines Buches, in dem Teilthemen einem Gesamtthema systematisch zugeordnet sind. Werner Früh überschreibt in seiner Einführung in die Inhaltsanalyse das Kapitel über das »Grundmodell« der Inhaltsanalyse denn auch mit »Themen-Frequenzanalyse « (ebd., 135).
In der Semiotik und Linguistik werden die Begriffe ›Zeicheninhalt‹ und ›Zeichenbedeutung‹ oft synonym verwendet. Gelegentlich fungiert ›Zeicheninhalt‹ als Oberbegriff, der den bezeichneten Gegenstand (Referent) und die Bedeutung (Signifikat), das heißt die Vorstellung, die man mit dem Gegenstand verbindet, meint. Dass Gottlob Frege in seiner Schrift Sinn und Bedeutung (1892) den Begriff ›Bedeutung‹ gerade nicht so, sondern eher im Sinn von ›Referent‹ verwendete, ist nur ein Beispiel für die Begriffspluralität, von der nicht nur Literaturwissenschaft gekennzeichnet ist. Die Gegenüberstellung von Sinn und Bedeutung bei Frege hat eine weitere Entsprechung in der Gegenüberstellung von ›Intension‹ (semantische Merkmale, durch die ein Begriff bestimmt ist) und ›Extension‹ (die aufzählbaren Referenten, die der Begriff bezeichnet). In der linguistischen Semantik dominiert gegenüber ›Inhalt‹ oder ›Sinn‹ die Rede von ›Bedeutung‹, die zur weiteren Differenzierung mit diver- sen Zusätzen versehen wird. So unterscheiden Linguistik-Lehrbücher beispielsweise zwischen lexikalischer Bedeutung (eines sprachlichen Ausdrucks), Satzbedeutung (unabhängig vom Äußerungskontext), Äußerungsbedeutung (in einem bestimmten Kontext spezifiziert) oder Sprecherbedeutung (Sprecherintention). Und sie differenzieren zwischen diversen Bedeutungstheorien (realistischen, kognitivistischen, gebrauchstheoretischen). Wie vielschichtig die Bedeutung des Begriffs ›Bedeutung‹ in seinen literaturwissenschaftlichen Verwendungsweisen ist, hat 2002 ein Aufsatzband mit dem Titel Regeln der Bedeutung dargelegt. […]
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