II.2.8.4 Tagebuch

Leseprobe

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

2.8.4 Tagebuch

Das Führen eines Tagebuchs ist als kulturelle Praktik biografischer Selbstreflexion fassbar, die regelmäßig, typisiert und standardisiert erfolgt. Sie gehört der Privatsphäre an und wird zumeist über längere Zeitspannen hinweg routiniert und routinisiert hervorgebracht. Das Tagebuch ist ein offenbar vergleichsweise alter Texttyp und setzt kein exakt rekonstruierbares Datum in der Geschichte der Subjektivität, wenngleich die »Subjektordnung der Bürgerlichkeit« die Ausdrucksform als schriftliche »Praktik des Selbst« befördert haben dürfte. Literaturwissenschaftliche Tagebuchanalyse bezieht die geistes- und sozialgeschichtlichen Voraussetzungen ein, sie fokussiert auf Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit im Denken über die eigene Persönlichkeit ebenso wie auf transindividuelles Reflektieren über die jeweiligen kulturellen Personenkonzepte, die einem historischen Wandel unterliegen. Für die Produktion ebenso wie für die Rezeption des Tagebuchs gelten zudem die transindividuellen Codes der historischen Semantik, die sich in der »Geschichte des Schreibens« herausgebildet haben und sich unter dem Eindruck sozialer Ausdifferenzierung, bürgerlicher Subjektkultur und ästhetischer Orientierung laufend verändern. Noch das persönlichste Tagebuch unterliegt kulturellen Prägungen und arbeitet mit den geistesgeschichtlich verfügbaren Ausdrucksmitteln und Darstellungskonventionen, und schon das pietistische Tagebuch kennt den Mitleser, als dessen wissenschaftliche Nachfahren sich die Textanalytiker begreifen dürfen.

Im literarischen Kosmos enthalten Tagebücher nicht selten Vorstufen, Ideen und Entwürfe zum ›eigentlichen‹ Werk, Kommentierungen der eigenen Arbeit und andere Kontexthilfen. Diese dankbar aufzugreifenden Erklärungsangebote sind als solche kritisch zu rezipieren und selbst interpretationsbedürftig. Sie flankieren, freilich in improvisierter Abbreviatur, das literarische Werk und können gerade deshalb neben diesem bestehen. Die Werkausgaben der Klassiker edieren daher auch die scheinbar bloß beiläufig erfolgte Lebensregung des Diariums, selbst wenn es nicht zur Veröffentlichung gedacht war: Autoren wie Thomas Mann oder Ingeborg Bachmann haben die Publikation ihres Tagebuch-Nachlasses mit einer hemmenden Frist belegt, Kafka hat sogar dessen Vernichtung gefordert.

Ähnlich wie der Brief durchläuft das Tagebuch seit etwa 1700 eine Schule der Geläufigkeit, in der sich der Autor allmählich als Leser seiner selbst erfährt und seine Routine der Beobachtung und Kommentierung der eigenen Person zu optimieren sucht. Die analytische Praxis hat daher einen Blick für die spezifische Kommunikation des Texttyps zu entwickeln, zumal sich das Tagebuch nicht nur oder nicht primär auf das eigene Verhalten richtet, sondern auch dem sozialen und religiösen Ort des Subjekts gilt. Dieser Ort wird sowohl im profanen Alltagsgeschäft wie im herauszustellenden Ereignis aufgesucht und befragt, wobei die Darstellung bis ins 19. Jh. darauf abzielt, sich – lesend – als einheitliches Subjekt zu erfahren und auch widerstrebende Handlungen und Motive diesem Postulat der personalen subjektiven Einheit zu unterwerfen. Die literaturwissenschaftliche Analyse von Tagebuch- Texten muss daher die Diskurse berücksichtigen, die an der Modellierung der Subjektivität teilhaben: im 18. Jh. und unter dem Eindruck des Pietismus und Quietismus beispielsweise der Zwang zum intimen Bekenntnis, zur confessio, die literarische und kulturelle Mode des Sentimentalismus der Empfindsamkeit sowie die aufklärerische Forderung nach Selbsterkenntnis. [...]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.