II.6.1 Inter- und Transdisziplinarität

Leseprobe

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6.1 Inter- und Transdisziplinarität

Wissenschaftspolitik und Wissenschaftssystematik

Die Begriffe ›Interdisziplinarität‹ und ›Transdisziplinarität‹ bezeichnen Formen der Zusammenarbeit unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen in Forschung und Lehre. Gegenüber dem Begriff der Transdisziplinarität ist der Begriff der Interdisziplinarität der umfassendere und ältere Begriff und zudem der Begriff, mit dem entsprechende Forschungsanstrengungen und Lehrmodelle identifiziert werden. Interdisziplinarität bezeichnet dabei die Kooperation bestehender Disziplinen in einer Art, die die Disziplingrenzen intakt lässt. Bei der Transdisziplinarität wird – wie der Begriff es sagt – die Gegenstandsbestimmung jenseits bestehender Disziplingrenzen vorgenommen und die methodische Herangehensweise neu entworfen. Gegenstand transdisziplinärer Forschung ist also etwas, was so in keiner bestehenden Disziplin behandelt wird.

Der Begriff der Interdisziplinarität kam bereits in den 1960er Jahren auf und bezeichnete ein Desiderat zeitgenössischer Forschungs- und Wissenschaftsformation. Vor allem in den 1980er Jahren hat der Begriff Prominenz erlangt, weil er zum vorrangigen Kennzeichnen zukunftsorientierter Wissenschaft avancierte. Insofern hat der Begriff schon relativ früh, spätestens aber seit dieser Zeit eine doppelte Bedeutung bekommen: Zum einen war er ein Begriff der Wissenschaftspolitik, der eher eine Forderung nach einer Neuorganisation der Wissenschaftspraxis entweder im lokalen, projektgebundenen Bereich einer spezifischen Fragestellung oder sogar im umfassenderen methodischen Bereich implizierte und erwünschte Strukturen wissenschaftlicher Kooperation zwischen den Disziplinen beschrieb. Zum anderen bezeichnet er in seiner systematischen Dimension eine Reorganisation wissenschaftlicher Theoriebildung und Forschungspraxis. So muss man dort, wo der Begriff eingesetzt wird, genau differenzieren, ob nun eher eine politisch-pragmatische oder eine systematische, eher eine normative oder eine deskriptive Beschreibung gegeben wird, eher eine aktuelle oder eine zukünftige, eher eine vorgefundene oder eine zukünftige Praxis, eher ein Soll- oder ein Ist-Zustand beschrieben wird.

Dass diese beiden Dimensionen schwer voneinander zu unterscheiden sind, hängt in der Tat mit der Wissenschaftsorganisation zusammen (vgl. Mittelstraß 1991). Insofern ist es nötig, sich zuallererst den Begriff der Disziplin zu vergegenwärtigen, um die Idee der Interdisziplinarität zwischen Projekt und Institution, zwischen Prozess und Struktur zu begreifen (vgl. Fürbeth 1999, 8 f.). Das Konzept der ›Disziplin‹ ist eine grundlegende Struktur der Organisation von Wissenschaft. Eine wissenschaftliche Disziplin ist das Produkt einer systematischen Ausdifferenzierung im Prozess der Wissenschaftsgeschichte, deren Ziel eine wissenschaftlich homogene Einheit darstellt. Eine Disziplin ist demnach im Idealfall eine Einheit, die sich durch einen relativ einheitlich definierten Gegenstandsbereich, ein- heitliche Methodiken und zusammenhängende Fragestellungen auszeichnet. In jedem Fall ist dasjenige, was eine Einheit zusammenhält, stärker als dasjenige, was die Disziplin mit ihrem wissenschaftlichen Umfeld teilt. Konstitutiv für eine Disziplin ist also das Zusammenspiel von Grenzziehung und Abgrenzung zu anderen Disziplinen in der jeweiligen Gegenstandskonstitution; ein Doppelaspekt, der im Begriff der ›Definition‹ (Bestimmung und Abgrenzung) zum Ausdruck kommt. [...]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.