II.6.8 Theologie
Leseprobe
Von Heinrich Detering
6.8 Theologie
Um die Aspekte der Beziehungen zwischen Religion und Literatur zu erforschen, bedarf die Literaturwissenschaft der Hilfe durch vergleichende Religionswissenschaft sowie jüdische und christliche Theologie. Insofern sie es mit Texten zu tun hat, ist die Theologie ihrerseits auf linguistische und literaturwissenschaftliche Methoden und Kenntnisse angewiesen. Diese Wechselbeziehungen betreffen sowohl die biblischen Philologien (alt- und neutestamentliche) als auch die Kirchengeschichte bzw. die Geschichte des Judentums, die systematischen Theologie (Dogmatik), die Predigtlehre (Homiletik) und Liturgik, in diesem Bereich namentlich die Hymnologie (also der literarisch besonders wichtigen Geschichte des kirchlichen Gesangs und der Gesangbücher). Um angesichts des unüberschaubar weiten Gegenstandsbereichs wenigstens einen exemplarischen Überblick über mögliche Beziehungen zu geben, konzentriert sich die folgende Übersicht weitgehend auf Beispiele aus dem Bereich der germanistischen Literaturwissenschaft und der jüdisch-christlichen Überlieferungen.
Historische Gegenstände
Weite Teile der Literaturgeschichte sind ohne die Einbeziehung theologie- und kirchengeschichtlicher Kompetenz nicht zu erschließen. Das gilt nicht nur für die literaturwissenschaftliche Mediävistik, die auf enge Kooperation von Philologie und Kirchengeschichte angewiesen ist und mit der Mystik einen der wichtigsten Grenzbereiche zwischen Literatur und Religion erforscht. Es gilt darüber hinaus auch für die Fortdauer von mittelalterlichen (und durch das Mittelalter vermittelten) Formen poetischer Bedeutungskonstitution und Bildlichkeit (vgl. dazu grundlegend Ohly 1958/1977 und Ohly 2002), Stoff- und Motivgeschichte, Gattungspoetiken und -hierarchien und für unterschiedlichste Formen moderner und postmoderner Adaptionen und Modifikationen biblischer, kabbalistischer und anderer religiöser Traditionen, aber auch theologisch-systematischer Entwürfe.
Wie Studien zur mittelalterlichen Literatur so sind auch Humanismus- und Barockforschung aus offensichtlichen Gründen ohne detaillierte Kenntnis der theologie-, kirchen- und konfessionsgeschichtlichen Kontexte nicht zu betreiben. Relevant ist diese Kenntnis nicht nur für geistliche Dichtungen, sondern überhaupt für das kulturelle Wissen, für formende Diskurse oder Dichtungskonzepte, etwa für die in der Emblematik vorausgesetzte Semiotik oder die Signaturenlehre Jakob Böhmes und die ihr benachbarten theologisch-semiotischen Entwürfe. Relevant ist dieses Wissen in besonderer Weise dort, wo literarische Texte selbst mit ihnen vorliegenden theologischen Entwürfen zu experimentieren beginnen – wie das, auf unterschiedlichste Weise, etwa im Kühlpsalter Quirinius Kuhlmanns, in den philosophisch-theologischen Schriften Lessings, in den Hymnen des Novalis oder im Spätwerk Clemens Brentanos geschieht. Goethes mutmaßliche Adaptationen der heterodoxen ›Wiederbringungslehre‹ des Origenes in Faust II sind literaturwissenschaftlich und theologisch ebenso lebhaft diskutiert worden wie die trinitätstheologischen Implikationen seiner Farbenlehre oder die Fortwirkung von Formen der Reliquienverehrung in seinem Gedicht auf Schillers Schädel.
Beispiele einer literarisch produktiven Rezeption und Transformation zeitgenössischer theologischer Diskussionen im Übergang zur Moderne geben die (expliziten und impliziten) Reaktionen auf die »Leben- Jesu-Forschung« von David Friedrich Strauß, Ernest Renan oder Theodor Keim in Wilhelm Raabes Romanen und auch, um dieselbe Zeit, Friedrich Nietzsches Antichrist. Als in ihrer Beschaffenheit durchaus unterschiedliche ästhetische Auseinandersetzungen mit theologischen Traditionen und Denkformen erscheinen in der Moderne sowohl Paul Celans späte »Dichtung als verborgene Theologie« (Schöne 2000) als auch Thomas Manns umfangreiche erzählerische Adaptationen religionsgeschichtlicher und theologischer Fachliteratur im Josephs-Roman (zu dessen religionsgeschichtlicher und theologischer Eigenständigkeit vgl. Assmann 2006) oder im parodistischen Legendenroman Der Erwählte. [...]
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