II.6.9 Philosophie

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6.9 Philosophie

Beziehungen zwischen Literaturwissenschaft und Philosophie

Über die Prämissen, Aufgaben und Gegenstände der Literaturwissenschaft besteht kein Konsens. Aber so unterschiedlich die unter diesem Namen zusammengefassten Ansätze und Methoden sind – ihr Theoriekonflikt wird auf einem Feld ausgetragen, das durch philosophische Fragen und Begriffe zumindest vorstrukturiert ist. Beziehungen zur Philosophie unterhält die Literaturwissenschaft auf mehreren Ebenen.

1. Zentrale thematische Interessen beider Wissensdiskurse konvergieren. Überschneidungen ergeben sich insbesondere im Bereich der Poetik (vgl. I.10.1): Als theoretische Reflexion über Dichtung ist diese der philosophischen Ästhetik (vgl. I.10.2) affin; als Theorie der spezifischen Merkmale dichterischer Texte, Textgattungen und Stilmittel sowie als Reflexion über Voraussetzungen und Wirkungen von Dichtung erörtert sie literaturwissenschaftlich relevante Zentralfragen.

2. Die Philosophie gehört zu den Themen literaturwissenschaftlicher Forschung; diese diskutiert Zusammenhänge und Wechselbezüge zwischen philosophischen Texten, Konzepten und Denkstilen auf der einen, literarischen Werken und Schreibweisen auf der anderen Seite, fragt etwa nach den Auswirkungen bestimmter philosophischer Ansätze auf die Literatur einer Epoche und nach dem philosophischen Gehalt einzelner literarischer Werke. Die Erforschung der Literatur als eines Ortes philosophischer Reflexion nimmt innerhalb der gegenwärtigen Literaturwissenschaft breiten Raum ein.

3. Wo der philosophische Diskurs sich mit der Frage nach Modalitäten, Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation von Texten auseinandersetzt, hermeneutische Prinzipien erörtert oder auch die Möglichkeit der Interpretation kritisch destruiert, wird drittens zumindest implizit auch die Literaturwissenschaft zum Thema der Philosophie. Im 20. Jh. bemühten sich Philosophen um eine theoretische Grundlegung der Literaturwissenschaft; Joseph P. Strelka verweist insbesondere auf die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung von Roman Ingarden.

4. Zwischen Modellierungen der Beziehung zwischen Philosophie und Literatur sowie der Beziehung zwischen Literaturwissenschaft und Literatur bestehen auffällige Analogien. Sieht man die Relation zwischen Philosophie und Literatur dadurch charakterisiert, dass Erstere auf das Begriffliche zielt, Letztere aber von konstitutiver Vieldeutigkeit ist (vgl. I.9.5), dann ließe sich die Beziehung der Literaturwissenschaft zur Literatur damit durchaus vergleichen. Erstere zielt auf begriffliches Wissen über literarische Gegenstände und verhält sich damit dem literarischen Wissen zugleich antagonistisch und komplementär.

Literaturwissenschaft und philosophische Subdisziplinen

Ästhetik

Literaturwissenschaft und philosophische Ästhetik begegnen sich auf mehreren diskursiven Ebenen.

1. Literaturwissenschaftliche Methoden und die ihnen zugrunde liegenden Literaturkonzepte haben sich immer wieder an Theorien und Theoremen der philosophischen Ästhetik orientiert. So etwa wirkt sich die Autonomieästhetik des deutschen Idealismus, die das Selbstverständnis vieler Autoren des 19. und 20. Jh.s stark beeinflusst hat, auch auf einzelne literaturtheoretische Ansätze prägend aus. Literaturwissenschaftliche Interpretationen gelten bis weit ins 20. Jh. hinein vielfach dem Werk unter dem Aspekt seiner Geschlossenheit und seines autoreferenziellen Kunstcharakters. Noch für den seit den 1930er Jahren in Amerika entstandenen New Criticism ist die Konzentration auf den Text als ästhetisches Objekt und auf seine Strukturen konstitutiv; dessen kulturelle und ge- schichtliche Rahmenbedingungen hingegen gelten als allenfalls begrenzt relevant. Die Absichten und persönlichen Eigenarten des Autors, die subjektiven Reaktionen des einzelnen Lesers und die ethisch-moralische Dimension des Textes, seine gesellschaftskritische oder affirmative Botschaft bleiben weitgehend außer Betracht. Solche Konzentration auf den Kunstcharakter legt methodisch ein close reading der Texte nahe.

2. Literaturwissenschaft fragt nach philosophisch- ästhetischen Ideen und Theorien, insofern sie sich inhaltlich und strukturell auf Literatur auswirken. Hierzu laden vor allem die Werke solcher Autoren ein, die sich selbst auch am Diskurs der philosophischen Ästhetik beteiligt haben, wie etwa Schiller und Friedrich Schlegel.

3. Literarische Texte können von wissenschaftlichen Interpreten auch als kritische Auseinandersetzung mit Theorien und Theoremen philosophischer Ästhetik gelesen werden. [...]

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