Editorischer Pluralismus
Für die Koexistenz mehrerer Kafka-Ausgaben
Von Jochen Strobel
Die Ablehnung eines auf zwölf Jahre gestellten Antrags auf Projektförderung bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) hat einige Aufmerksamkeit auf die von Roland Reuß und Peter Staengle herausgegebene Historisch-kritische Kafka-Ausgabe (FKA) gelenkt. Seit 1995 sind u. a. Bände mit Kafkas Oxforder Oktav- und Quartheften, dem "Proceß" und dem "Urteil" erschienen; die Kenner von Dietrich Sattlers Hölderlin-Ausgabe oder Staengles und Reuß' Kleist-Ausgabe haben sich mit den Vorzügen einer sich auf Faksimile und zeichengenauer und topografisch korrekter Transkription der Handschrift gründenden Editionspraxis längst angefreundet. Nun geht es um die Frage, ob jene Antragsablehnung berechtigt sei, ob sie etwa nur auf die Voreingenommenheit der Förderinstitution und ihrer Gutachter zurückzuführen sei. Damit steht aber auch die Praxis geisteswissenschaftlicher, genauer: editorischer, Forschungsförderung erneut auf dem Prüfstand.
Der engagierte Kafka-Leser muss sich heute zwischen drei verfügbaren oder noch entstehenden Ausgaben entscheiden - oder vielmehr: er muss sich nicht entscheiden, denn alle drei Ausgaben werden nebeneinander und nacheinander, dabei aber kritisch, zur Kenntnis zu nehmen sein. Max Brods editorisch hochproblematische Ausgabe ist schon deswegen unverzichtbar, weil Kafkas beispiellose Rezeptionsgeschichte ohne sie nicht zu verstehen ist. Erst der Vergleich mit den beiden neueren Ausgaben unterrichtet auch den heutigen Leser darüber, wie aus einem Nachlass ein 'Werk' wurde, das binnen kurzem zur Weltliteratur gehörte. Die seit den achtziger Jahren erschienene Kritische Kafka-Ausgabe (KKA) korrigierte Brods Praxis, indem sie Lesetext und textkritischen Apparat konstellierte und damit zwar schon den flüchtigeren Leser näher an die Handschrift und die Fragmentarizität von Kafkas Schreiben heranführte, darüber hinaus aber die Hilfsmittel für eine textgenetische Lektüre zur Verfügung stellte. Die Schreib-, Streichungs- und Ersetzungsvorgänge sind damit so gründlich und so übersichtlich nachgezeichnet, wie dies ein lemmatisierter Apparat nur tun kann. Die FKA macht den Leser zum Entzifferer von Kafkas Handschrift, zum Verwalter seiner Arbeitshefte. Sie ediert das zu Lebzeiten Erschienene textkritisch differenziert, sie bietet - neben wertvollen Einleitungen - für den Nachlass eine als Entzifferungshilfe verstandene Umschrift des Autographen, die restliche Arbeit verbleibt bei den Lesern. Und das sind nicht wenige. Aber ist davon auszugehen, dass sich im Falle Kafkas auch kritische Ausgaben verlegerisch selbst tragen? Die editorische Arbeit jedenfalls wäre damit nicht abgegolten, und so schien es den Initiatoren der FKA angeraten, auf eine umfängliche Förderung durch die DFG zu setzen. Für die Kafka-Forschung ist die FKA unverzichtbar. Textgenetische Lektüren haben in den vergangenen Jahren immer wieder versucht, Kafka aus seinen Schreibprozessen heraus zu verstehen, die sich nun einmal in der Handschrift objektivieren.
Keine der vorhandenen und entstehenden Kafka-Ausgaben beantwortet alle Fragen des Lesers, keine ist überflüssig, keine lässt sich gegen die jeweils anderen ausspielen. Die unheilvolle Praxis, den Ersetzungscharakter des eigenen Produkts hervorzukehren und eine Art Alleinvertretungsanspruch zu erheben, nützt aber gerade in der Landschaft der Kafka-Ausgaben niemandem. In kaum einer Autorenphilologie ist die Notwendigkeit der Benutzung aller drei verfügbaren Ausgaben so offensichtlich wie bei Kafka, und nur der spezialisierte und am graphemischen Detail interessierte Leser wird sich ausschließlich auf die FKA stützen. Schon die etwas weniger akribische Lektüre der FKA wird etwas tun, wogegen die Editoren sich verwahren: Sie wird die Transkription so bewerten, als sei sie Kafkas Text, denn des Wunsches nach einem lesbaren Text kann sich auch diese Edition nicht erwehren.
In seinem Plädoyer "Lesen, was gestrichen wurde. Für eine historisch-kritische Kafka-Ausgabe", das sich im 1995 erschienenen Einleitungsband zur Frankfurter Kafka-Ausgabe findet, wendet sich Roland Reuß mit aller Schärfe gegen den "ideologische[n] Zug einer germanistischen und verlegerischen Praxis [...], die statt in eine adäquate Darstellung der Materialien und eine damit immer einhergehende Kritik der Filter und kulturellen Zensurinstanzen ihren Ehrgeiz vor allem in eine neuerliche autoritäre Textkonstituierung setzt". An deren Stelle soll für jeden Leser die Lektüre der faksimilierten Handschrift treten, deren diplomatische Umschrift nur Lesehilfe sein kann. Ob es sich um eine Überforderung des Lesers handelt, der immerhin an der Transkription zweifeln und sich damit genauso intensiv einbringen müsste wie der Editor selbst, sei dahingestellt. Zumindest am Rande des Polemischen ordnet Reuß die u. a. von Malcolm Pasley und Gerhard Neumann herausgegebene KKA der Nachfolge Max Brods zu, dessen Editionspraxis zu korrigieren sie ja angetreten war. Zutreffend ist gewiss manche Kritik an der KKA, an der Unbeholfenheit ihres Umgangs mit "nachgelassenen Schiften" oder wahlweise, kaum davon zu trennen, "Fragmenten", da doch fast alle Texte Kafkas ausschließlich aus dem Nachlass ediert werden müssen. Solche Fehlentscheidungen konventioneller Editionspraxis, die eben doch am Text festzuhalten versucht war, erlaubt sich die FKA nicht. Sie ist editionsgeschichtlich Kind der Gegenwart, auch insofern sie dem Leser erstmals eine digitale Version zugänglich macht.
Doch editorischer Pluralismus ist die eine Sache, die Förderung wissenschaftlicher Projekte von Fall zu Fall eine andere. Gewiss ist, dass nicht alle editorischen Desiderate, seien sie auch mit hochrangigen Namen und Textcorpora verbunden, hier und jetzt gefördert werden können. Als Förderinstitution der KKA sah sich die DFG bereits in der Pflicht; der raschen und notwendigen Neubesinnung auf editorische Standards entspricht hier leider noch nicht die Nachhaltigkeit der Rezeption einer bereits geförderten, in der Briefabteilung noch nicht einmal fertiggestellten Ausgabe. Und die Gefahr der Ablehnung eines neuen, auf Revision drängenden Unternehmens wächst naheliegenderweise mit der Dimension des Antrags: Das Instrument des Langzeitprojekts, der auf nicht weniger als zwölf Jahre gestellte Antrag auf Förderung eines notwendigen Unternehmens, das sich aber beschränkt auf die Faksimilierung und Transkription einer in der Tat auch für den geübten Normalleser leicht entzifferbaren Handschrift, ist eine antragspolitische Steilvorlage und erforderte ein Potential an Erkenntniszugewinn, das der FKA zumindest seitens der DFG-Gutachter offenbar nicht zugetraut wird und das sich auch nicht binnen kurzer Zeit belegen lässt. Die auf den schon vorhandenen Bänden der Edition basierende Forschung braucht Zeit.
Doch hätte die FKA mehr zu bieten, dann sähe die Lage vermutlich anders aus. Peter Staengle und Roland Reuß haben mit ihrer Brandenburger Kleist-Ausgabe, insbesondere mit den Bänden zu den "Berliner Abendblättern" gezeigt, wo Handlungsbedarf bestehen könnte, bei der Kotextualisierung und Kontextualisierung der edierten Schriften nämlich, ob es sich um Materialien zur Entstehungsgeschichte oder um die, bei Kafka weniger reiche, Überlieferungsgeschichte zu Lebzeiten handelt. Hier sind also bei aller Selbstgewissheit nochmals die Editoren gefragt: Wie aussichtsreich ist ein solches Unternehmen, wenn es sich finanziell selbst tragen müsste (und wenn statt dessen andere, ohne Förderung absolut chancenlose, vielleicht auch überschaubarere Projekte finanziert werden könnten)? Andererseits: Welche editorischen Dienstleistungen wären anzubieten, um zusätzlich zum Kerngeschäft aus Faksimilierung und Transkription die Attraktivität des Projekts für eine öffentliche Förderung zu erhöhen?
Diese Fragen wären aber sinnlos, wären sich alle darüber einig, dass die Edition nicht ein Stiefkind der Geisteswissenschaften ist, sondern eine ihrer Säulen, deren Produkte - dies zur Beruhigung aller Kafka-Herausgeber - die tagespolitischen Querelen in der Regel überleben.