Wissen und Erinnerung

Saul Friedländers fundamentales Werk über den Holocaust

Von Wolfgang WippermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Wippermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind dasselbe“. Dieses Zitat hat Saul Friedländer seinen (schon 1978 erschienen) Erinnerungen voran gestellt, in denen er beschreibt, wie er unter falschem Namen und versteckt in einem katholischen Internat in Frankreich den Holocaust überlebt hat, um dann zum überzeugten Zionisten und Historiker des Holocaust zu werden, der Erinnerung mit Wissen verbindet. Seine nun vollständig vorliegende Geschichte des Holocaust ist sein Lebens- und wissenschaftliches Meisterwerk.

Im Zentrum des zweiten Bandes (der erste mit dem Titel „Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933-1939“ erschien bereits 1998) steht wieder Hitler und dessen Ideologie, die Friedländer als „Erlösungsantisemitismus“ kennzeichnet. Hitler und der Antisemitismus führten zur „Endlösung der Judenfrage“. Dies kann man auch anders sehen: Die Konzentration auf Hitler kann von der Mittäterschaft der deutschen Eliten und nicht aller, aber vieler Deutschen ablenken. Die Betonung der ideologischen kann zu einer Vernachlässigung der ökonomischen Faktoren des Rassenmordes führen, dem auch andere als „rassisch minderwertig“ stigmatisierte Gruppen zum Opfer gefallen sind: „Asoziale“, Geisteskranke und Homosexuelle – Slawen und Sinti und Roma. Doch diese ‚anderen Opfer‘ erwähnt Friedländer kaum (die Sinti und Roma kennzeichnet er konsequent und falsch als „Zigeuner“), weil sie für die Nationalsozialisten nur eine „passive Bedrohung“ dargestellt hätten.

Anders beurteilen kann man auch das Verhalten einiger Völker, die von Deutschland überfallen worden waren und einem brutalen und rassistisch geprägten Besatzungsregime unterworfen worden waren. So die Rolle der Polen, die von Friedländer als überwiegend antisemitisch eingestellt präsentiert werden. Hier hätte er im Gegensatz dazu auch den „Rat für die Unterstützung der Juden“ (ZEGOTA), deren bekanntestes Mitglied Wladyslaw Bartoszewski war, erwähnen können. Doch weder diese noch andere polnische „Gerechte unter den Völkern“ tauchen in dem Buch auf. Die Darstellung und Bewertung der unter deutscher Herrschaft gebildeten jüdischen (Zwangs-) Organisationen in Ost- und Westeuropa fehlt dagegen nicht: Die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ wird kurz, knapp und ziemlich vernichtend als „Judenrat auf nationaler Ebene“ bezeichnet. Unkommentiert wird der Wunsch (der Berliner Beauftragen der Jewish Agency) Recha Freier wiedergegeben, dem Vorsitzenden der „Reichsvereinigung“ Leo Baeck den „Heiligenschein“ herunterzureißen. Der „zionistischen Führung […] kein nennenswertes Engagement für die Erleichterung des Schicksals der Juden in Europa“ zu unterstellen, geht ebenfalls etwas zu weit. Was hätte sie, was hätte vor allem der Jischuw denn tun können?

Doch dies sind Ansichtssachen. Volle Zustimmung verdient die Beurteilung beziehungsweise Verurteilung des Verhaltens der (nichtjüdischen) Deutschen. Sie fällt klar, deutlich und niederschmetternd aus, obwohl sich Friedländer von der These (des übrigens nur einmal erwähnten) Daniel Johan Goldhagen distanziert, wonach die Verfolgung und Ermordung der Juden „Ausdruck einer tief sitzenden und historisch einzigartigen antijüdischen Leidenschaft“ der Deutschen gewesen sei. Mit derartigen zwar einleuchtenden, aber eben doch zu einfachen Deutungen gibt sich Friedländer nicht ab. Er schürft viel tiefer, gründlicher und vor allem auf breiterer Ebene. In chronologischer Vorgehensweise, wobei die Geschehnisse von jeweils 6 Monaten gebündelt werden, wird das gesamte Geschehen in insgesamt 17 europäischen Staaten dargestellt. Wissenschaftlich fundiert und gestützt auf eine kaum übersehbare, aber von ihm meisterhaft beherrschten Literaturbasis, zugleich aber immer wieder aus der Perspektive der Opfer, deren Zeugnisse ernst und wörtlich genommen, das heißt ausführlich und mit Empathie wiedergegeben werden. Saul Friedländer verbindet Geschichte und Erinnerung.

Titelbild

Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden 1933-1939. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Pfeiffer.
Verlag C.H.Beck, München 1998.
458 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3406448712

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Titelbild

Saul Friedländer: Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945.
Übersetzt aus dem Englischen von Martin Pfeiffer.
Verlag C.H.Beck, München 2006.
870 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3406549667

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