„Schreiße“, das ging fast in die Hose!

Georges-Arthur Goldschmidts „Stoff des Schreibens“ verwandelt sich mit Klaus Ferentschiks Hilfe in einen zutiefst pataphyischen Limes

Von Roman KernRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Kern

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Versuchung des Geistes“ lautet der Untertitel eines Buches, das kürzlich bei Matthes & Seitz Berlin erschien. Es vollführt eine Gratwanderung, indem es durch die geschickte Orchestrierung von Primärtext und historischem Abriss einer der spannendsten Bewegungen der Moderne auf die Spur zu kommen versucht.

Der französische Exzentriker Alfred Jarry brachte im Dezember 1876 in Paris sein Stück „Ubu Roi“ zur Aufführung und die zeitgenössische und überaus sensationslüsterne Kulturlandschaft reagierte mit einem massiven und wohl mindestens teilweise im Voraus kalkulierten Skandalbeben. Dennoch war nicht abzusehen, was für einen dauerhaften Einfluss die Haupftigur haben würde, auch wenn für das seither andauernde Interesse der verschiedensten Künste und Wissenschaften das Stück nicht allein verantwortlich ist. Vielmehr ist es das „Gesamtkonzept Jarry“, das neben der Erscheinung des in extremen Farben und Formen schillernden Autors in zweifacher Hinsicht Neugierde weckt: Da ist das surreal-parodistische Werk, das unter anderem Gestalten wie Dr. Faustroll in die Welt entließ, der in Begleitung seines Schoßpavians absonderlich münchhausende Erfahrungen durchlebt. Da ist aber auch das Novum, das der Buchtitel einführt, wenn er Faustroll einen ‚Pataphysiker nennt. Doch worum handelt es sich eigentlich bei dieser seltsamen Disziplin, die sich substantivisch mit einem besonders explosiv anlautenden Anführungsapostroph schreibt? Es ist an der Zeit, dem Autor des jüngst erschienenen Buches das Wort zu überlassen: „Angesichts ihrer vielfältigen Erscheinungs- und Verbreitungsformen ist eine genaue Definition der ‚Pataphysik nicht möglich“. Noch Fragen?

Es macht eine der Stärken der Publikation aus, dass sie nicht krampfhaft versucht, das Spielfeld einzuengen, sondern den Leser auf einer labyrinthischen Reise immer weiter an das Zentrum des Phänomens heranführt: Die Reiseroute führt über immer neue Windungen, und verliert trotzdem niemals ihr Ziel aus den Augen – in einem Land, das derart polymorph und polyvalent das immer selbe Phänomen feiert, ist eine andere Bewegungsform undenkbar.

Die Lektüre der nahezu 300 Seiten wird nicht lang, der Stoff bei aller Akribie niemals trocken referiert: „Schreiße“ etwa ist der skurrile Versuch einer Übertragung der Jarry’schen Wortneuschöpfung „merdre“ aus „Ubu Roi“, die unter anderem damals für Aufruhr sorgte. Die Darstellung gewinnt durch die lebendige Schilderung hanebüchener zeit- und editionsgeschichtlicher Details, die zusätzlich mithilfe zahlreicher Abbildungen aufgelockert wird: So wird anhand vieler schöner und skurriler Werke deutlich, welch prominentes Echo das Phänomen in der Kunst fand. Dennoch genügt die Publikation wissenschaftlichen Ansprüchen, da einer thematischen Vertiefung über eine Vielzahl an Fußnoten nichts im Wege steht, und weil zudem ein Literatur-, Namens- und Abbildungsverzeichnis vorliegt, das in diesem Fall augenzwinkernd durch ein „Glossarium Patahysicum“ ergänzt wird.

Als Dreh- und Angelpunkt des Feldes kann man die intensive Beschäftigung mit dem Bereich des Imaginären ausmachen, der bereits seit Sokrates‘ Konzept der „idea“ als eigentlicher Stofflieferant für die Wirklichkeit ausgemacht zu sein scheint: Potenzial gegenüber Realisierung, Konzept versus Umsetzung; bei dem nahe liegenden Paar Schein und Sein muss jedoch erst noch die Rollenverteilung geklärt werden. Der pataphysische Quantensprung liegt aber nicht nur in der gezielten Aufwertung des weder handfest noch durch Rationalität oder Logik überprüfbaren Bereichs, sondern vor allem in der gezielten Verwischung der Grenzen mit dem übergeordneten Ziel eines erweiterten Zugriffs auf den potenziell erfahrbaren Reichtum der Welt.

In Zusammenschau mit einer anderen Publikation desselben Verlages ergibt sich die Möglichkeit zur gewinnträchtigen Parallellektüre. Die im pataphysischen Feld beobachteten Probleme werden bei aller Liebe zum Versuch, die Logik im Regen stehen zu lassen, mit menschlichen Mitteln, sowohl Bild- als auch Sprachmaterial, kommuniziert. Doch das Mittel der Sprache selbst ist zutiefst pataphysischen Geistes, wie man schnell feststellt, wenn man sich mit Georges-Arthur Goldschmidts „Der Stoff des Schreibens“ befasst.

Goldschmidt ist jüdischer Abstammung und wurde 1928 bei Hamburg geboren. 1939 emigrierte er nach Frankreich und kam mit Französisch in Berührung, einer Sprache, die er lieben lernte, die ihn aber dennnoch nicht daran hinderte, nach seinem Abitur ein Germanistikstudium aufzunehmen. Seitdem gilt sein besonderes Augenmerk dem Gegensatz dieser so unterschiedlicher Naturen: „Die eine Sprache nämlich forsch und raumbezogen, sachlich zugleich besagt alles, kann alles darlegen, alles gestalten und läßt nichts aus […]“, „die andere Sprache, jahrhundertelang von der Geschichte geschliffen, verfeinert und bearbeitet […]“, „eine Sprache der Verteidigung des Menschen, aber eine auch, in welcher das Erotische so leise und unüberhörbar zu sprechen vermag“.

Doch ist dies nur Auftakt einer im besten Sinn vagabundierenden Beobachtung, reich an Lebenserfahrung, präzise in Wahrnehmung und Ausdruck und doch frei, grenzenlos und zutiefst dialektisch in sprachlicher, kultureller und biografischer Hinsicht. Schnell wird klar, dass hier ein Wanderer zwischen Welten spricht, dem nicht entgangen ist, was hüben und drüben fehlt, ja was eigentlich prinzipbedingt fehlen muss. Egal, um welche Ausdrucksform es sich handelt, es kommt grundsätzlich dasselbe Problem ins Spiel: Sobald ein Wort darauf festgelegt wird, sein Pendant in der Welt zu bezeichnen, sind alle anderen Möglichkeiten seiner Bedeutung verworfen oder eingeschränkt, und mit dem ersten Ton eines musikalischen Weges beginnt ein Prozess, den man mit dem fortschreitenden Zuschlagen von anfangs offenen Türen vergleichen kann – je weiter sich das Blatt füllt, desto ärmer wird es an potenziellem Spielraum. Man könnte es auch zynisch formulieren: Je mehr man sagt, desto weniger kommt dabei heraus.

In Goldschmidts Buch jedoch kann man dem Wirken des pataphysischen Prinzips geradezu über die Schulter sehen, ohne dass Autor oder Text an Souveränität verlieren: Im Gegenteil vollzieht sich an ihnen die Paradoxie des Willen zum Begreifen angesichts der Unfassbarkeit. Es ist ein Gedanke ohne Anfang und Ende, der sich immer wieder selbst einholt, infrage stellt, überprüft und zugleich präzisierend zu fassen und assoziierend mit Unschärfe zu versehen sucht. Nicht zuletzt spricht aus dieser Haltung eine kluge und unaufdringliche Aufmüpfigkeit, die sich einerseits wohl bewusst ist, dass es Sprache als Ausdruck von Wirklichkeit eigentlich nicht geben kann, die aber andererseits aus diesem Grund nicht bereit ist zu verstummen. Es handelt sich um nichts weniger als die einzige Möglichkeit menschlicher Existenz: Leben angesichts des unausweichlichen Todes.

Dem Verlag darf man zu beiden Publikationen im einzelnen gratulieren, noch mehr erfreut das Gespann als solches. Die Auswahl der Texte lässt Sorgfalt und Umsicht erkennen, die Ausstattung der Bücher weiß zu gefallen. Vor einigen Jahren ist das Haus unter der Führung von Andreas Rötzer von München nach Berlin umgezogen. Seither zeigt sich sein Geschick im Bewahren der Tradition, für die der Name steht, so wie im Beschreiten neuer Wege. Für beides darf man ihm weiterhin Gelingen wünschen und etwas später dann noch ein Gutes Neues Jahr.

Titelbild

Klaus Ferentschik: 'Pataphysik. Versuchung des Geistes.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2006.
352 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3882218770

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Titelbild

Georges-Arthur Goldschmidt: Der Stoff des Schreibens.
Übersetzt aus dem Französischen von Klaus Bonn/ Georges-Arthur Goldschmidt.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2006.
169 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3882218622

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