Singe den Schmerz!
Hundert Jahre italienischer Geschichte in Ugo Riccarellis grandiosem Familienepos "Der vollkommene Schmerz"
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Mythos ist menschlich. Und es ist nicht so, dass seit Schiller in seinem Gedicht "Die Götter Griechenlands" eine entzauberte Welt beklagte und Heine den Gang der Götter ins Exil beschrieb, diese - und sei es auch nur in der Literatur - nicht mehr ins Erdenleben eingegriffen und ihre Menschlichkeit unter Beweis gestellt hätten. Eine fulminante Rückkehr auf klassischem Boden erfahren zumindest die Halbgötter und Heroen in Ugo Riccarellis 2004 mit dem Premio Strega ausgezeichneten Roman "Der vollkommene Schmerz" ("Il dolore perfetto").
In dem großangelegten Doppelporträt zweier italienischer Familien ist es die in einem kleinen toskanischen Städtchen alteingesessene Familie Bertorelli, die nicht nur seit Generationen erfolgreich und in großem Stil Schweinezucht betreibt, sondern mindestens genauso konsequent und traditionsorientiert bei der Namensgebung der Nachkommen verfährt, die Odysseus, Hektor, Achill, Helena, Paris oder Orest heißen.
Der gewaltige Nachhall solcher Namen aus großen, heroischen Zeiten mit all den damit verbundenen Geschichten, Prüfungen und Aufgaben stellt den Zusammenhang zu den hier berichteten Ereignissen aus dem Leben dreier Generationen einer Familie her: Auch sie müssen im Strudel der Zeitläufte schier Übermenschliches ertragen und bewältigen. Und es sind, mit Nietzsche gesprochen, schwere Wackersteine der Geschichte, die den zeitlichen Hintergrund dieses Romans markieren, der gleichsam auch ein Panorama der italienischen Geschichte seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg zwischen politisch-sozialem Stillstand und Aufbruch, Revolutionen und Faschismus entwirft.
Es ist die Rückkehr der Halbgötter und Heroen als Menschen im Maschinenzeitalter. Wie einst in den großen Sagen sind auch sie von menschlichen Gefühlen wie Eifersucht, Liebe, Neid und Schmerz, aber auch allzu menschlichen Schwächen und Neigungen für Intrigen, Liebschaften und Wahnsinn durchdrungen, obwohl sie seit Generationen jene Namen aus der antiken Sagenwelt und einer Zeit, "da der Dichtung zauberische Hülle / sich noch lieblich um die Wahrheit wand" (Schiller), tragen.
Der an wirtschaftlichem Erfolg und stetigem Aufbau des Eigentums und Kapitals orientierten Familie Bertorelli mit der Elterngeneration Odysseus und Rosa steht die Familie Bartoli gegenüber. Was die Modernisierung des Landes auch heißt, weiß die Witwe Bartoli, seit ihr erster Mann von den Rädern der gerade gebauten Eisenbahn zermalmt wurde und sie seitdem alleine lebt mit dem Gedanken an das Leben, das sie hätte führen können, und dieser Gedanke war "zum Gefährten ihrer Nächte geworden, zum einzigen Zeugen eines feinen Schmerzes, der ihr die Ruhe verwehrte" - bis der im Roman nur als Maestro bezeichnete neue Lehrer in die Stadt kommt und aus seiner süditalienischen Heimatstadt Sapri auch (sozial-)revolutionäre Ideen und Überzeugungen mitbringt.
Die geringen Widerstände gegen eine verhalten aufdämmernde Liebe zwischen dem Maestro und der Witwe Bartoli und das leise Gerede der Leute beschreibt Riccarelli mit einer ebenso schnörkellosen wie unerhört poetischen Sprache, die die gesellschaftliche Dynamik einer italienischen Kleinstadt am Ende des 19. Jahrhunderts offenlegt. Wenn auch die beiden Familien kein abgrundtiefer Hass trennt wie die Montague und Capulet, so könnte der Unterschied dennoch größer nicht sein. Bis auf den Letztgeborenen, Cafiero, sind daher auch als Kontrast zu den Namen der Familie Bertorelli die Kinder der Witwe Bartoli und des Maestros nach den 'neuen' Göttern benannt: Libertà, Ideale und - nach Bakunin - Michail.
Dass der Leser bei all dem Neben- und Ineinander von Lebensläufen und Ereignissen nicht den Überblick verliert, liegt vor allem an Riccarellis bestechender und klarer Erzählweise, die mit wenigen Pinselstrichen ein einprägsames und charakteristisches Porträt sowohl von Menschen als auch Landschaften und Mentalitäten zu zeichnen vermag.
Als verbindendes Leitmotiv in der Darstellung des Innenlebens der Personen fungiert hierbei das sich schon im Titel ankündigende und in schier unendlich vielen Schattierungen auftauchende Grundgefühl des Schmerzes, der vollkommen ist, weil es der Schmerz der Geburt, der Liebe und des Todes ist: "Sie [Rosa] musterte ihren Mann und empfand keine Liebe, aber auch keine Wut und keinen Groll. Sie empfand Schmerz, einen stechenden und vollkommenen Schmerz, der langsam in Kummer überging. Gern hätte sie etwas gesagt, doch sie spürte klar und deutlich, dass kein Wort gut genug gewesen wäre. Und auch keine Geste. Ein Hammer vielleicht, ja, ein Hammer hätte vielleicht genügt, um die Lebensmauer aufzuschrammen, die sie beide trennte."
Schmerzhaft und hilflos muss Rosa erleben, wie ihr Mann, Odysseus, wahnsinnig wird und ihre Schwester Mena vergewaltigt, bevor er sich im Schweinestall erhängt. In schmerzhaften Erinnerungsschüben brechen bei der Witwe Bartoli alte Wunden wieder auf, als der Maestro bei einer politischen Demonstration getötet wird und sie wieder alleine zurückbleibt, bis sie auf einem Erinnerungsspaziergang buchstäblich unter die Räder der Eisenbahn gerät und mit ihr auch der Schmerz begraben wird.
Der Schmerz ist aber vor allem generationenübergreifend. Das zeigt sich in der Verbindung von Helena (auch Annina genannt) Bertorelli mit Cafiero Bartoli, in der sich der Schmerz zweier Familien gewissermaßen potenziert und das Leben der Nachkommen auch dieses Paares bestimmt.
Nicht zufällig ist dem Roman ein Motto von Carlo Emilio Gadda vorangestellt. Freilich mehr thematisch als stilistisch verpflichtet, stellt sich Riccarelli schon durch den Titel seines Romans in die Tradition eines der wichtigsten italienischen Anti-Kriegsbücher - und damit Geschichtsromane - nämlich Gaddas schon 1938-1941 publiziertem, von Einaudi aber erst 1962 wiederentdecktem Roman "Die Erkenntnis des Schmerzes" ("La cognizione del dolore"). In der europäischen Gegenwartsliteratur hingegen fügt sich Riccarellis Roman - wenngleich zeitlich etwas weiter ausholend - ein in die Reihe der vor allem in den romanischen Ländern erscheinenden Werke, die die jüngere Geschichte im Zusammenhang widerstreitender politischer Systeme, Denunziation, Aufruhr und Resignation verarbeiten, wie etwa in Rafael Chirbes 1998 auf Deutsch erschienenem Roman "Der lange Marsch".
Es sind diese erfundenen, möglichen Leben, die durch ihren exemplarischen Charakter am besten dazu angetan sind, die Abgründigkeit menschlichen Daseins und gesellschaftlich-politische Entwicklungen zu veranschaulichen, um unsterblich im Gesang zu leben.
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