Jüdisch-amerikanische Familiengeschichte
Irene Disches "Großmama packt aus"
Von Monika Grosche
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNein, den Mund zu halten war nie ihre Stärke, und so plappert Elisabeth Rothers auch nach ihrem Tod munter weiter. Einziges Thema der ebenso mitteilsamen wie standesbewussten Rheinländerin: ihre Familie. Und dabei hält die Protagonistin des jüngsten, autobiografischen Romans von Irene Dische mit ihrer recht speziellen Sichtweise der Dinge keineswegs hinter dem Berg. Bereits im ersten Satz des Romans weiht sie uns in die Untiefen der Familienhistorie ein: "Daß meine Enkeltochter so schwierig ist, hängt vor allem mit Carls geringer Spermiendichte zusammen." Und mit der gleichen unverblümten Allwissenheit einer selbstgerechten Katholikin, die es in den Himmel geschafft hat, lässt sie uns plaudernd an ihrer Sichtweise der Geschicke ihrer Familie teilhaben. Diese führen sie vom Rhein nach Oberschlesien und schließlich nach New Jersey, wobei Elisabeth stets versucht, die Zügel des Familienlebens fest in der Hand zu halten. Doch dies gelingt nur scheinbar. Bereits die Tochter untergräbt das mütterliche Regiment durch Eigensinn und Aufsässigkeit, und spätestens in den USA entziehen sich auch Ehemann und Enkelkinder - allen voran Irene - ihren Vorstellungen eines Lebens in wohlgeordneten Bahnen.
Irene Disches autobiografischer Roman erzählt die tragikomische Geschichte ihrer eigenwilligen Familie mit Verve und einem großen Schuss Selbstironie. Der scheinbar belanglose Plauderton der erzählenden Großmutter kann (und will) nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Geschichte exemplarisch für das Schicksal zahlreicher deutsch-jüdischer Familien steht: Vom ersten Impuls, den aufkeimenden Nationalsozialismus als vorübergehende Erscheinung abzutun, über die Versuche, zunehmende Diskriminierungen still zu erdulden und Gerüchte von drohender Vernichtung als Übertreibung abzutun, bis hin zu der Erkenntnis, dass nur noch die Flucht das eigene Leben retten kann, durchlebt und durchleidet Disches Familie die Traumata der jüdischen Emigranten. Als deren Endpunkt steht das Exil, und die schwierige Aufgabe, die eigene Identität zu bewahren und trotzdem eine neue Rolle in einer fremden Kultur zu finden.
Doch bei "Großmama packt aus" handelt es sich nicht um "Opferliteratur" im eigentlichen Sinne. Die Großmutter als "unpolitische Deutsche", die in eine jüdische Familie eingeheiratet hat, ist selbst von latentem Antisemitismus und der Abneigung gegen alles "Proletarische" geprägt. Selbst die Erfahrungen des Nationalsozialismus ändern nichts an ihren Vorurteilen - im Gegenteil. Als einzige Konsequenz aus der Geschichte versucht sie vielmehr, die Familie fernzuhalten von allem, was jüdisch ist (oder wirken könnte). Der jüdische Schwiegersohn, das "semitische" Aussehen der Enkelin und der angeblich "typisch jüdische" Sinn fürs Geld, der den Enkel prägt, verstärken noch ihre starre Haltung. Nahezu unberührt lässt sie so auch das Wissen um den Tod der Familie ihres Mannes, die ihr früher einmal sehr ans Herz gewachsen war. Ihr Interesse gilt allein der Wiedergutmachung und dem Aufbau einer neuen, kleinen heilen Welt, in der sie alle Fäden in der Hand hält - Rassismus, Krieg und Verfolgung als lästige Störungen im Lauf des Lebens betrachtend, die eine anständige Katholikin und Dame von Stand nicht wirklich behelligen können. Damit steht ihre Figur archetypisch für all diejenigen "guten Deutschen", die sich, ohne Schuldempfinden oder Hinterfragen der eigenen Verhaltensmuster, nach dem Krieg der Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit entzogen und einfach so weitermachten, als ob nichts gewesen wäre.
"Großmama packt aus" ist ein temporeicher fulminanter Roman, der mit seinem trockenen Humor fesselt bis zur letzten Seite. In seinem respektlosen, entmystifizierenden Umgang mit jüdischer Verfolgung und Nationalsozialismus braucht er den Vergleich zu Viola Roggenkamps "Familienleben" oder Amir Gutfreunds "Unser Holocaust" nicht zu scheuen.
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