Ein rhapsodisches Werk

Laurence Stern - Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman als Hörbuch

Von Wolfgang HaanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Haan

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer hasst es nicht: Beamten- oder Versicherungsdeutsch. Kaum ein Bürger, der noch nicht damit in Berührung gekommen ist; sei es bei der Vermählung mit dem geliebten Weibe oder der kurz danach folgenden Aufkündigung des geschlossenen Eheversprechens, dem Erwerb einer Wohnstätte oder dem Abschlusseiner Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung. Das solchen Ausführungen folgende ratlose Gesicht signalisiert dem Vortragenden, doch bitte den Inhalt des Gesagten in allgemeinverständliche Worte zu kleiden.

Ganz anders Tristram Shandy, seines Zeichens Gentleman: In nur einem, vollkommen verständlichen Satz fasst er den Ehevertrag zwischen seinen Eltern zusammen - Harry Rowohlt benötigt für das Vorlesen dieser Stelle fast sieben Minuten. Und es wird wohl keinen Hörer geben, dessen anfänglich fragende Gesichtszüge sich nicht im Laufe der Lesung von einem Grinsen hin zu einem breiten Lachen entwickeln - spätestens dann, wenn Harry Rowohlt am Ende mit solch starken Atemproblem zu kämpfen hat, dass man am liebsten Ausrufen würde: "Holt eine Ambulanz; der Mann muss unter ein Sauerstoffzelt!"

Wie viele "große Momente" gibt es im Leben eines Durchschnittsmenschen, wie unbestritten Tristram Shandy zu seiner Zeit (1759) einer war. Je nach Mentalität ist es vielleicht der erste Kuss, eine Hochzeit oder die Geburt eines Kindes, der Bezug der ersten eigenen Wohnung, das Erlangen eines Ausbildungsplatzes etc.

Diese Momente nimmt man aber nur deswegen als etwas Besonderes wahr, weil sie selten sind. Doch ein Leben ist trotzdem alles andere als langweilig. Man unternimmt etwas mit Partner, Freunden oder auch alleine; schaut Fernsehen, geht ins Kino und, da war doch noch was, geht zur Arbeit, Schule, Universität. Manchmal geschehen merkwürdige Dinge, Zufälle genannt, die doch, würde man sie bis ins I-Tüpfelchen analysieren, "nur" darauf beruhen, dass verschiedenste Personen Handlungen tun oder unterlassen, die schließlich darin münden, dass sich die Wege an irgendeinem Punkt kreuzen. Wenn sie dies jetzt auf einen Roman übertragen, können sie sich ungefähr vorstellen, wie "Tristram Shandy" aufgebaut ist: Der Erzähler berichtet von irgendeiner Begebenheit, die einen anderen dazu bringt, etwas ähnliches zu erzählen und so weiter. Dies führt zu einer schier endlosen Zahl von Verknüpfungen - ständig kommt man vom Baum zum Holz, vom Holz zum Stock, vom Stock zum Stöckchen. Und dies auf sehr unterhaltsame Weise.

Denn Sterne ist nicht nur ein begnadeter Erzähler, sondern auch ein Meister der Zweideutigkeiten. Erschienen im Zeitalter der Aufklärung, nimmt er dies ziemlich wörtlich. Da wird, im Vorgriff auf heutige Erkenntnisse, die Zeugung erklärt; da befragt schon mal die Ehefrau "ihre Kehrseite", wenn sie ihrem Manne deutlich machen will, dass er sie mal am "A..." kann; Kapitel beginnen mit "Es war mal" und entlarven sich von vorneherein als Märchen; sexuelle Anspielungen, die man beispielsweise mit "An der Nase eines Mannes erkennt man seinen Hannes" übersetzen könnten, gibt es zuhauf. Die Aufzählung der unterhaltsamen Abweichungen vom damals Üblichen ist unendlich - und das Interessante ist, dass all dies noch, oder wieder, so modern, so zeitlos ist, dass es dieses Hörbuch über 23 Stunden hinweg schafft, den Hörer zum Lachen zu bringen, zu fesseln und zum Wiederholungstäter zu machen. Wie bei allen guten Satiren hört man die findigen Spitzfindigkeiten erst beim mehrmaligen Hören, wenn man die offensichtliche Komik, Absurdität und Abstrusität bereits kennt.

Eine knifflige Aufgabe mit Bravour gelöst

Doch wie liest man dieses Werk vor? Kann die klassische Variante, die Stimmlage zu verändern, um den Charakteren individuelle Stimmen zu geben, funktionieren? Bei der Vielzahl der Person ist dies hier unmöglich. Auch das Verändern der Sprechgeschwindigkeit, um auf besonders spannende Momente hinzuweisen, funktioniert nicht - was ist spannend daran, wenn eine Geschichte auf Latein erzählt wird? Also der konstante Erzählfluss, egal was passiert? Einschläfernd bei 23 Stunden Laufzeit des Hörbuches.

Was bleibt sonst? Die Antwort ist schon bald zu simpel und doch genial: Man verpflichtet den einen Sprecher, der, sowohl als Übersetzter, gefeierter Sprecher englischer Literatur und, bei seinen seltenen Solo-Auftritten, Begeisterungsstürme auslöst: Harry Rowohlt. Er setzt bewusst andere Akzente bei der Interpretation eines Textes, als man dies normalerweise gewohnt ist. Dabei verleiht er nicht den Protagonisten andere Tonlagen, sondern den jeweiligen Ereignissen. Beispielsweise gibt es wohl kaum etwas Langweiligeres, als sich Latein anhören zu müssen; Harry Rowohlt spricht diese Passagen in exakt dem Ton, den wir von Geistlichen gewohnt sind. Gerade durch die Häufung im Text und dadurch, dass die meisten Aussprüche nicht übersetzt werden, wird der Hörer zunächst irritiert, danach köstlich amüsiert. Denn man merkt schnell, dass das Verstehen des Lateinischen für das Begreifen der Geschichte unnötig ist - genauso wie ein Katholik, seit der Erst-Kommunion die Bedeutung des Rituals kennt und ihm bereitwillig folgt, ohne der alten Sprache mächtig zu sein.

Wie selbstverständlich nimmt er jede Kurve der Handlung mit Bravour, indem er bereitwillig dem vom Autor vorgegebenen Weg folgt und durch den beschwichtigenden Tonfall seiner Stimme dem Hörer quasi sagt: "Nun reg dich nicht auf. Das hier muss ich dir unbedingt noch erzählen".

Laurence Sternes Figuren haben alle Marotten und diese haben sie von Beginn bis Ende des Romans; im klassischen Entwicklungsroman fände ein Lernprozess statt mit anschließender Läuterung der Figur. Harry Rowohlt, im Lesen von schrulligen Charakteren ohne Lerneffekt geübt ("Pu der Bär"), karikiert keine der Figuren, sondern macht sie liebenswert, weckt Verständnis für ihre Ticks. Es sind ihre Handlungen, die er aufs Korn nimmt. Hier ist er gnadenlos, lässt weidlich keine Gelegenheit zur Karikatur aus; genüsslich lässt er sich die Dummheiten auf der Zunge zergehen, lässt sie langsam schmelzen und erfreut sich an dem genussvollen Nachgeschmack, als wäre es Zitronensorbet. Als Hörer hungert man dann förmlich nach der nächsten Abschweifung von der Abschweifung. Und er tut uns den Gefallen und führt uns mit seiner brummigen Stimme immer weiter hinein in das Gewirr von Handlungssträngen. Doch sorgt er auch dafür, dass sich der Hörer nicht darin verfängt. Immer wieder reißt er uns durch kunstvolle sprachliche Extravaganzen aus dem Labyrinth der erzählerischen Unterbrechungen und bedeutet so dem Hörer: "Achtung - Abschweifung beendet - ab hier beginnt die nächste Umleitung".

Zu keiner Zeit läuft der Hörer Gefahr, sich in einer Sackgasse wiederzufinden, aus der es keine Möglichkeit des Entkommens gibt - es sei denn, man "blättert" in der Trackliste zurück. Die beim Wechsel gesetzten Akzente Rowohlts sind so unaufdringlich wie eindeutig. Es gibt keinerlei Störung, unnötige Kunstpausen oder Tonlagenwechsel. Und doch weiß man, dass nun eine Haarnadelkurve oder eine schwierige Schikane kommt - aber auch, dass man sich keine Sorgen um die Meisterung des Hindernisses machen muss, da uns seine Stimme sicher durch alle Wendungen des Romans führt. Es gibt keinen Zweifel: dieses Hörbuch dürfte "Hörbuch des Jahres 2006" werden, in der Kategorie "Bester männlicher Sprecher".

Eine beispielhafte Ausstattung

Selten gehe ich auf die Ausstattung eines Hörbuches ein. Doch hier ist dies angebracht. Zunächst sei einmal die großzügig dimensionierte, aus stabiler Pappe bestehende Box, in dem die CD-Hüllen untergebracht sind, erwähnt. Doch bleibt es nicht allein bei hervorragend gefertigtem und designtem Äußerem. Auch die CD-Hüllen können sich sehen lassen. Der Roman wurde in neun Büchern geschrieben und jede CD-Hülle beherbergt ein Buch. Das Frontispiz jeder Hülle ist mit einer anderen Illustration versehen; sofern weniger als drei CDs enthalten sind, befindet sich auch im Innenteil noch ein Bild etc.; in allen neun findet man ein Foto von Harry Rowohlt bei den Aufnahmen des Hörbuches sowie auf der Rückseite eine ausführliche Trackliste jeder enthaltenen CD. Doch der Höhepunkt ist das fast 50-seitige, beiliegende Booklet. Hier erfährt der interessierte Hörer alles Wissenswerte über Werk und Autor. Nicht nur die sprecherische Leistung sondern auch die Ausstattung und Optik des Hörbuches ragen weit über das Niveau vergleichbarer Veröffentlichungen von Werken der Weltliteratur hinaus, zumal es sich auch noch um eine ungekürzte Lesung handelt.


Titelbild

Laurence Sterne / Harry Rowohlt: Leben und Ansichten von Tristram Shandy Gentleman. 21 CD.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2006.
99,00 EUR.
ISBN-10: 303691174X

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