Schuld und Wissenschaft

Die Geschichte des Nationalsozialismus in zwölf neuen geschichtswissenschaftlichen Werken

Von Wolfgang WippermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Wippermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie beginnen? Auf jeden Fall nicht so: "Die nationalsozialistische Herrschaft ging an keinem Teil der deutschen Gesellschaft vorbei. Selbst eine so einflussreiche und staatsunabhängige Großorganisation wie die weltumspannende katholische Kirche unterwarf sich aus äußerem Zwang, aus Opportunismus und auch aus eigener Überzeugung zumindest teilweise den Loyalitätsanforderungen des Naziregimes. Auch unter den aktiven Mitgliedern der Arbeiterbewegung, die bis 1933 der entschlossenste und stärkste Gegner der Nationalsozialisten war, leistete nach der "Machtergreifung" nur eine Minderheit in irgendeiner Form Widerstand. Die deutschen Unternehmer und Manager waren während des ,Dritten Reiches' keine Ausnahme".

Schuldabwehr

Mit diesen schuldabwehrenden (und den Kirchenkampf und den Arbeiterwiderstand geradezu diffamierenden) Bemerkungen leitet der promovierte Historiker und Lehrbeauftragte an der Universität Bielefeld Chrisopher Kopper seine Studie über "Bankiers unterm Hakenkreuz" ein. Der Titel ist Programm: Die deutschen Bankiers lebten und litten wie andere auch "unterm Hakenkreuz". Es habe keine " organisierte Bankenmacht", sondern eine "wirtschaftliche Ohnmacht der Banken" gegeben. Ihre Gewinne seien "keineswegs spektakulär" angestiegen. "Nutznießer" der "Arisierungen" seien "nicht die Banken, sondern all jene kleinen und großen Einzelhändler, Handwerker, Unternehmer und Immobilienbesitzer" gewesen. "Die Bankiers" hätten sich "an der Formulierung der wirtschaftspolitischen, kriegspolitischen und rassenpolitischen Zielen des Regimes nicht beteiligt." Unter den letzteren hätten sie sogar gelitten. Sei doch die "antijüdische Säuberung der Bankenvorstände nach der nationalsozialistischen ,Machtergreifung' [...] die schwerste und schmerzhafteste Zäsur" gewesen, der "das deutsche Bankenwesen je ausgesetzt war."

Diese, gelinde gesagt, gewöhnungsbedürftige Opfer-These wird mit dem Hinweis darauf begründet, dass "mehr als die Hälfte" der "1000 Privatbanken in Deutschland [...] einen oder mehrere jüdische Eigentümer" gehabt hätten. Dies ist schlicht falsch. Es sei denn, man erklärt - wie dies Kopper tut - auch die Bankiers "jüdischer Herkunft" zu "Juden". Gehörten die armen Bankiers nicht wenigstens zu den "Mitgestaltern der nationalsozialistischen Herrschaft"? Nein, sagt Kopper. Diese falsche Ansicht habe allenfalls im "unternehmenskritischen Meinungsklima der 70er und frühen 80er Jahre zahlreiche Anhänger" gefunden. Jetzt sei das alles durch "gründliche, empirisch gesättigte wissenschaftliche Studien" korrigiert und als "Vorurteile und Fehlurteile" nachgewiesen worden.

Wirklich? Wie war es denn mit der größten und von der Deutschen Bank finanzierten Investition der IG Farben in einem kleinen Ort namens Auschwitz-Monowitz? Kopper meint, dass der "Aufsichtsrat" der IG Farben auf seinen "sporadischen Sitzungen nicht über den Bau des Bunawerkes Auschwitz" beraten habe. Dies sei "sicher". Über die "Verbrechen in deutschen Konzentrationslagern" sollen die Herren Aufsichtsräte auch nichts gewusst haben. Das Aufsichtsratsmitglied Hermann Josef Abs habe darauf erst 1944 " von einem ausländischen Kollegen Hinweise" erhalten- und dann darüber geschwiegen. Ob aus "kollektivem Scham über das unsagbare Verbrechen des Mordes an sechs Millionen Juden" lässt Kopper offen.

Schuldbekenntnis

So schuldabwehrend sollte man in der Geschichtswissenschaft wirklich nicht mit dem Nationalsozialismus umgehen. Holt uns doch unsere Geschichte und unsere Schuld immer wieder ein. Diese Erfahrung mussten Ende der 1990er-Jahre auch die Kirchen machen. Als sie während der Debatte über die Entschädigung der Zwangsarbeiter auf die Schuld der anderen in Wirtschaft und Politik hinwiesen, mussten sie überrascht feststellen, dass sie auch nicht frei von Schuld waren, weil sie ebenfalls viele Zwangsarbeiter beschäftigt und/oder ausgebeutet hatten. Warum war dies so und hatten sich die Kirchen damit auch "schuldig" gemacht?

Diese Fragen werden von dem Marburger Kirchenhistoriker Jochen-Christoph Kaiser in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband über "Zwangsarbeit in Diakonie und Kirche 1939-1945" aufgegriffen und offen, ehrlich und wirklich wissenschaftlich diskutiert. Kaiser weist mit Recht darauf hin, dass der so genannten "Ausländereinsatz" während des Krieges von der Bevölkerung als "normal" angesehen worden und auch danach "lange kein Thema der Geschichtswissenschaft" gewesen sei. Dies hat sich erst Ende der 1980er-Jahre mit und durch die bahnbrechende Arbeit von Ulrich Herbert geändert. Inzwischen liegt eine kaum noch überschaubare Menge an Literatur zum Thema vor, deren Ergebnisse in dem Sammelband von Hans-Walter Schmuhl ganz vorzüglich zusammengefasst werden.

Die Verspätung der allgemeinen erklärt aber die der kirchlichen Zeitgeschichte nur zum Teil. Warum haben sich die Kirchenhistoriker nicht schon früher mit dem Thema Zwangsarbeit in der Kirche beschäftigt? Schließlich kann die NS-Zeit als die Epoche gelten, die von der Kirchenhistorikern (von den allgemeinen sowieso) am intensivsten aufgearbeitet worden ist. Doch dies war es gerade: Man suchte etwas anderes - zunächst den "Widerstand", dann zumindest den "Kampf" von zumindest Teilen der Kirche(n) gegen den Nationalsozialismus oder einzelne seiner Repräsentanten. Dass beide - die angeblich widerständige Kirche und der angeblich kirchenfeindliche Staat - zumindest während des Krieges auch kooperiert haben, konnte und wollte man sich einfach nicht vorstellen. Und die Kooperation bei der Zwangsarbeiterfrage war für beide Seiten vorteilhaft. Sowohl für die unter Personalmangel leidende Kirche wie für den Staat, der wichtige Aufgaben innerhalb der medizinischen Versorgung und sozialen Betreuung der Bevölkerung an die Kirchen delegieren konnte. Dies jedenfalls im Krieg und vor allem in der Phase des "totalen Krieges".

Auch wenn dies alles von der "Nachkriegshistoriographie" nicht "bewusst verdeckt worden" und auch wenn die Zahl der "zwangsweise beschäftigten Personen im kirchlichen Umfeld gering" gewesen sein soll, handelt es sich hier keineswegs um eine Fußnote der Geschichte, sondern stellt einen weiteren Beweis dafür dar, dass wir, was die Aufarbeitung und "Bewältigung" der NS-Zeit angeht, eben immer noch mehr am Anfang denn am Ende stehen.

Was hier alles noch zu leisten ist und auch geleistet werden kann, zeigt in ebenso beispielhafter wie vorbildlicher Hinsicht der vorliegende Sammelband über Zwangsarbeit innerhalb von sieben der insgesamt 24 evangelischen Landeskirchen.

Wirklich alle Beiträge sind ausgezeichnet: quellengesättigt, informativ, reflektiert und gut geschrieben. Verfasst wurden sie von meist jüngeren Historikern und Historikerinnen, die ihr Handwerk beherrschen. Dies obwohl (oder vielleicht weil) die meisten von ihnen keine feste Anstellung haben und von diesem so genannten Marburger Projekt nur temporär beschäftigt wurden. Vielleicht werden erst spätere Wissenschaftshistoriker hoffentlich überrascht feststellen, dass die vielleicht wichtigsten Ergebnisse der NS-Forschung von ihnen und eben nicht oder nicht nur von den Geschichtsprofessoren und sonstigen verbeamteten Historikern erzielt wurden. Doch dies nur am Rande.

Leider enthält der Sammelband keine Zusammenfassung, in der ein, wenn auch noch vorläufiges knappes Resumee des Zwangsarbeitereinsatzes innerhalb der Kirche(n) gezogen wird. Die wichtigsten Ergebnisse muss man etwas mühselig aus dem zweiten Teil des schon erwähnten und gelobten Aufsatzes von Hans-Walter Schmuh über "Zwangsarbeit in Diakonie und Kirche" ziehen: Die Kirchen haben sich eher zögerlich und aus vornehmlich ökonomischen beziehungsweise "arbeitsmarktpolitischen" Gründen am Zwangsarbeitereinsatz beteiligt und insgesamt und reichsweit etwa 15.000 Zwangsarbeiter beschäftigt. Damit entsprach der Ausländeranteil innerhalb der Belegschaft der kirchlichen und diakonischen Einrichtungen in etwa dem in den vergleichbaren sonstigen Wirtschaftsbereichen wie der Volks- und Gesundheitspflege und den häuslichen Diensten. Die Lage der Zwangsarbeiter selber war "in den meisten Fällen erträglich". Dies aber nur vergleichsweise und weil sie vornehmlich in der "Hauswirtschaft, der Land- und Forstwirtschaft, des Handwerks und des Pflegdienstes" eingesetzt waren. Dennoch "herrschte auch in Kirche und Diakonie der mit dem Zwangsarbeitersystem verbundene alltägliche Rassismus". Tatsächliche oder auch nur angeblich " widerspenstige" Zwangsarbeiter wurden hart bestraft oder an die Verfolgungsorgane des NS-Staates übergeben. Teilweise haben sich Einrichtungen der Diakonie auch an den verbrecherischen "Zwangsabtreibungen bei schwangeren Ostarbeiterinnen" beteiligt. Insgesamt ist dies also wirklich ein Grund, über die "Schuld" der Kirche(n) nachzudenken, was der Herausgeber Jochen-Christoph Kaiser in seiner Einleitung auch gedankenreich tut.

Derartige allgemeine Überlegungen über das Verhältnis von Schuld und Wissenschaft fehlen in den meisten anderen neuren Arbeiten über den Nationalsozialismus. Sie sind und wollen rein wissenschaftlich sein. Die meisten der heutigen Historiker finden das gut und richtig. Der Rezensent hingegen nicht! Nicht, dass man sich die berühmte "moralische Betroffenheit" zurück wünsche, die noch in den 1980er-Jahren viele Arbeiten kennzeichnete. Doch so emotionslos wie das heute meist geschieht, muss es auch nicht sein. Vor allem nicht, wenn es um Völkermord geht, wobei die Schuldfrage nicht ausgeklammert werden kann.

Dokumente sprechen lassen

Doch wie soll es dann gehen? Soll man nur die "Dokumente" sprechen lassen, weil ihnen "mehr als den Worten der Historiker, wie brillant sie auch sein mögen" zu trauen ist? Dies meint Boris Celovsky in der "editorischen Anmerkung" zu seiner - hervorragenden - Dokumentensammlung über "Germanisierung und Genozid. Hitlers Endlösung der tschechischen Frage". Ganz oder nur den Dokumenten hat aber auch Celovsky nicht getraut, weshalb er seiner Sammlung einen vierzigseitigen Überblick über "Von der sudetendeutschen Frage zur tschechischen Frage" vorangeschickt hat. Ob er voll und ganz auf dem neuesten Forschungsstand basiert, sei dahingestellt. Sicher ist aber, dass der 1923 geborene und 1948 ins Exil gegangene Celovsky mit seiner bereits 1958 gedruckten Dissertation über "Das Münchener Abkommen von 1938" die Grundlagen für diesen neuesten Forschungsstand gelegt hat.

Auch hier kann man die Schuldfrage nicht ausklammern. Sie ist eindeutig zu beantworten: Vor der Vertreibung der (erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts so genannten) Sudetendeutschen standen "Germanisierung und Genozid" im annektierten Sudetenland und im "Reichsprotektorat Böhmen und Mähren". Man muss und sollte vielleicht auch nicht gleich von der "Endlösung der tschechischen Frage" sprechen, doch rassistisch motiviert und verbrecherisch war die deutsche Besatzungspolitik ohne Zweifel.

Karäer und Krimschaken

Dies war sie auch in den okkupierten Gebieten der Sowjetunion. Mit einem - der Krim - hat sich der jetzige Bibliothekar an der Universitätsbibliothek Osnabrück Norbert Kunz in seiner Dissertation beschäftigt. Dies - natürlich kann man sagen, handelt es sich doch um eine Dissertation - jedoch ganz anders als Celovsky. Ebenso ,natürlich' ist, dass die Dissertation von Kunz (wie in den zeithistorischen üblich) quellengesättigt und anmerkungsgespickt ist. Zu den 240 Seiten Text kommen noch 200 Seiten Anmerkungen sowie das Quellen- und Literaturverzeichnis. Die Darstellung ist nüchtern, um nicht zu sagen in einem knochentrockenen Stil gehalten. Dabei handelt sie vor allem von Völkermord. Doch der "Genozid auf der Krim" wird erst im siebten und vorletzten Kapitel behandelt. In den voran gegangenen geht es um die "nationalsozialistischen Konzeptionen zur Krim" und die bei ihrer Umsetzung zwischen den "Machthabern" ausgefochtenen "Machtkämpfe" sowie natürlich auch um die militärischen Kämpfe mit der sowjetischen Armee und den Partisanen.

Das wichtigste der insgesamt acht Kapitel ist aber das über den "Genozid". Betroffen waren einmal die Juden, die im Zentrum des "rassenideologischen Feindbildes vom einheitlich zu verstehenden jüdischen Bolschewismus" standen. In dieser Hinsicht stimmten Wehrmacht und SS völlig überein. Die von Kunz sonst hervorgehobenen Unterschiede zwischen dem kommandierenden General von Manstein und dem Leiter der Einsatzgruppe D Otto Ohlendorf gab es hier nicht. Wehrmacht und Einsatzgruppe ,arbeiteten' "Hand in Hand", das heißt sie führten die Erfassung, Kennzeichnung, Versklavung und Ermordung gemeinsam und in einem ,arbeitsteiligen' Verfahren durch. Teilweise handelte die Wehrmacht jedoch auch in "Eigenregie".

Dies auf der Krim offensichtlich noch mehr als im sonstigen okkupierten Russland. Dagegen haben sich hier die Einheimischen, insbesondere die Krimtataren, nicht unmittelbar an der Ermordung der Juden beteiligt, wie das in der Ukraine und dem Baltikum häufiger der Fall war. Entgegen späteren sowjetischen Behauptungen waren die Tataren nicht "für die Ermordung von 86.000 Krimbewohnern verantwortlich". Verantwortlich waren allein die Deutschen, die hier ihr mörderisches Handwerk länger und, weil es kaum Fluchtmöglichkeiten gab, auch effektiver ausüben konnten, wobei auch "Gaswagen" eingesetzt wurden. Bei Kunz liest sich das so: "Die ,Bearbeitung' der Krim durch die EG (= Einsatzgruppe) erfolgte dadurch bei nur geringen Fluchtmöglichkeiten von der Halbinsel besonders gründlich". Solche Sätze sollte man meiden. Doch vielleicht ist dies eine Art Abwehrreaktion auf die detailliert beschriebenen Mordaktionen durch Erschießen, Vergasen oder Ertränken.

Der Genozid an den Juden hatte auf der Krim noch in einer anderen Beziehung einen besonderen Charakter. Wurden doch neben den sonstigen aschkenasischen Juden auch noch zwei, ja, wie Kunz als erster festgestellt hat, sogar drei weitere als jüdisch angesehene Gruppen in die Vernichtung einbezogen. Einmal Juden, die schon im zweiten Jahrhundert vor Christus auf die Krim eingewandert waren und sich hier später im Hinblick auf Sprache und Kultur, aber nicht Religion an die Tataren angepasst hatten. Sie wurden Krimschaken genannt und sind samt und sonders ermordet worden. Dagegen gab es bei der Frage der "rassischen" Einstufung der so genannten Karäer unter den Mördern Meinungsverschiedenheiten, die auch nicht von der um Rat gefragten "Reichsstelle für Sippenforschung" in Berlin gelöst wurden. Bei den Karäern handelte es sich um Angehörige einer im 8. Jahrhundert in Babylon entstandenen jüdischen Sekte, die sich im 13. und 14. Jahrhundert ebenfalls auf der Krim niedergelassen hatten. Sie waren schon in der Zarenzeit den Russen gleichgestellt worden und hatten im russischen Bürgerkrieg auf der Seite der Weißen gegen die Bolschewiki gekämpft. Daher und weil sie damit in keiner Weise dem Stereotyp von den "jüdischen Bolschewisten" entsprachen, waren sie von der Berliner "Reichsstelle für Sippenforschung" nicht als "jüdisch" eingestuft worden, was jedoch von anderen "Rasse"- Experten bestritten wurde. Doch während man sich in Berlin über die "Rassen"- Zugehörigkeit der Karäer noch stritt, wurden viele von ihnen auf der Krim schon ermordet. Das gleiche Schicksal traf auch die sonst nirgendwo (auch in der "Enzyklopädie des Holocaust" nicht) erwähnten so genannten "Bergjuden", die kurz vor dem deutschen Überfall von den Sowjets vom Kaukasus auf die Krim deportiert worden waren. Während ihre Verwandten und Glaubensgenossen im Kaukasus von den deutschen Behörden verschont wurden, weil man in ihnen Angehörige des kaukasischen Volkes der Taten sehen wollte, sind die Bergjuden auf der Krim alle ermordet worden. Nur eine Fußnote? Genozide sind und dürfen das nicht sein.

Keine bloße Fußnote, sondern grausame Realität ist auch der Völkermord an den Sinti und Roma, der in ihrer Sprache, dem Romanes "Porrajmos" (= das Verschlungene) genannt wird. Er ist zum Gegenstand einer Kontroverse geworden, wobei es primär um die Frage geht, ob die Roma wie die Juden und aus vergleichbaren rassistischen Gründen ermordet worden sind. Wie war es auf der Krim, wo relativ viele assimilierte und sesshafte Roma lebten? Aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Quellen gelangt Kunz zu dem Schluss, dass die Roma wie die Juden ermordet worden seien, was auch der Hauptverantwortliche Ohlendorf noch bei seinen Verhören durch alliierte Ermittler auch bereitwillig eingeräumt hat. Doch dann revidiert Kunz seine eigene und - wie gesagt - durch das Studium der Dokumente gemachte Feststellung und meint, dass es doch "gravierende Unterschied im Verlauf des Mordens" gegeben habe. Er begründet dies mit dem Hinweis auf einen Teil der allgemeinen Literatur (vor allem Michael Zimmermann), wonach die Roma (Kunz nennt sie "Zigeuner") in der von den Nationalsozialisten aufgestellten "Hierarchie der Gegnerschaft" einen nachgeordneten Platz eingenommen hätten. Daher sei der Völkermord der Roma auf der Krim "nicht mit derselben Konsequenz beziehungsweise Eile durchgeführt (worden) wie der Mord an den Juden". Macht dies wirklich einen Unterschied aus? Nicht hinnehmbar ist, dass Kunz den Völkermord an den Roma als "Soziozid" bezeichnet. Dies aus zwei Gründen. Einmal, weil es sich bei den Roma um ein Volk und keine soziale (oder gar "asoziale") Gruppe handelt. Zum anderen, weil man mit solchen wissenschaftlichen Begriffsbildungen (vielleicht unfreiwillig) zu einer Leugnung des Genozids an den Roma beiträgt.

Dennoch: trotz dieser Kritik handelt es sich bei der Studie über die "Krim unter deutscher Herrschaft" um eine sehr gute geschichtswissenschaftliche Arbeit, die allerdings ausschließlich die Perspektive der Täter berücksichtigt. Dies ist Kunz bewusst und wird von ihm auch unter anderem mit der (deutschen) Quellenlage begründet. Die russischen Quellen zieht er wenig heran, weil er ihnen aus immer nicht ganz nachvollziehenden Gründen misstraut.

Historiografische Meisterleistung

Dass es auch anders geht zeigt das Buch der jetzt an der Arbeitsstelle Holocaustliteratur in Gießen tätigen Andrea Löw über "Juden im Getto Litzmannstadt". Es handelt sich, um es gleich und vorweg zu sagen, um eine historiografische Meisterleistung. Hat doch Andrea Löw die Mahnung von Historikern des Holocaust wie Saul Friedländer, den Mord an den Juden auch aus der Perspektive der Opfer und mit ihren Quellen zu beschreiben, beherzigt und verwirklicht. Und zwar vielleicht noch besser, als es Saul Friedländer selber getan hat.

Was ungeteilte Bewunderung hervorruft, wird im Klappentext folgendermaßen beschrieben: "Erstmals werden diese Selbstzeugnisse von Juden aus dem Getto Litzmannstadt in deutscher, polnischer und jiddischer Sprache systematisch ausgewertet, um auf dieser Grundlage die Geschichte von Menschen im Getto - und ihre Versuche, das Leben dort zu organisieren, nicht zu resignieren, zu überleben - aus deren Perspektive zu erzählen. So werden aus anonymen Opfern Individuen mit einer je eigenen Geschichte, die versuchten, auf ihr Schicksal aktiv Einfluss zu nehmen."

Normalerweise übertreiben Klappentexte etwas und sollten deshalb besser nicht zitiert werden, doch dieser untertreibt eher. Eine so dichte und eindringliche, quellengesättigte und wissenschaftlich fundierte Beschreibung der Verhältnisse in einem Getto lag bislang nicht vor. Sie ist zudem mehr als nur eine Studie zum Getto vom Lodz, sondern eine Fallstudie zum Holocaust insgesamt, die alle Vergleiche mit allen anderen Arbeiten zum Holocaust aushält und die weitaus meisten von ihnen übertrifft. Sie ist mit Empathie geschrieben, ohne pathetisch sein zu wollen; wertend ohne abwertend zu sein; wissenschaftlich und doch verständlich; nüchtern und doch aufwühlend - dieses Buch muss man lesen. Die 1973 geborene Andrea Löw gehört schon jetzt zu den ganz Großen im Fach. Alle weiteren Arbeiten über den Holocaust und den Nationalsozialismus werden an ihrem Meisterwerk zu messen sein.

Friedliche Sudetendeutsche und widerständige Aristokraten?

Diese besondere, ja ganz außergewöhnliche Qualität haben die Studien von Jörg Osterloh über "Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland" und Christian Rohrer über "Nationalsozialistische Macht in Ostpreußen" nicht. Dabei handelt es sich bei beiden Büchern ebenfalls um sehr gute Dissertationen. Sie sind sogar noch dicker - beide etwa 700 Seiten lang - und wissenschaftlicher als die Studie von Löw, aber längst nicht so eindrucksvoll geschrieben. Und man merkt ihnen an, für wen sie verfasst wurden: In erster Linie für die Gutachter und die sonstigen Mitglieder der Promotionskommission. Andere Leser sollen es offensichtlich schwer haben. Warum? Liegt das nur an dem betont wissenschaftlichen Darstellungsstil und dem allgemeinen wissenschaftlichen "overkill" beziehungsweise der Gelehrsamkeit dieser beiden Studien? Nein, auch an der sich verändernden Zeit und ihren Perspektiven.

In den 1970er- und 1980er-Jahren, als die ersten Regionalstudien zur Geschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung und des Nationalsozialismus generell erschienen, war das alles noch Zeitgeschichte im Sinne der Geschichte der eigenen Zeit. Die in diesem Büchern genannten Täter lebten teilweise noch oder waren zumindest in der Region noch bekannt. Mehr noch: Sie wurden nicht selten auch durch die Benennung von Straßen und dergleichen geehrt, weil sie sich vor und nach 1945 für ihr Land, ihre Region und ihre Stadt verdient gemacht haben sollten. Ihre Opfer dagegen kannte man nicht und wollte sie auch gar nicht kennen. Ihre Spuren waren systematisch verwischt und die Stätten ihres Leidens unkenntlich gemacht worden. Die Historiker waren damals im übertragenen und teilweise selbst im wörtlichen Sinne auch Archäologen, die dort gruben, wo man stand, und unter der verschütteten Vergangenheit die Gegenwart der eben nicht "bewältigten Vergangenheit" vorfanden. Geschichtswissenschaft war damals wirklich eine politische Wissenschaft. Dies alles sind und wollen die heutigen NS-Historiker nicht sein oder haben dies alles anderen überlassen, die sich speziell mit der Geschichts- und Vergangenheitspolitik beschäftigen.

Was Ostpreußen und das Sudetenland angeht, so war die dortige Geschichte des Nationalsozialismus von der von Flucht und Vertreibung überdeckt worden. Dafür sorgte schon die Historiografie und Publizistik der Heimatvertriebenen und der sonstigen "Ostforscher". Hinzu kam die nachträgliche Verklärung von Land und Leuten in der Belletristik. In der Tschechoslowakei sollten nette, friedliche und völlig unschuldige "Sudetendeutsche" gelebt haben, die dann gegen Recht und Völkerrecht vertrieben worden seien. Und in Ostpreußen gab es bekanntlich die von Siegfried Lenz besungene "zärtliche Suleyken" sowie die von Marion Gräfin Dönhoff verklärten hoch kultivierten und überwiegend widerständigen Adligen.

Tatsächlich war jedoch alles ganz anders. Viele Sudetendeutsche waren Rassisten und radikale Vertreter der NS-Ideologie, die in ihrem ebenso antisemitischen wie geldgierigen Tun nur noch von den eingewanderten "Reichsdeutschen" übertroffen wurden. Die von Gräfin Dönhoff so verherrlichten Widerstandskämpfer tauchen in dem Buch von Christian Rohrer nicht auf. (Leider findet man überhaupt nichts zum Widerstand in Ostpreußen.) Die Träger der von Dönhoff in diesem Zusammenhang genannten Namen werden im Text und Register penibel mit ihren SA- und SS-Rängen genannt. Verantwortlich waren eben keineswegs nur die Kochs, sondern auch die Dohnas; nicht nur der Gauleiter, sondern auch seine Mitarbeiter, von denen einige sehr erlauchte Namen trugen. Kurz und in einem Wort: Ostpreußen und das Sudetenland waren mindestens so braun wie andere deutsche Regionen auch. Das wusste man zwar schon oder hatte es zumindest geahnt, doch nun wissen wir es ganz genau.

Natürlich ist dies noch nicht einmal ein reader's digest der dickleibigen Bücher von Osterloh und Rohrer über Ostpreußen und das Sudetenland in der NS-Zeit, und zu dem Thema ließe sich sicherlich noch viel mehr sagen. So arbeitet sich Christian Rohrer unter Einsatz des Übervaters Max Weber (der darf heute nie fehlen) an der in den 1960er Jahren von Hüttenberger und Hans Mommsen erarbeiteten Polykratie-These ab, um sie - nicht ganz überraschend - in Frage zu stellen, weil sie unterstelle, dass Hitler das "Machtzentrum" gebildet habe. Es müsse, schreibt Rohrer, ein "modifiziertes Modell" entwickelt werden. Doch welches? Das wird nicht ganz verständlich: "Ein modifiziertes Modell müsste von der Vorstellung fester Machtblöcke Abschied nehmen und, wie für Ostpreußen demonstriert, die auch unterhalb eines regionalen Hoheitsträgers bestehenden und diesen einschränkenden Dynamiken einkalkulieren. Gleiches gilt andererseits für die Chancen eines Gauleiters. Denn dieser war oft nicht nur Gauleiter, sondern er konnte sich als regionaler Führer jedenfalls informal bis zu einem gewissen Grad unabhängig von Hitler etablieren". Nicht zu verstehen und nicht zu billigen ist dagegen Jörg Osterlohs Resumee seiner ansonsten sorgfältig geschriebenen Untersuchung der Judenverfolgung im "Reichsgau Sudetenland": "Wie im Vexierbild zeichnete sich aber im Schicksal der Juden bereits das spätere Los der Sudentendeutschen ab." Diese Behauptung hält den historischen Tatsachen einfach nicht stand: Die Verfolgung der sudetendeutschen Juden durch ihre sudetendeutschen Landsleute, die im übrigen schon vor der Annexion des so genannten Sudetenlandes begann, hatte nichts mit der späteren Vertreibung der Sudetendeutschen gemein. Sicherlich waren nicht alle Sudetendeutschen wie so viele von ihnen antisemitisch und antislawisch eingestellt, weshalb die meisten sowohl die Juden wie die Tschechen hassten, doch kein einziger sudetendeutscher Jude war deutschfeindlich und hat sich am Eigentum seiner sudetendeutschen Nachbarn vergangen oder sie gar gnadenlos verfolgt. Man muss schon klar sehen, wer Täter und wer Opfer war.

Fachhistoriker haben Konkurrenz bekommen

Die Verfasser von drei kleineren Studien wissen dies, obwohl (oder vielleicht sogar weil) sie keine Fachhistoriker sind, aber durchaus mit fachhistorischen Methoden arbeiten - weshalb sie in diesem Zusammenhang auch wenigstens kurz vorgestellt und gewürdigt werden sollen. Die erste ist von der polnischen Theaterwissenschaftlerin Anna Mieszkowska geschrieben und handelt von der, wie es etwas pathetisch heißt, "Mutter der Holocaust-Kinder". Gemeint ist die heute hochbetagte Polin Irena Sendler, die allein und in Zusammenarbeit mit der polnischen Hilfsorganisation "Zegota" (der übrigens auch der spätere polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewki angehörte) 2.500 jüdische Kinder aus dem Getto Warschau heraus geschmuggelt und bei polnischen Pflegeeltern in Sicherheit gebracht hat. Nicht alle, aber die meisten von ihnen haben überlebt. Irena Sendler wurde wie Oskar Schindler (der übrigens ,nur' halb so viel Juden gerettet hat) von Israel als "Gerechte unter den Völkern" bezeichnet und geehrt. In ihrer eigenen polnischen Heimat ist sie dagegen lange Zeit vergessen und nicht zur Kenntnis genommen worden. Dies hat sich erst in jüngster Zeit geändert, wozu übrigens nicht nur der Untergang des Kommunismus, sondern auch die Jedwabne-Debatte beigetragen hat, in der deutlich geworden ist, dass auch viele Polen Antisemiten waren und sind. Irena Sendler, Wladyslaw Bartoszewski und die übrigen polnischen "Gerechten unter den Völkern" haben heute eine gewisse Alibifunktion.

Dies merkt man auch dem vorliegenden Buch durchaus etwas an. Doch nur etwas. Ansonsten handelt es sich um eine sehr gut geschriebene (auch und vor allem in der deutschen Übersetzung) und ebenso gut komponierte Darstellung. Hat doch die Verfasserin Anna Mieszkowka Irena Sendler so weit wie möglich selber zu Wort kommen lassen und fast so etwas wie eine Autobiografie in Sendlers Namen geschrieben. In die biografische Erzählung sind jedoch auch verschiedene Hinweise auf die Lage der polnischen Juden im allgemeinen, derjenigen im Warschauer Getto im besonderen eingestreut. Anna Mieszkowska zeigt hier sowie in dem ausführlichen Anmerkungsteil, dass sie sich in der Forschung gerade über das Warschauer Getto und den Getto-Aufstand sehr gut auskennt. Diese Kenntnisse vermittelt sie zudem sehr geschickt und ohne aufdringlich zu sein in den biografischen Partien des Buches. Entstanden ist so nicht nur eine Ehrung und Würdigung Irena Sendlers, sondern eine eindrucksvolle Darstellung des Lebens, Leidens und des Widerstandes der Juden im Warschauer Getto. Dem Buch ist daher eine möglichst breite Leserschaft zu wünschen.

Diese wird Markus Krischer vermutlich haben. Wird er doch im Klappentext zur "Gründungsmannschaft des Nachrichtenmagazins ,Focus'" gezählt. Dies macht eigentlich misstrauisch. Doch dieses Misstrauen - nicht gegenüber Krischer, sondern gegenüber dem "Focus" - verfliegt bei der Lektüre des wirklich gut geschriebenen und vorzüglich recherchierten Buches rasch. Es handelt von einem der insgesamt über 120.000 Opfer der "Euthanasieaktion". Genauer um die bei ihrer Ermordung im Jahr 1944 erst 13 Jahre alten Edith Hecht aus München. Ihr Fall wird vor dem Hintergrund der Geschichte des allgemeinen Mordes an den Behinderten dargestellt, als Leitfaden dienen dabei die Biografien der Beteiligten. Neben den Eltern von Edith Hecht, die sich vergeblich gegen die Ermordung ihrer Tochter gewehrt haben, ist dies einmal der Direktor der katholischen Pflegeanstalt Schönbrunn, Pater Joseph Steininger, die es zugelassen hat, dass Edith Hecht von hier aus in die Mordanstalt Eglfing-Haar verbracht wurde. Ferner Max Gaum, der in der NS-Zeit die Fachaufsicht über sämtliche Heil- und Pflegeanstalten des Landes Bayern hatte. Und schließlich zwei Ärzte, die direkt und indirekt an der Ermordung Edith Hechts beteiligt waren. Der eine hieß Josef Limmer, der andere war der spätere Präsident der Bundesärztekammer Hans Joachim Sewering, dem Markus Krischer jedoch nur Mitwissen nachweisen und nicht der direkten Beteiligung überführen kann.

Der Begriff "überführen" stammt zwar aus der Sprache der Kriminalisten und ist und sollte vielleicht auch Historikern fremd sein, doch nicht, wenn sich der Historiker als Kriminalist bezeihungsweise "Detektiv" (Achim Saupe) betätigt. Und dies macht Markus Krischer - wie vor ihm schon andere bedeutende Vertreter des Faches wie etwa Johann Droysen, der in diesem Zusammenhang jedoch die Metapher des "Untersuchungsrichters" verwandte. Der Droysen-Vergleich ist natürlich ein ganz hohes Lob, das Krischer aber verdient hat. Hat er doch den Fachhistorikern gezeigt, wie man es auch und anders machen kann. Das von ihm entwickelte methodische Verfahren, bei dem die Einzelfälle mit der allgemeinen Ebene verwoben werden und der Historiker als Detektiv auftritt, ist beispielhaft. Dass sich Krischer dabei auf Quellen aus 19 Archiven stützt, versteht sich fast schon von selbst.

Viele Fachhistoriker haben Konkurrenz bekommen: Nicht nur von vorzüglichen Journalisten wie Krischer, sondern auch von, wie sie immer noch etwas abschätzig genannt werden, Laienhistorikern. (Vor einigen Jahren wurden sie von einem dem Rezenseneten bekannten Geschichtsprofessor auch als "Barfußhistoriker" apostrophiert.) Beweis und Beispiel ist die Geschichte des "Katharinenhofs im sächsischen Grosshennersdorf während der Zeit des Nationalsozialismus". Verantwortlich zeichnet die "Umweltbibliothek Grosshennersdorf". Dies erinnert an glorreiche Widerstands- und "Wende"- Zeiten in der DDR, in der Themen entdeckt und erstmals behandelt wurden, die von der offiziellen und offiziösen Faschismusforschung der DDR vernachlässigt worden sind. Dazu gehörte auch trotz des bahnbrechenden Werkes des Kirchenhistorikers Kurt Nowak die "Euthanasieaktion".

Die Studie von - man sollte wirklich ihre Namen nennen - Detlef Krell, Karl-Heinz Reiche, Andreas Schönfelder und Jürgen Trogisch - ist eine Fallstudie zum Krankenmord. Sind die Kinder, die im Heim der Inneren Mission der Evangelischen Kirche "Katharinenhof" untergebracht waren, doch in den Jahren 1940 bis 1943 alle in andere so genannte "Kinderfachabteilungen" und in die "Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein" verbracht worden, in der fast alle von ihnen ermordet wurden. Danach diente der "Katharinenhof" als Unterbringungsort von "Volksdeutschen" aus dem Osten und von Elsässern, die sich nicht "germanisieren" lassen wollten. Auch dies wird in diesem kleinen Sammelband mit Quellen aus verschiedenen Archiven und vor allem mit Fotos dokumentiert. Der Dokumentation und nicht einfach nur der Illustration dienen vor allem die Fotos der dann ermordeten Kinder des Katharinenhofs, die eingangs vor schwarzem Hintergrund auf insgesamt 10 Seiten abgebildet sind. Eindrucksvoll und bedrückend: Sie allein zeigen, dass die Autoren verstanden haben, worum es wirklich geht - um das Leid der Opfer und die Schuld der Täter.

Wessen Schuld? Sicher auch die Schuld der Inneren Mission, die die Herausgabe der Kinder des Katharinenhofs nicht verweigert hat und hier nach 1945 wieder "Behindertenarbeit" durchgeführt hat, ohne die Geschichte dieses Orts aufzuarbeiten. Dies geschah erst seit Ende der 1980er-Jahre; und erst 1996 wurde hier eine "Gedenkstele" enthüllt, auf der wiederum nicht die Täter bei Namen genannt werden, sondern ebenso pathetisch wie unverbindlich gemahnt wird: "Dieses Unrecht soll uns mahnen, jedes von Gott gegebene Leben zu achten, zu lieben und zu fördern."

Ein Schuldbekenntnis fehlt auch im Vorwort, das der langjährige Leiter des Katharinenhofs Dr. Jürgen Trogisch beigesteuert hat. Die Innere Mission wird hier noch nicht einmal erwähnt. Statt dessen werden die engagierten Verfasser der Studie ermahnt, die "Regionalgeschichte fortzuschreiben, denn Flucht, Vertreibung und die Ansiedlung der ,Umsiedler', der Heimatvertriebenen, die Zwangskollektivierung und der Alltag unter den Bedingungen der SED-Herrschaft haben neue Ängste geschürt und auch neue Tabus erzeugt." Was hat der "Alltag unter den Bedingungen der SED-Herrschaft" mit dem Mord in einem Heim der Kirche zu tun? - kann man nur verstört fragen. Dieser gute Kirchenmann hat wirklich nicht viel verstanden.

Schuld auch der anderen

Nichts verstanden scheinen auch viele Arabisten und Islamwissenschaftler zu haben. Legen sie doch in ihren Veröffentlichungen ein mehr als anstößiges Verständnis für den Antisemitismus, Fundamentalismus und Nationalismus der Araber im allgemeinen, und der Palästinenser im besonderen an den Tag. Dies ist Das - wenn man will - Nebenprodukt des Buches von Klaus-Michael Mallmann und Martin Cüppers über "Halbmond und Hakenkreuz. Das Dritte Reich, die Araber und Palästina".

Im Kern handelt es jedoch von der Aufstellung einer Einsatzgruppe, die dem Afrikakorps Rommels auf dem Fuße folgen sollte, um nach dem Einmarsch in das damalige Palästina die dortigen Juden zu ermorden. Ob der bis heute noch verehrte Rommel das verhindert hätte, ist mit guten oder bösen Gründen zu bezweifeln. Rommel ist nur deshalb nicht wie seine Kameraden in den Reihen der Heeresgruppen im Osten zum Massenmörder geworden, weil er noch nicht einmal bis Kairo gekommen ist. Völlig unzweifelhaft ist, dass das Morden selbst von den einheimischen Arabern durchgeführt worden wäre, die zu diesem ihren mörderischen Tun bereits von einem Mann angestachelt worden sind, der in der gesamten arabischen Welt mindestens so geachtet war wie Rommel bei uns. Gemeint ist der Großmufti von Jerusalem Amin el-Husseini. Seine Kollaboration mit Hitler und beim Judenmord im Osten, vor allem auf dem Balkan haben die Autoren bereits in einem Aufsatz in einem Sammelband behandelt, der (in literaturkritik.de 7/2006) positiv rezensiert wurde. Mallmann und Cüppers haben diesen Aufsatz zu dem vorliegenden Buch ausgebaut, das die erste "Gesamtstudie" über die Beziehungen zwischen dem "Dritten Reich" und der arabischen Welt sein soll. Dabei stützen sie sich ausschließlich ausschließlich auf deutsche Quellen, arabische wurden nicht - wohl aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse - nicht ausgewertet. Die deutschen Quellen werfen ein erschreckendes Licht auf den radikalen Antisemitismus und religiösen Fanatismus vor allem der Palästinenser. Da es sich bei den Verfassern dieser Dokumente um Deutsche handelte, die fast alle Antisemiten und die meisten darüber hinaus noch Nationalsozialisten waren, ist bei der Interpretation dieser Quellen natürlich einige Vorsicht geboten. Dennoch geht aus ihnen klar und eindeutig hervor, wer die Hauptschuld an den eskalierenden Auseinandersetzungen zwischen Arabern und Juden im damaligen Palästina hatte - eindeutig die arabische Seite. Ihr Nationalismus war schon damals und ist nicht erst heute bei der "Hamas" untrennbar mit einem islamischen Fundamentalismus verbunden. Beides, der Nationalismus wie auch der Fundamentalismus, fand die vollste Zustimmung, ja Bewunderung der deutschen Antisemiten und Nationalsozialisten, die in den Arabern nicht nur politische Bundesgenossen, sondern Brüder im Geiste eines fanatischen und eliminatorischen Antisemitismus sahen. Erstaunlich, dass dies in der NS-Forschung bislang so wenig gesehen und behandelt worden ist. Erschreckend ist dagegen, wie all dies - der Nationalismus, religiöse Fanatismus und vor allem Antisemitismus der Araber - von verschiedenen Arabisten und Islamwissenschaftlern verschwiegen und insgeheim und sogar offen gebilligt worden ist. Die von Mallmann und Cüppers in ihre Darstellung eingestreuten entsprechenden Zitate aus den Werken gerade der führenden deutschen Arabisten und Orientalisten lesen sich wie eine einzige Anklage. Bei allem Verständnis für ihre Nähe zum Gegenstand, wenn die Sympathie für die Sache der Araber im allgemeinen und der Palästinenser im besonderen in mehr oder minder offenen Antisemitismus umschlägt, dann sind wirklich alle Grenzen überschritten. Hier scheint es so etwas wie einen veritablen Wissenschaftsskandal zu geben. Doch dies, nämlich: wie antisemitisch sind unsere Arabisten?, ist ein anderes Thema.

Unseres ist der Nationalsozialismus, und dazu liegt noch ein Sammelband vor, der von "Ungarn und der Holocaust" handelt. Herausgegeben worden ist er von Brigitte Mihok, die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin ist. Ihr Leiter Wolfgang Benz hat einen einleitenden Aufsatz beigesteuert, in dem er sich darüber beklagt, dass es beim Thema Holocaust in Ungarn trotz der Studien von Randolph Braham sowie Götz Aly und Christian Gerlach "noch viele Desiderate" gibt. Doch welche das sind oder sein sollen, sagt er leider nicht. Man kann daher schlecht beurteilen, wo und wie der Forschungsstand in diesem Sammelband von den - meist ungarischen - Historikern erweitert wird.

Aufhorchen lässt der folgende Satz, mit dem Krisztián Ungváry seinen Aufsatz über "Der Getriebene und der Treiber. Das Verhältnis zwischen ungarischer Politik und deutschen Deportationsplänen" beginnt: "Die westliche und die deutsche Holocaust-Forschung neigt dazu, die Ursachen des Holocaust aus deutscher Perspektive zu erklären. Dabei wird den Motiven der Verbündeten wenig Aufmerksamkeit gewidmet und die kumulative Wirkung dieser Motive auf die deutschen Entscheidungsträger oft außer Acht gelassen." Was Ungarn anbetrifft, so kommt Ungváry zu dem Ergebnis, dass der "ungarische Staat im Vollzug antisemitischer Maßnahmen sogar noch konsequenter und radikaler vorging als das Dritte Reich".

Bei den Roma war es, folgen wir den Thesen László Karsais, offensichtlich umgekehrt. Die Ungarn, einschließlich der ungarischen Faschisten, hätten wenig Interesse an der "Zigeunerfrage" gezeigt. Die Verfolgung und Ermordung der ungarischen Roma habe später als die der Juden begonnen, sei nicht so konsequent durchgeführt worden und habe sich im wesentlichen auf West-Transdanubien beschränkt. Allerdings warnt auch Karsai vor einer Relativierung oder gar Leugnung des "Völkermords an den ungarischen Roma". Sie seien zu "Opfern derselben genozidalen, rassistischen Politik, die für den Massenmord an den Juden verantwortlich war", geworden.

Die scharfe und vielleicht auch überscharfe Kritik an der ungarischen Schuld am Holocaust, die auch in anderen Beiträgen zu finden ist, wird verständlich, wenn man weiß, dass auch noch in der heutigen ungarischen Öffentlichkeit "der Holocaust nicht als Teil der ungarischen Geschichte aufgefasst wird". Zu diesem Ergebnis ist jedenfalls Brigitte Mihok in ihrem Aufsatz über "Erinnerungsüberlagerungen oder [den] lange[n] Schatten der Geschichtsverzerrung" in Ungarn gelangt. Zu dieser "Geschichtsverzerrung" trage vor allem das 2002 eröffnete "Haus des Terrors" in Budapest bei, in dem fast jegliche ungarische Verantwortlichkeit für den Holocaust "ausgeblendet" werde. Statt dessen wird hier die Gleichartigkeit beider - der faschistischen wie der kommunistischen - "Diktaturen" betont, die zudem, wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán in seiner Eröffnungsanspruche betonte, "mit Hilfe fremder Armeen errichtet" worden seien.

Auch in Ungarn scheint Geschichte nicht das zu sein, was geschehen ist, sondern das, was Geschichtspolitiker aus ihr machen. In Deutschland hat das dazu geführt, dass dieser Geschichts- bzw. Vergangenheitspolitk besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. Man kann schon fast von einer eigenen Wissenschaftssparte reden, die sich neben der eigentlichen historischen NS-Forschung etabliert hat.

Versuch eines Fazits

Ist es möglich, ein allgemeines Fazit zu ziehen und von den hier besprochenen zwölf geschichtswissenschaftlichen Werken über die Geschichte des Nationalsozialismus auf den allgemeinen Stand der Nationalsozialismusforschung zu schließen? Natürlich nicht, denn die getroffene Auswahl ist eher dem zufälligen Zusammentreffen ihres Erscheinens geschuldet. Dennoch lassen sich einige Tendenzen erkennen: Apologetische Studien wie die von Christopher Kopper über die "Bankiers unterm Hakenkreuz" sind oder scheinen seltener geworden zu sein. Meisterwerke wie das von Andrea Löw über "Juden im Getto Litzmannstadt" sind es - natürlich - auch. Doch die übrigen Arbeiten sind ebenfalls gut und zeugen von dem hohen Niveau der heutigen NS-Forschung, die sich in den letzten Jahre mehr und mehr auf den bis dahin sträflich vernachlässigten Holocaust und den sonstigen Rassenmord konzentriert hat.

Zu loben sind nicht nur die fachwissenschaftlichen (insbesondere die geschichtswissenschaftlichen Dissertationen), sondern auch die Arbeiten, die von Nicht-Fachhistorikern, ja selbst von fachhistorischen Laien geschrieben worden sind. Dies war die größte, und zwar positive Überraschung. Im Hinblick auf ihre gute Darstellungsweise und ihre teilweise geradezu innovative Methode können es diese "Fachfremden" mit den promovierten oder gar verbeamteten Fachvertretern sehr gut aufnehmen. Teilweise sind sie sogar besser oder lesen sich zumindest besser. Doch es gibt auch negative Aspekte: Die ansonsten zu lobende und auch bereits gelobte Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der NS-Forschung weist auch eine Kehrseite auf, wenn sie zu professionell und zu wissenschaftlich ist oder sein will. Äußerlich ist dies schon dann zu erkennen, wenn die Anmerkungsverzeichnisse zu wahren Gebirgen werden und die Hälfte und mehr der Seiten der immer dickleibiger werdenden Bücher ausmachen. Wer soll dies alles noch lesen und - viel wichtiger - auch begreifen?

Zumal dies meist in einer bewusst nüchternen Sprache geschieht, in denen Passivformen vorherrschen und nicht enden wollende Schachtelsätze anzutreffen sind. Dabei kommt dann meist das zu kurz, was den Historiker gerade der NS-Zeit vor allem auszeichnen soll - die Empathie mit den Opfern und die Anklage oder zumindest Benennung der Täter. Wenn Opfer wie Täter gewissermaßen hinter und unter den "Institutionen" und "Strukturen" mit ihren "kumulativen Radikalisierungen" und "Implementierungen" des Holocaust verborgen werden, dann möchte man an den Satz von Marx erinnern, wonach "die Menschen ihre Geschichte selber machen". Und es waren Menschen und nicht irgendwelche "Strukturen", die andere Menschen umgebracht haben.

Damit keine Missverständnisse entstehen: Nicht für die Wiederkehr der vielfach mit Recht, aber auch mit Unrecht verspotteten "emotionalen Betroffenheit" soll plädiert werden, doch der vorgetäuschten "Objektivität" im Sinne des alten Historismus und der neuen "coolness" ist ebenfalls nicht zu trauen. Die alte historiografische Frage nach der Möglichkeit der Objektivität ist gerade bei der Geschichte des Nationalsozialismus immer wieder neu zu stellen. Viele der jüngeren Historiker meinen, dies durch die pure Quantität der herangezogenen Quellen und Sekundärliteratur beantworten zu können. Doch bei allem Respekt vor dem Fleiß der Autoren von Büchern, deren Literaturverzeichnisse Dutzende von Seiten ausmachen, und die auf Archivalien beruhen, die man mindestens nach Metern, wenn nicht mehr bemessen kann, wenn daraus keine oder die falschen Schlussfolgerungen gezogen werden, ist alles für die Katz. Noch wichtiger ist die Beklagung der Opfer und die Anklage oder zumindest Benennung der Täter. Es geht innerhalb der Nationalsozialismusforschung auch heute noch um Schuld und Wissenschaft.


Titelbild

Christopher Kopper: Bankiers unterm Hakenkreuz.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
297 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3446403159

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Norbert Kunz: Die Krim unter deutscher Herrschaft 1941-1944. Germanisierungsutopie und Besatzungsrealität.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2005.
432 Seiten, 74,90 EUR.
ISBN-10: 3534188136

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Brigitte Mihok (Hg.): Ungarn und der Holocaust. Kollaboration, Rettung und Trauma.
Metropol Verlag, Berlin 2005.
175 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 393641162X

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Jochen Kaiser: Zwangsarbeit in Diakonie und Kirche 1939-1945.
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2005.
464 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3170183478

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Anna Mieszkowska: Die Mutter der Holocaust-Kinder. Irena Sendler und die geretteten Kinder aus dem Warschauer Ghetto.
Übersetzt aus dem Polnischen von Urszula Usakowska-Wolff und Manfred Wolff.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006.
319 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3421059128

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Boris Celovsky: Germanisierung und Genozid. Hitlers Endlösung der tschechischen Frage. Deutsche Dokumente 1933-1945.
Neisse Verlag, Dresden 2006.
431 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3934038395

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Klaus-Michael Mallmann / Martin Cüppers: Halbmond und Hakenkreuz. Das Dritte Reich, die Araber und Palästina.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2006.
288 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3534197291

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Andrea Löw: Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
584 Seiten, 46,00 EUR.
ISBN-10: 3835300504

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Markus Krischer: Kinderhaus. Leben und Ermordung des Mädchens Edith Hecht.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006.
284 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3421059330

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Kindermaterial. Der Katharinenhof im sächsischen Großhennersdorf während der Zeit des Nationalsozialismus.
Herausgegeben von der Umweltbibliothek Großhennersdorf.
Neisse Verlag, Dresden 2006.
127 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-10: 3934038271

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Jörg Osterloh: Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau. Sudetenland 1938-1945.
Oldenbourg Verlag, München 2006.
721 Seiten, 59,80 EUR.
ISBN-10: 3486579800

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Christian Rohrer: Nationalsozialistische Macht in Ostpreußen.
Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, München 2006.
673 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3899750543

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