Multiple Heterotopie

Stefan Höppners Dissertation über "Die USA als Imaginationsraum in Arno Schmidts Erzählwerk" eröffnet neue Forschungsperspektiven

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kündet sich in der Arno-Schmidt-Forschung eine paradigmatische Wende an? Politische Fokussierungen des Schmidt'schen Œuvres, die lange Zeit als unfruchtbar abgetan wurden, drängen sich jedenfalls von Neuem auf. In der diesjährigen Januar-Ausgabe der Zeitschrift KONKRET etwa ist Friedhelm Rathjen, einer der langjährigen Protagonisten der intertextuellen 'Dechiffrier'-Schule innerhalb der Schmidt-Philologie, auf eines der typischen Probleme gestoßen, vor die einen Schmidts Texte stellen können, wenn man sie aus einer ideologiekritischen Perspektive liest. Rathjen stellt in seiner Untersuchung einer Übersetzung, die Schmidt 1957 von Hassoldt Davis' Kolonialroman "Dorf der Zauberer" anfertigte, die Frage, ob der im selben Jahr entstandene (und von dieser Auftragsarbeit beeinflusste) Roman "Die Gelehrtenrepublik" tatsächlich als "antirassistisch" interpretierbar sei. Rathjen muß dies verneinen: Schmidt schreibe in seine Übersetzung des Kolonialromans von Davis verschärfende Begriffe wie "entartete Kunst" und "Arier" eigenmächtig und ohne Grund hinein, was den Verdacht schürt, Schmidt selbst laboriere immer noch an der rassistischen und nationalsozialistischen Ideologie von vor 1945. Der in dem gleichen Zeitraum entstandene Roman "Die Gelehrtenrepublik" nun lasse beim besten Willen nicht erkennen, dass hier diskriminierende Termini wie "Nigger" in rassismuskritischer Absicht auftauchen würden, folgert Rathjen. Der weiße Protagonist Charles Henry Winer sehe sich vielmehr selbst in der "Opferrolle": "Es ist nicht zu erkennen, dass dieses Selbstverständnis von Schmidt nennenswert problematisiert würde, gar im Rahmen eines kolonialismuskritischen Diskurses", schließt Rathjen seinen Aufsatz.

Eine von der Literaturwissenschaftlerin Monika Albrecht vorgetragene postkoloniale Lesart des modernen utopischen Romans war 2001 noch zu dieser - übrigens für sich genommen durchaus überzeugenden - Deutung gelangt: Dass nun aber im Gegensatz dazu ausgerechnet jemand wie Rathjen - der sich politischer Einordnungen des Schmidt'schen Werks bislang eher dadurch entzog, dass er sich wie der Großteil der Forschung auf die Verifizierung versteckter Zitate in den Texten Schmidts konzentrierte - in Schmidts tendenziöser Übersetzungspraxis auf einen unübersehbaren Hang zu rassistischen Verkürzungen stößt, lässt aufhorchen.

Immer deutlicher wird, dass Arno Schmidt von seinen bisherigen Lesern und Interpreten viel zu sehr beim Wort genommen worden ist, genauer gesagt: demjenigen, auf das der Schriftsteller selbst, das Verständnis seiner Werke nicht zuletzt selbstinszenatorisch lenkend, in seinen Texten zu allererst hindeutete. Schmidts demonstrative intertextuelle Kraftmeierei, seine Behauptung, man müsse - wie er angeblich selbst - ganze Lexika und Großteile der Literaturgeschichte auswendig gelernt haben, um seine Bücher angemessen verstehen zu können, erzeugte bei den ersten Leser- und Forschergenerationen den Eindruck, man habe in Schmidts Büchern vor allem nach versteckten Spuren aus der Weltliteratur zu fahnden, um so etwas wie den "Schlüssel", den Passepartout für ihre Deutung zu finden.

In der aktuellen literaturwissenschaftlichen Forschung zum Werk Schmidts werden die zeitgenössischen Interpreten, die Schmidt selbst gern mit seinen Prosa-Protagonisten identifizierten und seine Nachkriegsromane begeistert als realistische Beschreibung 'ihrer' eigenen Jugend lasen, langsam aber sicher von nachgeborenen Philologinnen und Philologen abgelöst, die Schmidts Literatur meist über universitäre Seminare kennengelernt haben und seinem Werk mit größerer emotionaler Distanz begegnen. Germanisten wie Stefan Voigt oder auch Gregor Strick begannen bereits in den 1990er-Jahren, den Kreuzworträtsel-Gestus des 'Dechiffrierens' Schmidt'scher Texte mit fachlichen Argumenten zu kritisieren. Voigts Dissertation "In der Auflösung begriffen. Erkenntnismodelle in Arno Schmidts Spätwerk" (1999) war in dieser Hinsicht eine der wichtigsten Arbeiten der letzten Jahre.

Immer deutlicher wurde mit solchen Fortschritten aber auch, dass eine wirkliche zeithistorische und literaturgeschichtliche Perspektivierung des Schmidt'schen Œuvres, also eine genauere Verortung innerhalb der ästhetischen und politischen Diskurse der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, noch überhaupt nicht geleistet worden war: Man hatte, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, im Großen und Ganzen erst einmal dreißig Jahre lang literarische Anspielungen dechiffriert, anstatt sich zu fragen, was für ein Konzept von Autorschaft, was für ein Werk und was für poetologische Prämissen denn jenseits der Behauptungen und Andeutungen des Schriftstellers selbst Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Untersuchung sein könnten.

Dass Schmidt in seiner Zeit gar kein so großer Außenseiter gewesen sein konnte, wie er selbst gerne behauptete und seine Adepten der ersten Stunde auch allzu bereitwillig glaubten, dass auch er zum Beispiel anfällig war für zeitgenössische Rassismen und politische Fehlschlüsse, wird nun seit der Jahrtausendwende in neueren Arbeiten und Forschunsgbeiträgen immer deutlicher. Auch Stefan Höppners im Freiburger Ergon Verlag erschienene Dissertation "Zwischen Utopia und Neuer Welt. Die USA als Imaginationsraum in Arno Schmidts Spätwerk" verspricht einen weiteren wichtigen Schritt in diese Richtung - will der Autor in seiner Arbeit doch nichts Geringeres unternehmen, als Schmidts USA-Bild "in seiner vollen Komplexität" auszuleuchten. "Die Arbeit versteht sich somit als interdisziplinäre Studie im Feld zwischen Kulturgeschichte und Literaturwissenschaft", schreibt Höppner, um Schmidts "Texte einmal als Archive von historischen Inhalten" zu lesen. Der Interpret wählt dazu einen eher von den Postcolonial Studies her kommenden Ansatz, geht aber vor allem von Michel Foucaults Theorem der "Heterotopie" aus, wonach im 'Anderen' stets ein neutrales Gegenüber konstruiert werde, "gegen dessen Horizont man die Identität der eigenen Kultur definieren oder auch in Frage stellen kann".

Auch Schmidts diffuses und widersprüchliches USA-Bild sei in diesem Sinne vor allem als "Konstrukt zum Zweck der Selbstvergewisserung" zu lesen. Und zwar eingedenk der Tatsache, dass solche Konstrukte "nur innerhalb eines bestimmten politischen und gesellschaftlichen Kontextes anerkannt" würden. Schmidts Literatur wird damit von Höppner als Botschaft verstanden, die nur innerhalb der gesellschaftlichen Diskurse ihrer Zeit angemessen gedeutet - und nicht etwa als exzeptionelle genialische Leistung eines misanthropischen Autors verstanden werden kann, der ohne irgendwelche sozialen Verstrickungen schrieb.

Höppners Arbeit wird von der immer wieder neu untermauerten Feststellung durchzogen, dass sich Schmidt für die realen zeitgenössischen Gegebenheiten in den USA nicht im Geringsten interessierte. In seinen Texten werde die USA wahlweise als "naiv" oder "von Grund auf böse" dargestellt; stereotype Sichtweisen auf die "Besatzungsmacht" der deutschen Nachkriegszeit also, die das Werk des Autors kaum von typischen Vorurteilen derjenigen Mitbürger trennt, die er zeitlebens so gerne kritisierte. Und damit sind nicht nur unverbesserliche Nazis gemeint: Dass Schmidts US-Kritik in vielen Punkten mit jener der so genannten Generation der 68er übereinstimmte, die an der amerikanischen Gesellschaft die imperialistischen und militaristischen Züge geißelte, die sie doch zu allererst mit der eigenen deutschen Schuld-Geschichte ihrer Väter verbinden musste, entging dem Schriftsteller Schmidt nach Höppners Beobachtung völlig: "Für die frappierenden Übereinstimmungen zwischen seiner Kritik an der amerikanischen Realpolitik und der seiner jüngeren Zeitgenossen bleibt Schmidt erstaunlicherweise blind", konstatiert er. Schmidts notorische Ablehnung der gerade auch innerhalb der USA als wachsende Opposition gegen herrschende Ideologien agierenden Beat-Generation, von Rock'n'Roll, Bebop, der Bürgerrechtsbewegung und des Hippietums verstellten ihm offensichtlich den Blick auf diese auffällige Verwandtschaft - ja er musste sie ignorieren, wollte er seine eigene Weltsicht nicht in Frage stellen. Hätte eine solche differenzierte Kenntnisnahme neuer gesellschaftlicher Strömungen doch Schmidts "suggestives Bild von den USA als Forsetzung deutscher Diktaturen" relativiert, wie Höppner treffend bemerkt. Zudem hätte der Bargfelder Autor die genannten Gegenkulturen "vielmehr als Teil eines kulturellen Verfalls denn als Antidot zu einer repressiven Politik der amerikanischen Regierung im In- und Ausland" wahrgenommen.

Und damit nicht genug: Schmidt, der sich immer gern als "Aufklärer" bezeichnete, habe die revolutionäre und demokratische US-Amerikanische Staatsutopie ignoriert, obwohl gerade sie einen gegenwärtigen gesellschaftlichen Folgeentwurf derjenigen "großen Mutter" der Französischen Revolution darstellte, die er oft und ahistorisch mit der Figur Napoleons identifizierte und zu loben nicht müde wurde. Stattdessen wird der US-Einfluss auf die nationalsozialistisch geprägte Gesellschaft bei Schmidt "hypertrophiert als Vernichtung Deutschlands und dessen Ersetzung durch eine rein von den USA geprägte Gesellschaft", wie Höppner konstatiert.

"Die Gelehrtenrepublik" als ein zu Teilen in US-amerikanischem Territorium nach einem Atomkrieg angesiedelter Kurzroman greife jedoch in letzter Konsequenz zu dem "bewusst angewandten Stilmittel: Schmidts Texte trennen Bestandteile der eigenen, vom Autor wahrgenommenen Kultur und projizieren sie auf ein fiktionalisiertes Amerika, um einer zeitgenössischen deutschen Leserschaft eine Diskussion über die eigene Gesellschaft zu ermöglichen", lautet Höppners These. Damit werden Schmidts literarische US-Utopien, wie sie auch Romane wie "Kaff auch Mare Crisium" (1960) und "Die Schule der Atheisten" (1972) prägen, in seiner Lesart unter der Hand zu Bestandsaufnahmen der eigenen Gesellschaft: "Der prognostische Aspekt der Literarischen Utopie bleibt in Schmidts Romanen dem diagnostischen klar untergeordnet."

Die Fülle der Einzeluntersuchungen, mit denen Höppner in seiner Studie versucht, diese Grundannahme zu verifizieren, ist in einer Rezension gar nicht angemessen wiederzugeben. Soviel sei jedoch festgehalten: Der Stil seiner Ausführungen ist dem akademischen Jargon angenehm entrückt. Mit großer Nüchternheit und manchmal fast schon übertrieben wirkender Contenance zeigt Höppner, dass er sich in der bisherigen Schmidt-Forschung gut auskennt und Gelungenes von Verschwurbeltem wohl zu trennen weiß, ohne darüber unnötig viele Worte verlieren zu müssen. Mitunter etwas langatmig geraten die allerdings bei dem Thema auch unumgänglichen Ausführungen zum bei Schmidt schon sehr oft untersuchten Motiv der (literarischen) Utopie. Und dass der Autor auch noch ausführlich auf so zerredete und von der Forschung längst dekonstruierte Nebengleise wie Schmidts poetologische "Berechnungen" eingeht, wäre vielleicht nicht unbedingt nötig gewesen. Etwas erstaunt ist man zudem darüber, dass Höppner sein Kapitel über Schmidts politischen und kulturellen "(Anti-)Amerikanismus" nach 1945 ganz ans Ende des Buchs gestellt hat.

So vermisst man zuvor immer wieder deutlichere Worte und Erläuterungen zu rassistischen Motiven, die bei Schmidt auftauchen und mit demThema der Studie in unmittelbarem Zusammenhang stehen: Letztendlich ist Schmidts Amerika-Bild nicht zu trennen von seiner (unfreiwilligen) zeitgenössischen Prägung durch das Weltbild der nationalsozialistischen Gesellschaft. Das wird in Höppners Ausführungen zwar durchaus nahegelegt, aber zunächst kaum explizit ausformuliert. Ob das deutsche Reservat an der Eider, die anachronistische Utopie in der "Schule der Atheisten", wirklich als "geläuterte Version ihrer Vorläuferstaaten" begreifbar ist, wie Höppner meint, sei zum Beispiel dahingestellt: Dass dort die Öfen "Eichmann" heißen und die Christen gesetzlich genauso schikaniert werden wie die Juden nach 1933, scheint als Textbefund eher gegen eine solche Einschätzung zu sprechen. Auch dass die "Russen" in "Kaff auch Mare Crisium" alte Menschen "abspritzen", um ihre Körper als materielle Ressource zu 'verwerten', wird von Höppner nicht weiter als Anspielung auf nationalsozialistische Menschenvernichtungspraktiken diskutiert - genausowenig, wie er die an den Antislawismus im "Dritten Reich" erinnernden Stereotypen in Schmidts frühem Drama "Massenbach" (1949) so deutlich kritisiert, wie man es im Rahmen seines Themas hätte erwarten müssen.

Umso bemerkenswerter erscheinen viele der Ideen, die Höppner im letzten Drittel seiner Arbeit entwickelt, während er Schmidts James-Fenimore-Cooper- und Karl-May-Rezeption untersucht. Nicht ohne in einer Fußnote zu erwähnen, dass Adolf Hitlers Lieblingsfigur im Werk Mays Winnetou gewesen sei, macht er dort darauf aufmerksam, dass Schmidt in der "Gelehrtenrepublik" und in der "Schule der Atheisten" letztlich nichts anderes als das Selbstbild der Deutschen als Indianer ausfantasiert habe. Nicht von ungefähr werde die deutsche Enklave in der "Schule" als "Reservat" bezeichnet: "Die agrarische Lebensform der Eider-Anwohner ist ja nicht freiwillig gewählt", erinnert Höppner. "Sie befinden sich - wie viele Bewohner der Indianerreservate - im Status des materiellen Mangels und einer völligen Abhängigkeit von den USA. Auch hier werden die Deutschen in die potentielle Opferrolle der Indianer projiziert".

In diesem Sinne liest der Interpret auch die Geschichte der Zentauren im wüsten US-"Hominidenstreifen" der "Gelehrtenrepublik" nicht wie Monika Albrecht als eine kritische Allegorie auf die Kolonisation Amerikas, sondern als eine solche auf die angebliche Kolonisation Deutschlands und Europas durch die USA. Aus dieser Sicht war Schmidts Literatur in seiner Zeit in der Tat "keineswegs originell": Ähnlich wie viele andere Autoren seiner Generation konstruierte er laut Höppner das Bild einer USA, die die "kulturelle Identität Deutschlands beziehungsweise Europas auszulöschen droht". Eine Deutung, die im Übrigen auch zu den eingangs genannten neuesten Erkenntnissen Rathjens zur "Gelehrtenrepublik" passt: "Die amerikanische Herrschaft über die Hominiden meinte in dieser Lesart also nicht nur die westliche Kolonialherrschaft in der Neuen Welt und anderswo und die 'weiße' Dominanz über die indigenen Kulturen in den USA", folgert Höppner, "sondern auch die vermeintliche kulturelle 'Kolonisation' Europas durch die USA nach 1945."

Trotz alledem wendet der Interpret seine Ergebnisse am Ende seiner Studie in eine positive Sicht auf Schmidts "multiples USA-Bild", indem er die literarischen Entwürfe des Autors als "produktive[n] Anachronismus" fasst: "Dieses irreale Amerika ist nicht nur Produkt eines Defizits, das die bisherige Forschung zu Recht ankreidet, sondern auch ein großer Gewinn", schließt der Freiburger Germanist. Schmidt betreibe die "Wiedereinsetzung Amerikas als Imaginationsraum", in dem er an eine Vielzahl zumeist älterer (literarischer) Traditionen von Amerika-Bildern anknüpfe, die ins 19. Jahrhundert und noch weiter zurückwiesen. Gerade weil Schmidt die reale zeitgenössische USA vollkommen ignoriere, funktioniere seine literarische Heterotopie: "Gerade weil das Amerika in Schmidts Zukunftsromanen so unbestimmt und formelhaft auftritt, gerade weil es fast aller historischen Details beraubt ist, eignet es sich, um Probleme der deutschen und europäischen Gesellschaft in verfremdeter Form zu erörtern", lautet Höppners verblüffende Conclusio.

Ob und wie diese Diagnose genau zutreffen könnte, müsste Gegenstand weiterer Studien werden, die an Höppners gelungene Arbeit anknüpfen sollten. Sie hätten vor allem auch der Frage nachzugehen, welche tiefere Bedeutung der Nationalsozialismus und seine gesellschaftlichen Folgeerscheinungen für Schmidts heterotopische Literatur im Einzelnen hatten. Letztendlich ist nämlich auch sein "multiples USA-Bild" nicht ohne diesen zeit- und literarhistorischen Hintergrund verstehbar. Diese Erkenntnis nicht genauer in die eigene Studie und ihre scharfsinnigen Interpretationen mit einbezogen zu haben, ist wohl das Einzige, was man Höppner vorwerfen kann.


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Stefan Höppner: Zwischen Utopia und Neuer Welt. Die USA als Imaginationsraum in Arno Schmidts Erzählwerk.
Ergon Verlag, Würzburg 2005.
409 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3899134478

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