In zwei Welten

Ayaan Hirsi Ali berichtet von ihrem Lebensweg in die Freiheit

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Gespräch über Bäume sei in Zeiten wie den seinen "fast schon ein Verbrechen", denn es schließe "ein Schweigen über so viele Untaten" ein, klagt Bertold Brecht in dem Gedicht "An die Nachgeborenen". Ayaan Hirsi Ali, scharfzüngige und klarsichtige Islamkritikerin und eine der wenigen, denen es gelang, sich von einer gläubigen Muslima zur Atheistin zu emanzipieren, sieht das für ihre Zeit nicht anders und konstatiert in ihrer Autobiografie, dass manches gesagt werden müsse, zumal in Zeiten, "in denen Schweigen einen zum Komplizen des Unrechts macht".

Auf die Idee, Hirsi Ali der schweigenden Mittäterschaft am im Namen des Islams begangenen Unrecht zu beschuldigen, dürfte allerdings schwerlich jemand kommen, ist sie doch auch hierzulande spätestens seit ihrem Buch "Ich klage an" (siehe literaturkritik.de /2005) und ihrem zusammen mit dem von einem islamischen Fanatiker ermordeten Theo van Gogh gedrehten Film "Submission I" als eine der Stimmen bekannt, die sich besonders lautstark gegen das Unrecht erheben, das - zumal gegenüber Frauen - in islamisch-traditionellen Kulturen und Gesellschaften an der Tagesordnung ist.

Ein Unrecht, das Hirsi Ali selbst in Form von Genitalverstümmelung und versuchter Zwangsverheiratung erfahren musste. War sie während ersterer noch zu jung, um sich zu wehren oder um das Unrecht überhaupt als solches zu erkennen, so entzog sie sich der drohenden Zwangsverheiratung durch Flucht. Doch nicht in ihrer "Eigenschaft als Opfer" patriarchalisch-islamischer und vorislamischer Traditionen erhebt Hirsi Ali ihre Stimme. Vielmehr möchte sie ihre Argumentation gegen sexistische Anschauung und Praktiken islamisch-patriarchaler (Sub-)Kulturen "aufgrund ihrer Schlüssigkeit" beurteilt wissen.

Versammelte ihr erstes ins Deutsche übertragene Buch "Ich klage an" Essays, Zeitschriften- und Zeitungsartikel sowie zwei Texte zu "Submission I", so besteht ihre Autobiografie aus zwei, dem Titel des Buches "Mein Leben, meine Freiheit" entsprechenden Teilen, die zwar unterschiedlicher kaum ausfallen könnten, aber doch eine Einheit bilden. Im ersten der beiden gleichumfänglichen Abschnitte, "Meine Kindheit", berichtet Hirsi Ali über ihr Leben bis zu ihrer Flucht vor der Zwangsverheiratung. Auch wenn sie da schon eine dem Jugendalter entwachsene junge Frau war, so weist der Titel dieses Teils, "Meine Kindheit", doch zu Recht darauf hin, dass es erst dieser Schritt war, der sie aus der Unmündigkeit (der Kindheit) heraus in ein selbstbestimmtes und verantwortetes (Erwachsenen-)Leben führte.

"Der Koran verbreitet [...] eine Kultur, die brutal und bigott ist, darauf fixiert, Frauen zu unterdrücken und Kriege zu führen", konstatiert Hirsi Ali. Sie weiß, wovon sie spricht. Nicht zuletzt ge- und vertrieben von Krieg, Bürgerkrieg und den Kämpfen zwischen den Clans verbringt die 1969 geborene Autorin einen Großteil ihrer Jugend in Saudi-Arabien, Äthiopien und Kenia, dabei stets unter der erdrückenden Aufsicht der Trias Familie, Clan und Islam. Ihre Erziehung und ihr schulischer Unterricht sind kaum anders denn als tägliche Gehirnwäsche zu bezeichnen. Dabei erzählt Hirsi Ali ihre Kindheit und ihr Leben nicht aus heutiger Sicht, nicht mit all den Kenntnissen und all dem Wissen, das sie sich inzwischen angeeignet hat, sondern weitgehend aus der beschränkten, von islamischer Schriftgläubigkeit und patriarchaler Kultur deformierten Sicht des Kindes, der Jugendlichen und der jungen Frau, die sie war. So findet sich zu Beginn des Buchs manche befremdliche Formulierung, Bemerkung oder Wertung.

Oft jedoch beschränkt sich Hirsi Ali auf die bloße Schilderung der Geschehnisse. Doch das genügt schon, um die unsägliche Geschlechtersegregation und die damit verbundene Herabwürdigung von Frauen, insbesondere in Saudi-Arabien, deutlich werden zu lassen. Islamische Kulturen, schreibt Hirsi Ali, seien rückständig. Ihre Beschreibungen des somalischen und insbesondere des saudiarabischen Islams lassen diese Bezeichnung nachgerade als eine eklatante Verharmlosung erscheinen. In Saudi-Arabien, schreibt Hirsi Ali, sei "jeder unserer Atemzüge, jeder unserer Schritte von der Vorstellung von Reinheit und Sünde sowie von Angst durchdrungen" gewesen. Denn in diesem Land werde der Islam nicht nur in seiner "reinsten Form" praktiziert, sondern dort liege auch der "Ursprung für einen großen Teil der fundamentalistischen Visionen", da Saudi-Arabien nicht irgendein islamisches Land sei, sondern "die Quelle des Islam und seine Quintessenz". Keine "Wunschvorstellungen von einem friedlichen Islam" dürfe darüber hinwegtäuschen, dass dort und andernorts noch immer Hände abgeschlagen und Frauen gesteinigt und versklavt werden - "alles genauso, wie es der Prophet Mohammed vor 1300 Jahren niederlegte".

Später, als Jugendliche in Kenia, trug Hirsi Ali freiwillig den Hidschab und sympathisierte mit der islamistischen Moslembruderschaft. Doch ihr schon damals wacher und scharfer Verstand ließ bald Fragen, Zweifel, schließlich zunächst nur jugendlichen Trotz und später mutigen Widerstand aufkommen.

Gelegentlich hat man während des Lesens dieses ersten Teils den Eindruck, dass die Autorin ihre Kindheit und Jugend allzu ausführlich und detailliert schildert. Doch das ist ein Irrtum. Denn nur so kann deutlich werden, wie mühselig und beschwerlich ihr Weg in die Freiheit war, wie viele Fragen und Zweifel auf der Strecke lagen, und wie viel Glück eine Frau in Somalia - und wohl auch jedem anderen derart islamisch-patriarchalisch geprägten Land - benötigt, damit sich für sie überhaupt eine Möglichkeit eröffnet, diesen Weg zu schreiten.

Am 24. Juli 1992 setzt der zweite, "Meine Freiheit" betitelte Teil des Buches ein. Er beschränkt sich im Unterschied zum ersten nicht nahezu ausschließlich auf die Schilderung des Erlebten; hinzu treten nun sehr reflektierte Überlegungen etwa zu Islam und Atheismus, zum 11.9.2001, zum Rassismus und vor allem zur kulturell motivierten Gewalt gegen Frauen. An besagtem 24. Juli tat Hirsi Ali vielleicht nicht den letzten, aber sicher den entscheidenden Schritt auf ihrem Weg in die Freiheit. Sie sollte nach Kanada an einen Clanangehörigen verheiratet werden, entfloh ihrem Bewacher jedoch auf einer Zwischenstation in Deutschland. Diese Flucht, erklärt sie zur "Geburt von mir als Person, die selbständige Entscheidungen über ihr Leben treffen kann". Doch floh sie damals nicht etwa "vor dem Islam oder in die Demokratie". Derart "große Ideen" hatte die 22-jährige noch nicht. Der einzige Grund ihrer Flucht war, dass sie "unbedingt sie selbst sein" wollte. Ursprünglich war England ihr Ziel, "weil ich die Sprache beherrschte und die Kultur kannte, Wiesen, Kühe, die Queen, Mayfair und Whitechapel - das kannte ich alles aus Büchern und dem Monopoly-Spiel", wie sie selbstironisch schreibt. Doch nicht nach England, sondern in die Niederlande führte sie ihr Weg, ein Land, von dem sie bei ihrer Ankunft - wie wohl von allen westlichen Ländern - nicht mal gewusst hatte, dass es dort Wahlen gibt. "Was es wohl zu wählen gab? Es funktionierte doch alles tadellos." So kommen die Züge pünktlich, der Müll wird abgeholt und die Straßen haben Namen.

Immer wieder war die heranwachsende Hirsi Ali vor der "Dekadenz des Westens" und vor den "korrupten, unzüchtigen, pervertierten, götzendienerischen, geldgierigen und seelenlosen Ländern Europas" gewarnt worden. Doch nun stellte sie schnell fest, dass in Europa ein "Wertesystem" gilt, das ihr "logischer und ehrlicher" erscheint als dasjenige, das sie bisher kannte. Auch mache es "die Menschen glücklicher [...] als das System, mit dem wir aufgewachsen waren", und das durch eine "weit schlimmere moralische Verderbtheit" geprägt sei als der so sehr verdammte Westen. Denn in den islamischen Ländern herrsche "erbarmungslose Grausamkeit" und Ungleichheit sei Landesrecht. "Dissidenten werden gefoltert. Frauen werden geknechtet, vom Staat und von den Familien, denen der Staat die Macht einräumt, ihr Leben zu beherrschen."

Gewalt gegen Frauen ist zwar nicht ausschließlich ein Problem islamischer Gesellschaften, sondern auch der westlichen und überhaupt der ganzen Welt. Hierzulande ist sie jedoch gesellschaftlich geächtet; dort geachtet. Und eben dies ist ein wesentlicher Grund dafür, dass sie in islamisch geprägten (Sub-)Kulturen sehr viel weiter verbreitet ist als in europäischen. "Als muslimische Frau muß man seinem Ehemann gehorchen. Wenn eine Frau sich ihrem Ehemann verweigert und er sie vergewaltigt, ist sie selbst schuld. Allah sagt, Ehemänner sollen ihre Frauen bei Fehlverhalten schlagen - das steht im Koran. Diese Haltung machte mich wütend. Ich wusste, daß auch viele holländische Frauen misshandelt wurden. Aber ihre Freunde und ihre Familie hießen das nicht gut. Fast niemand gab ihnen die Schuld an der Gewalt oder sagte ihnen, sie sollen sich demütig benehmen."

In Europa angekommen, genoss Hirsi Ali es bald, "Wein zu trinken und Hosen zu tragen". Doch waren diese materiellen Freiheiten "nichts im Vergleich" zu der "ideengeschichtlichen Lektüre", von deren Möglichkeit sie nun reichlich Gebrauch machte. Auch sei das Leben in Europa besser als in der "muslimischen Welt", "weil die Beziehungen zwischen den Menschen besser sind. Und besser sind sie unter anderem deshalb, weil das menschliche Leben hier auf Erden geschätzt wird und der einzelne Freiheiten und Rechte genießt, die vom Staat anerkannt und geschützt werden", erklärt Hirsi Ali, nachdem sie beide Welten kennen gelernt hat, ohne dabei bläuäugig die Fehler und Schwächen westlicher Gesellschaften, ihrer Menschen und Lebensstile zu verkennen oder zu verschweigen.

Ein gutes Dezennium nach ihrer Ankunft in Holland sollte Hirsi Ali nicht nur zu den prominentesten PolitikerInnen des Landes, sondern zu den wichtigsten Persönlichkeiten des Kontinentes zählen, bis sie jüngst in die USA ging, wo sie seither ihre Kenntnisse des Islams und ihren brillanten Intellekt einem Think Tank zur Verfügung stellt. Warum sie die Niederlande und Europa verließ, welche Rolle ihre damals schon längst bekannten unzutreffenden Angaben für ihren Einbürgerungsantrag Anfang der 1990er Jahre und parteipolitische Auseinandersetzungen spielten, legt Hirsi Ali im Epilog ihres Buches ohne jeden Groll, etwa gegen die damalige Integrationsministerin Rita Verdonk, dar.


Titelbild

Ayaan Hirsi Ali: Mein Leben, meine Freiheit. Die Autobiographie.
Piper Verlag, München 2006.
368 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 349204932X

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