"Probsteine" der Aufklärung

Jan Philipp Reemtsma erkundet in "Lessing in Hamburg" die Ursprünge einer aufgeklärten Lebenspraxis

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es mag für einen klugen Kopf einen besonderen Reiz darstellen, ein unscheinbar anmutendes Thema in Form einer beiläufig anmutenden Plauderei aufzugreifen und dieses ebenso stilbewusst wie kurzweilig abzuhandeln. In Ton und Duktus eher an einen Vortrag erinnernd, wird schließlich daraus eine ,kleine Schrift', in der sich auf wenigen Seiten eine unkonventionell-arrangierte Gedankenfülle entfaltet, die dem Leser Einsichten abseits der ,großen Studie' zu verschaffen vermag. Oft sind es Rhetoriker, die diese Kunst beherrschen. Auf Walter Jens sei verwiesen, an den in Jan Phillipp Reemtsmas ,kleiner Schrift' über "Lessing in Hamburg" nicht nur stilistisch einiges erinnert. Beide verbindet das Interesse an dem Aufklärer Lessing und jene persönliche Hamburg-Bezogenheit, die Voraussetzung ist für den Erhalt des Lessing-Preises der Freien Hansestadt Hamburg - Jens erhielt ihn 1968, Reemtsma 1997.

Nur vier Jahre, 1776 bis 1780, verbrachte Lessing in Hamburg. Er kam mit einigen Erwartungen aus Berlin. In Hamburg war ein "deutsches Nationaltheater" gegründet worden und Lessing sollte dem Unternehmen als Dramaturg und Berater beistehen. Günstige Gelegenheit auch, "meine theatralischen Werke, welche längst auf die letzte Hand gewartet haben, daselbst vollenden und aufführen" zu lassen. Zudem plante Lessing den Erlös aus dem Verkauf seiner Berliner Bibliothek in ein gemeinsames Verlagsunternehmen mit dem Druckereibesitzer Johann Joachim Christoph Bode einzubringen. Reemtsma schildert knapp, wie alle drei Unternehmungen scheiterten. Das Nationaltheater wirtschaftete sich konsequent und äußerst zügig zugrunde. Nach der Eröffnung im April 1767 fand bereits im November 1768 die Schlussvorstellung statt. Kaum Gelegenheit also für Lessing, eigene Stücke zu spielen. Die "Minna von Barnhelm" wurde zwar am 30. September 1767 im Theater am Gänsemarkt uraufgeführt - in Hamburg blieb sie jedoch folgenlos. Erfolge erzielte das Stück anderswo. Auch das ambitionierte Unternehmen eines Selbstverlags missglückte. Vor dem Abgang nach Wolfenbüttel musste Lessing neuerlich seine Bibliothek verkaufen.

Es geht Reemtsma natürlich nicht um die Schilderung dieser Pleiten - wiewohl sie ihm en passant Anlass zu einer kleinen kritisch-engagierten Reflexion über die Bürgerstadt Hamburg und ihr Verhältnis zur Literatur gibt. Denn so unglücklich der vierjährige Aufenthalt Lessings in Hamburg auch verlief, verbindet sich doch seitdem ein wesentliches Kapitel der deutschen Aufklärungs- und Literaturgeschichte mit der Stadt. Den unverdienten Ruhm verdankt sie der "Hamburgischen Dramaturgie" (1767-1769) sowie der Polemik "Briefe antiquarischen Inhalts" (1768-1769).

Die "Hamburgische Dramaturgie", darauf macht auch Reemtsma aufmerksam, ist kein einheitliches Werk. Das "unordentliche Buch" versammelt in zwei Bänden 104 "Stücke" sehr unterschiedlicher Art, die in ihrer ausufernden Gelehrsamkeit bereits den Zeitgenossen einiges an Geduld abverlangte. Lessing wusste um seine zuweilen "schwerfälligen Untersuchungen" und wandte sich mit ironisch-selbstkritischer Geste an seine Leser - wohl wissend, dass seine "Fermenta cognitionis" ("Gärstoffe des Erkennens") auf langfristige Erkenntniswirkung zielten. Und das betrifft weit mehr als den unmittelbaren literaturtheoretischen Kontext. "Die "Hamburgische Dramaturgie" fällt ebenso ins Fach der Theaterliteratur", stellt Reemtsma fest, "wie das der Anthropologie. Lessing stellt eine komplexe Theorie der Emotionen vor [...]." Und gerade hierin liegt für Reemtsma die herausragende Bedeutung, denn es gelingt Lessing, die Theorie der Emotionen in eine Ethik zu überführen: "Und darum ist Lessings Raisonnieren über das Theater die Konstruktion einer Ethik - "Ethik" als Reflexion darüber verstanden, was Moral sei." Damit kommt eine praktische Komponente in das Theoriegebäude der Aufklärung, eine "stete Übung lebenspraktischen Takts". Sie gründet in der "Vorstellung einer auf Empathie gegründeten Moral mit der Einsicht in die Fragilität des Lebens." Dieses Modell der "präventiven Selbstzivilisierung" - und darum geht es Reemtsma - ist eine auf die Einbeziehung solcher ,irrationalen' Kategorien wie Lebensweisheit und -erfahrung in das Konzept der Aufklärung zielende Lebenspraxis, die Voraussetzung eines zivilisierten Zusammenlebens ist. Und die "Hamburgische Dramaturgie" liefert dazu die Theorie.

Eine andere Form der Praxis stellt die Polemik dar. Wie kaum ein zweiter in der deutschen Literaturgeschichte beherrschte Lessing die Kunst der Polemik. "Es gibt", so erläutert Reemtsma, "drei "große" Polemiken: die gegen den Pastor Lange aus dem Jahre 1754, die gegen Klotz aus der Hamburger Zeit, die von 1778 gegen den Hamburger Hauptpastor Goeze." Aufschlussreich führt Reemtsma nun die Bedeutung der Polemik für den Schriftsteller aus und erkundet ihren aufklärerischen Gehalt, der eben darin liegt, dass die Polemik eine Form der Kommunikation aufzeigt, die den Schriftsteller, den "Solitär", wieder ans Gemeinschaftliche bindet: das "universelle Wir" ist aber die "anthropologische Voraussetzung allseitiger Empathie".

Und da ist er dann wieder, der "Probstein der Aufklärung, die eben nie auf das Instrument des Verstandes und die instrumentelle Vernunft reduziert werden kann". Ihn "gelten zu lassen" ist Reemtsmas Anliegen in dieser kleinen Schrift über "Lessing in Hamburg."


Titelbild

Jan Philipp Reemtsma: Lessing in Hamburg 1766-1770.
Verlag C.H.Beck, München 2007.
108 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783406556951

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