Vitae Parallelae
Anna Mitgutsch vereint in ihrem beeindruckenden Roman "Zwei Leben und ein Tag" die Liebesgeschichte mit der Romanbiografie
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Sinnfälligkeit und Folgerichtigkeit eines Lebenslaufes, ob glücklich oder unglücklich, erschließt sich erst vom Ende her. Sophokles' Tragödie von König Ödipus ist mit ihrem berühmten Schlusschor ein eindringliches Beispiel für ein glückliches Leben, das sich am Ende mit einem Tag, einer Erkenntnis, ins Gegenteil wendet und alles Bisherige als Irrtum erscheinen lässt: "Also heißt es prüfend schauen auf den allerletzten Tag! Keinen, der ein Mensch ist, darf man selig preisen, eh er nicht überschritt des Lebens Grenze, nie von Schmerzen heimgesucht".
Auch die Hauptfigur in Anna Mitgutschs neuem Roman, Edith, zieht Bilanz, deren Endgültigkeit durch die Gebrechen des Alters und den nahenden Tod besiegelt und mit der leitmotivisch eingesetzten Erzähl-Formel "vom Ende her betrachtet" unterstrichen wird. Aber es ist nicht die unerwartete Enthüllung eines Geheimnisses wie bei Ödipus, was diese Bilanz negativ ausfallen lässt. In nie abgeschickten Briefen an ihren Ex-Mann Leonard, die gut zwei Drittel des Romans ausmachen, liefert Edith eine stoische Bestandsaufnahme einer zerbrochenen Ehe und gescheiterter Lebensentwürfe, deren Fatalität nicht vom plötzlichen Umfall vom Glück ins Unglück herrührt, sondern bestimmt wurde von einem schmerzhaften und langwierigen Entfremdungs-Prozess, in dem sich die Ehepartner aufgerieben haben, aber auch lange Zeit nicht voneinander lassen konnten.
Um mit Leonard zusammenleben zu können, gibt Edith ihre eigene Karriere auf und folgt ihm nach Seoul und später noch in andere Städte Amerikas, Asiens und Europas, wo er als Bibliothekar arbeitet. Ihr Dasein als moderne 'Arbeitsplatz-Nomaden' resultiert zwar aus dem - auch bei heutigen Bewerbungen entscheidenden - Einstellungskriterium der räumlichen Flexibilität und hat daher ganz praktische Ursachen. Ihr irrlichternder Lebenslauf verweist gleichzeitig aber auch auf das, was Georg Lukács einmal die "transzendentale Obdachlosigkeit" der bürgerlichen Welt genannt hat und was Edith, die selbst Literaturwissenschaftlerin ist, in ihren Briefen immer wieder thematisiert. Diese nach ihrer Rückkehr mit dem gemeinsamen Sohn Gabriel in die österreichische Heimat geschriebenen Briefe sind Dokumente von "Fremdsein und Unbehaustheit", die in ihrer erzählerischen Anlage nicht der Chronologie der Ereignisse folgen, sondern vielmehr Erinnerungsschübe widerspiegeln und das Innenleben ihrer Verfasserin offenlegen: "Jetzt, wo ich, zur Sesshaftigkeit verurteilt, durch die fortschreitende Arthritis immer bewegungsunfähiger werde, zieht meine Erinnerung Kreise über die Länder, die wir bewohnt haben, und bleibt nirgends lange hängen. Ich könnte keine zusammenhängende Chronik daraus machen, mir sind die Ortsnamen entfallen, Städte und Landschaften laufen zu einem impressionistischen Gemälde zusammen, das aus Gassen, Hausfassaden und Straßenecken besteht, der Ansicht einer Stadt von einem entfernten Hügel, Hafenanlagen, Friedhöfe, den Wohnzimmern, in denen wir Gast waren, den Räumen, in denen wir gelebt haben. [...] Wir waren nie verwurzelt gewesen, wir schleppten nur den Ballast angehäufter Kuriosa mit uns herum."
Was die beiden in der Frühzeit ihrer Liebe verbunden und später als Ballast gleichsam aber auch als das Dauerhafteste nach den Brüchen in dieser Beziehung überlebt hat, ist die Begeisterung für das Leben und Werk Herman Melvilles, zu dem beide jahrelang Material für eine Biografie sammelten, die nie vollendet wurde. Es ist ein offensichtlicher Kunstgriff der Autorin - der aber beim Lesen überhaupt nichts an intellektuellem Reiz einbüßt - dass diese Biografie dennoch geschrieben wird, nämlich in den langen Brief-Passagen, in denen Edith die familiären und werkgeschichtlichen Wegmarken eines verkannten, mitunter monomanischen, auf jeden Fall aber faszinierenden Schriftstellers nachzeichnet. "Wir haben in den Jahren, in denen wir zusammenlebten, so oft über Melville gesprochen, als müssten wir uns dabei über uns selber Rechenschaft geben. Wir brauchen manchmal etwas, das ein anderer für uns schon geordnet hat, um unser eigenes Leben zu verstehen. Melville war uns zum Vehikel für etwas geworden, das wir zu verstehen suchten. Was wäre verwerflich daran, sich Trost zu holen von einem Leben, dem man seit langem nachforscht und das einem fast so vertraut geworden ist wie das eigene? Ich jedenfalls habe es nötig, mich ein wenig an der Glut eines fremden Lebens zu wärmen."
Die Parallelen dieser Viten - Melville und seine Frau auf der einen, Edith und Leonard auf der anderen Seite - sind vielfältig, aber nicht aufdringlich, von einer großen literarhistorischen Übersicht geprägt, aber nicht belehrend. Und die Autorin versteht es, die Vorzüge einer Romanbiografie gegenüber einer wissenschaftlichen durch eine ungeheure Imaginations- und Assoziationsgabe poetisch zu nutzen, wie das zuletzt in dieser Gattung dem irischen Romancier Colm Toibin mit seiner Romanbiografie "Porträt des Meisters in mittleren Jahren" (Deutsch 2005) über Henry James gelungen ist.
Freilich kann solch eine Spiegelung von Biografien fiktiver Romanfiguren an zwar 'erdichteten', aber doch historisch fassbaren Personen, wie sie die 1948 in Linz geborene Anna Mitgutsch mit ihrem achten Roman vorgelegt hat, für den Leser angestrengt wirken. Nichts von alledem bei Anna Mitgutsch. Die Erzählstruktur ist komplex, aber nicht kompliziert, und vor allem wird das letztlich dem Roman zugrunde liegende typologische Prinzip von Typus und Antitypus auch nicht überstrapaziert. Die lakonisch erzählten Passagen über Melville sind Gelenkstellen, an denen sich das erzählte Gestern einer historischen Person, Melville, und die erzählte Vergangenheit einer literarischen Figur, Edith, begegnen und berühren und das Gleichnishafte alles Vergänglichen sichtbar machen.
Unter dem entwurzelten Dasein und der aufzehrenden Begeisterung für die Literatur leidet vor allem ihr gemeinsamer Sohn Gabriel, aus dessen Perspektive, der andere Teil des Romans geschildert wird. Exemplarisch für ein ganzes Leben wird die Geschichte eines einzigen Tages erzählt, daher der Titel des Romans. Eine Geschichte über Verletzungen und Missverständnisse eines von seiner Umwelt als Außenseiter abgestempelten jungen Mannes, über die Erinnerungen, die seine Handlungs- und Verhaltensweisen bestimmen und über den sinnlosen Tod, der sich scheinbar aus der Summe dieser Faktoren, aus denen sich ein Leben zusammensetzt, herleiten, aber nie vollständig erklären lassen kann.
Um die Frage, warum aus Gabriel kein normaler Junge geworden ist, sondern ein Außenseiter und hochbegabter Sonderling mit fast autistischen Zügen - ein Thema, das Mitgutsch schon in ihrem Roman "Ausgrenzung" (1989) aufgegriffen hat -, kreisen auch immer wieder die Briefe Ediths an Leonard, ohne dass in pseudo-psychologischen Erklärungsmustern dem Leser eine Ursache aufgedrängt wird. Vielmehr bleibt Gabriel so schemenhaft, doch nicht konturlos und daher interessant wie die Figuren aus Melvilles Romanen. "Wir haben oft über Melvilles Figuren nachgedacht, über diese strahlenden Verweigerer des Lebens mit ihrer Aura von Transzendenz, die sie aus ihrer Zeit heraushebt. Man kann sie nie vollständig entziffern, sie behalten ihr Geheimnis und lassen uns deshalb auch nicht los, so als kämen sie mitten aus unserem Leben, als wären sie Kommentare zu unserer Existenz, ja als wären wir drei Figuren aus seinem Werk."
Das filigrane Netz von Andeutungen, das von solchen dicht geschriebenen Sätzen aus seinen Anfang nimmt, legt sich wie ein leichter Schleier über den Roman, unter dem der Leser bis zum letzten Satz gefangen und von dessen Wortmagie und Suggestionskraft er gleichsam gebannt bleibt, was sich zu einem guten Teil aus der monologischen Erzählanlage erklärt. Denn bezeichnend für den pessimistischen Grundton des Romans ist die Darstellung gestörter Kommunikation zwischen den Figuren, die immer eine Aussprache mit Abwesenden suchen und damit den Sinn einer jeden Kommunikation verfehlen: So wie die Briefe Ediths an Leonard ihren eigentlichen Adressaten nie erreichen, sondern nur uns und Gabriel als Leser haben, bleiben auch die Worte Gabriels zu seiner toten Mutter auf dem Friedhof unerwidert, ohne Antwort, ein ins leere Universum verzweifelt geflüsterter Hilferuf, bevor sein Leben in einem unsinnigen Tod seine Erfüllung findet.
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