100 Jahre Deutsche Texte des Mittelalters (DTM)

Ein Sammelband über "Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion"

Von Daniel KönitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Könitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Anlässe für die Berliner Fachtagung mit dem Titel "Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion" von 1.-3. April 2004 waren vielfältig. Zunächst galt es feierlich den 100. Geburtstag der altgermanistischen Editionsreihe 'Deutsche Texte des Mittelalters' (DTM) und des damit eng verbundenen Handschriftenarchivs der ehemaligen Preußischen Akademie zu feiern. Des Weiteren wurde es für notwendig befunden, sich nach langen 13 Jahren wieder einmal dem Thema "Editionen aus der Handschriftenzeit" zu widmen. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen und Diskussionen, die in den letzten Jahren geführt worden waren, entschied sich die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition die oben erwähnte Fachtagung auszurichten. Der dieses Ereignis dokumentierende Sammelband - herausgegeben von Martin J. Schubert - ist im Niemeyer Verlag erschienen.

Die 21 in dem Band präsentierten Beiträge lassen sich in drei große Schwerpunkte unterteilen. Einleitenden Charakter haben die Vorträge von Karl Stackmann, Karin Schneider, Hans-Jochen Schiewer, Georg Steer und Christian Kiening, die sich alle fünf stark von grundsätzlicher Seite her an das Thema mittelhochdeutsche Texteditionen und Handschriftenüberlieferung annähern. Ob es sich dabei um den nicht unwesentlichen Beitrag handelt, den Paläografie und Kodikologie im interdisziplinären Zusammenhang mit mittelalterlicher Literatur zu leisten im Stande sind (Karin Schneider) oder um die grundsätzliche Klärung und Abgrenzung einzelner zentraler Begriffe wie ,Fassung', ,Bearbeitung', ,Version' und ,Edition' (Hans-Jochen Schiewer) - in jedem Fall erhält der Leser einen von profunden Kennern gegebenen Einblick in die Vielschichtigkeit und Komplexität der mittelhochdeutschen Editionspraxis.

Zwei der für die Altgermanistik wichtigsten Editionsreihen mittelalterlicher Literatur werden von Karl Stackmann beziehungsweise Christian Kiening in ihren Beiträgen gewürdigt. Stackmann lässt bei seiner historischen Nachzeichnung der Anfänge der DTM und seines Gründers Gustav Roethe einige grundsätzliche Aspekte und Probleme einfließen, mit denen sich Herausgeber mittelalterlicher Texte vor 100 Jahren konfrontiert sahen und sich heute immer noch auseinander setzen müssen. Auf der anderen Seite verdeutlicht Christian Kiening die Bedeutung der Altdeutschen Textbibliothek (ATB), die mit ihren einsprachigen Textausgaben sowohl für die Foschung als auch für die akademische Lehre zu einem unverzichtbaren Hilfsmittel geworden ist. Daneben blickt er in seinen Ausführungen auch auf die fast 130-jährige Geschichte der Reihe zurück, die seinerzeit von Hermann Paul ins Leben gerufen und seit kurzem von Kiening selbst herausgegeben wird.

Im zweiten großen Schwerpunkt des Sammelbandes geht es überwiegend um verschiedene Editionsvorhaben einzelner Herausgeber. In insgesamt neun Texten wird sowohl im Stil eines Werkstattberichts als auch in Form von theoretischen Vorüberlegungen über sich bereits in der Vorbereitung befindliche oder geplante Editionsvorhaben berichtet. Diese Einzelstudien verdeutlichen meist in besonderem Maße die Probleme und Entscheidungen, denen sich ein Herausgeber mittelhochdeutscher Texte gegenübersieht. Franz-Josef Holznagel berichtet beispielsweise über das schwierige Unterfangen einer neuen Freidank-Ausgabe, die - so seine bisherigen Vorüberlegungen - neben der Konzentration auf den Textkorpus auch der "komplexen Überieferungslage" Rechnung tragen müsse.

Thomas Bein zeigt in seinem Beitrag "Walther edieren - zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion" unter anderem Perspektiven für künftige Walther-Ausgaben auf, stellt aber auch rückblickend fest, dass "kein mittelalterlicher Dichter [...] derart viele und substantiell unterschiedliche editorische Bemühungen erfahren hat wie Walther". Am Ende favorisiert Bein ein Editionskonzept, das ,hybrid' sein müsse: "digital (vor allem für die Forschung) und papieren (vor allem für die Lehre)" und in dem alle unterschiedlichen Editionsstufen, vom Handschriften-Faksimile bis hin zur Studienausgabe für den akademischen Unterricht, sich zu einem "(Groß-)Projekt" verbinden.

Weitere Ausführungen beispielsweise zum "Liet von Troye" Herborts von Fritzlar (Ricarda Bauschke), die Edition der "Wartburgkriege" (Beate Kellner und Peter Strohschneider) oder bezüglich der Neuedition und Kommentierung der vorreformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele (Klaus Ridder, Martin Przybilski und Martina Schuler) seien hier noch stellvertretend erwähnt.

Im dritten und den Tagungsband abschließenden Schwerpunkt wenden sich die einzelnen Beiträgerinnen und Beiträger den elektronischen Recherchehilfsmitteln und Möglichkeiten zu, die sich in der altgermanistischen Editionspraxis während der letzten Jahre zu unverzichtbaren Begleitern entwickelt haben. Anregungen und moderne Methoden "Zur lexikographischen Erschließung einer Edition durch den Editor" präsentiert Kurt Gärtner, Hinweise zu den Möglichkeiten und zur Benutzung der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank (MHDBDB) liefert Margarete Springeth, und Jürgen Wolf verweist im letzten Beitrag des Tagungsbandes auf das im Internet zugängliche Projekt "Handschriftenarchiv online" der Arbeitsstelle DTM der BBAW, in dessen Rahmen unter anderem die in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts angefertigten fast 20.000 Beschreibungen zu mehr als 18.000 Handschriften sukzessive für die öffentliche Nutzung online zugänglich gemacht werden.

Die Beurteilung des vorliegenden Tagungsbandes fällt durchweg positiv aus. Die Konzeption, Grundsätzliches und verschiedene Einzelfallstudien mit Hinweisen auf mittlerweile unverzichtbare moderne Hilfsmittel zusammenzubringen, ist gelungen und die Ausführungen und Perspektiven der einzelnen Beiträge machen deutlich, dass der Bedarf und das Interesse an einem wissenschaftlichen Diskurs auf dem Gebiet der mittelhochdeutschen Textedition groß zu sein scheint. Der hier vorgestellte Sammelband zeigt beinahe ausnahmslos, wie ergiebig der Austausch über Richtlinien und Innovationen auf dem Gebiet der mittelhochdeutschen Textedition sein kann.

Es bleibt abzuwarten, in welcher Form sich auf der Berliner Fachtagung erarbeitete und formulierte Ergebnisse wie 1. das stete Einfordern von "Solidität [der] philologischen Arbeit", 2. die Öffnung der Edition hin zum Publikum durch Kommentar und Übersetzung und schließlich 3. die Relativierung der Nutzung von elektronischen Medien vom "editorischen Allheilmittel" zur hilfreichen Ergänzung in künftigen Editionen wiederfinden.


Titelbild

Martin J. Schubert (Hg.): Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1.-3. April 2004.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005.
330 Seiten, 112,00 EUR.
ISBN-10: 3484295236

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