Memoiren, Tagebücher und die Stille Post

Christina von Braun schreibt ihre Familiengeschichte anders

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Großeltern und Enkelkinder neigen dazu, sich gegen die Angehörigen der mittleren Generation zu verbünden. Das meint jedenfalls der Königsberger Welt- und Familienweise Immanuel Kant. Nun, man kann ihm glauben oder auch nicht. Empirische Forschungen zu dieser Frage sind weder aus dem 18. noch aus dem 21. Jahrhundert bekannt. Auf die jüngere Familiengeschichte der von Brauns trifft Kants Annahme jedenfalls allenfalls cum grano salis zu. Nein, nicht einmal das. Die in Kreisen der Gender Studies durch die Mitherausgabe eines der Standardwerke dieses interdisziplinären Forschungszweigs (siehe literaturkritik.de 7/2000) bekannte Filmemacherin und Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun zeigt sich in ihrer nun veröffentlichten Familien(auto)biografie zwar ihrer Großmutter Hilde Margis stärker verbunden als ihrer Mutter. Davon, dass sie sich mit jener gegen diese verbündet, kann jedoch keine Rede sein. Und das liegt sicher nicht nur daran, dass sie ihre Großmutter gar nicht mehr kennen gelernt hat, die bereits drei Monate nach der Geburt der Autorin starb. Von diesen beiden Frauen, Großmutter und Mutter der Autorin - sowie später von der Großmutter väterlicherseits Emmy von Braun handelt das Buch vornehmlich.

Doch der Reihe nach. Und dies heißt hier nicht sofort in medias res - also in die Familiengeschichte Christina von Brauns - zu gehen und im Posen des Jahres 1887 zu beginnen, wo Hilde Margis geboren wurde. Es heißt vielmehr, sich zunächst einmal dem Titel des vorliegenden Buches "Stille Post" zuzuwenden und somit den Quellen der Autorin. Es waren nur wenige, die ihr zur Verfügung standen: ein, zwei Tagebücher und ebenso viele Memoiren. Hinzu kommt eine Hand voll Briefe.

Die Memoiren und Tagebücher der Familie "unterscheiden sich auf fast klischeehafte Weise nach geschlechtlichen Mustern", wie von Braun schreibt. Die Frauen haben Tagebücher geführt und die Männer Memoiren geschrieben. Diese sind "aus dem Rückblick verfasst" und "verführen" somit dazu, "die eigene Geschichte mit 'der Geschichte' in Einklang zu bringen", was - so könnte man von Braun ergänzen -, vielleicht gerade der Sinn der Übung ist. Denn da Memoiren im allgemeinen mit dem Ziel der Publikation verfasst werden, wird der Mit- und Nachwelt so die eigene Bedeutung für und in der Geschichte nahegebracht. Tagebücher sind hingegen "aus dem 'Jetzt' geschrieben von dem sie handeln", so dass ihre VerfasserInnen den weiteren Verlauf der eigenen wie der Weltgeschichte noch nicht kennen und somit die täglichen Geschehnisse und Eintragungen nicht sinnvoll oder genauer gesagt Sinn gebend in diese einordnen können.

Tatsächlich konstatiert von Braun, dass die Männer ihrer Familie ihre Lebensläufe dem Verlauf der Geschichte parallelisieren. Christina von Brauns Buch ist hingegen weit von derlei Parallelisierungen entfernt. Gleichwohl verschränken sich in ihm die Familiengeschichte und die deutsche Geschichte der ersten fünfzig Jahre des vergangenen Jahrhunderts, und zwar ohne dass die Lebensgeschichte der Familienangehörigen als bloße "Begleiterscheinungen der politischen Geschichte" erscheinen würden. Dies ist einer der zahlreichen Gründe, die das Werk lesenswert machen. Ein weiterer sind die fiktiven Briefe an Hildegard Margis, welche die Erzählung immer wieder unterbrechen und das Buch nicht unwesentlich bereichern. In ihnen kommentiert die Autorin das soeben berichtete Geschehen, diskutiert mit ihrer Großmutter und stellt Vermutungen darüber an, wie diese wohl darüber denken könnte.

Neben den drei genannten Quellen: Tagebücher, Memoiren und Briefen - die je für sich und alle gemeinsam deutlich machen, "wie unterschiedlich in ein und der selben Familie 'Die Geschichte' erlebt werden kann" -, gibt es aber auch noch eine vierte. Es sind die "Erinnerung an manche Menschen", die sich "in Form von Schweigen oder als Rätsel festschreiben". Eben diese Quelle ist vielleicht am wichtigsten für das Vorhaben der Autorin, "etwas von dem auf[zu]spüren, was nicht in die offizielle Geschichtsschreibung eingegangen ist". Womit wir über die Quellen zum Titel des Buches gelangt wären. Die Stille Post nämlich ist es, die all das transportiert und rettet, "was verschwiegen wird, aber nicht verloren gehen darf". Von Brauns Buch liegt somit "irgendwo zwischen dem historischen Bericht und dem Roman". Denn im Unterschied zu HistorikerInnen, erläutert die Autorin, habe sie zwar nur wenige Dokumente nutzen können, doch habe sie "die Dinge" auch nicht "erfinden" müssen wie VerfasserInnen von Romanen. So erzählt von Braun im Buch "meine Geschichte", also davon, wie die von ihren Angehörigen der beiden vorgängigen Generationen aufgegebene Stille Post bei ihr angekommen ist. Das meint beides: wie der Autorin die Geschichte überliefert wurde und wie sie von ihr verstanden wurde.

Mit dem vorliegenden Buch nimmt sie die Gelegenheit wahr, der ihr zugeflüsterten Stillen (Familien-)Post Gehör verschaffen, den Verdiensten der einen Großmutter, den Tagebuchaufzeichnungen der anderen und den Geheimnissen ihrer Mutter Hilde von Braun. Die Männer der Familie führen in dem Buch hingegen zwar ein nicht eben randständiges Dasein, sind aber doch von geringerem Interesse. Auch und gerade der wohl bekannteste derer von Braun: Wernher.

Nicht nur bei den Familienmitgliedern, deren Geschichte berichtet wird, sondern auch hinsichtlich der erzählten Historie setzt die Autorin einen Schwerpunkt. Er liegt in den Monaten und Jahren vor und nach 1945. Dies heißt allerdings nicht, dass die Zeit davor nicht angemessen gewürdigt oder gar geringschätzig abgehandelt würde. So erzählt die Autorin auch aus der Familiengeschichte während des Kaiserreiches oder der Weimarer Republik und man erfährt etwa, dass von Brauns Großmutter Hildegard Margis ihren Mann im Ersten Weltkrieg verlor und so zur alleinerziehenden Mutter wurde, und sie außerdem in den 1920er-Jahren eine erfolgreiche Geschäftsfrau und Herausgeberin "eine[r] Reihe von Texten zu Frauenfragen" war. Während des Nationalsozialismus half Hildegard Margis wiederholt jüdischen Freunden, so etwa, indem sie deren Waren vor den Plünderungen am 9. November 1938 in Sicherheit brachte, was schon eine gehörige Portion Mut erforderte. Doch wagte sie es später sogar, sich einer Widerstandsgruppen anzuschließen. 1944 wurde sie verhaftet. Nach wenigen Wochen im Gefängnis starb die schon bejahrte Frau. Auch ihr Sohn Hans leistete auf seine Weise Widerstand, indem er Geld und Schmuck von EmigrantInnen, die aus Deutschland zu fliehen versuchten, nach London schmuggelte. Just zu der Zeit, in der ein anderer Onkel der Autorin Raketen konstruierte, "die an demselben Ort Zerstörungen anrichten und viele Menschenleben kosteten". "Mit beiden", bemerkt von Braun nachdenklich, "bin ich gleich eng verwandt". Wem sie näher steht, braucht sie nicht zu sagen.

Mehr als die Hälfte des Buches behandeln die ein, zwei Jahre unmittelbar vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Hierfür gibt es wohl vor allem zwei Gründe, die in einem gewissen Kausalzusammenhang stehen. Zum einen ist die Zeit um 1945 für die Familie die ereignisreichste gewesen und eben darum hat von Brauns Großmutter väterlicherseits, deren Familie nach Kriegsende die Niederschlesische Heimat verlassen musste, genau in diesen Jahren ebenso Tagebuch geführt wie die mit Ehemann und Töchtern im sicheren Vatikanischen Exil lebende Mutter der Autorin Hilde von Braun, so dass die Quellenlage für diesen Zeitraum besonders gut ist.

In den Tagebüchern "spiegeln" sich nicht nur die "'Großen Ereignisse' draußen", sondern auch die "alltäglichen Ereignisse des Familienlebens". In dem Hilde von Brauns klingt zudem eine Liebesaffäre an, deren vollen Tragweite und Tragik das Tagebuch allerdings verschweigt. Erst die Briefe der liebenden Frau machen sie deutlich: Die Mutter der Autorin hatte sich im Vatikan heftig in Hubert Jedin verliebt, einen konservativen Geistlichen, der den baldigen Bruch seines Zölibats vor sich und ihr mit durchsichtigen Hilfskonstruktionen zu rechtfertigen suchte, vor allem aber um seine Karriere besorgt war. Diese rettete er, indem er sich auf recht schäbige Weise aus der Affäre zog. Der leidenden Geliebten empfahl er, mehr zu beten und sich demütiger zu zeigen. Die Ehe der Eltern Christina von Brauns zerbrach beinahe und ihre Mutter wurde nicht zuletzt durch Jedins Verhalten psychisch derart destabilisiert, dass sie sich fortan nur noch mit Medikamenten aufrecht halten konnte.

Besonders interessant und in mehrerer Hinsicht geradezu typisch ist der Vergleich zwischen Emmy von Brauns unveröffentlichtem Tagebuch aus den Jahren 1945-46 und der Darstellung dieser Zeit in den zehn Jahre später veröffentlichten Memoiren ihres Mannes. Geradezu exemplarisch zeigt sich hier die geistige Enteignung von Frauen durch ihre Männer, denn Magnus von Braun bediente sich der Tagebücher seiner Frau nicht nur, indem er schamlos ganze Passagen für seine Publikation in die Ich-Form umschrieb, sondern erlaubte sich auch zahlreiche ideologisch begründete Verfälschungen und Kommentare, die, wie Christina von Braun schreibt, "aus Opfern die 'eigentlichen Täter' machen". Darin zeige sich beispielhaft, kommentiert die Autorin zutreffen, "wie [...] 'Frauengeschichte' immer wieder zum Verschwinden gebracht wird". Während die Memoiren Erfahrungen von Frauen explizit als "unglaubwürdig" einstufen, bringt der Memoirenschreiber "die Notizen und Erinnerungen seiner eigenen Frau zum Verschwinden". Und genau darin - in seinen eigenen Memoiren zu verschwinden - sieht Magnus von Braun "den Sinn" der Erinnerungen seiner Frau. "Nach ihrem Tod im Jahre 1959", berichtet Christina von Braun, "schrieb er einen Nachruf, in dem er Emmys 'Uneigennützigkeit und ihre selbstlos dienende Liebe' hervorhob und diese Eigenschaften als 'echte Weiblichkeit' bezeichnet".

Einer der großen Vorzüge des Buches liegt darin, dass sich die Autorin den ProtagonistInnen ihrer Familiengeschichte gegenüber stets als sehr einfühlsam erweist. Mit einer kleinen Ausnahme vielleicht: Eine langjährige Hausangestellte der Familie im Vatikanischen Exil hatte sich während des Krieges mit einem deutschen Soldaten verlobt, ihn in den Kriegswirren jedoch aus den Augen verloren. Zwei, drei Jahre nach Kriegsende machte sie ihn über einen Suchdienst ausfindig und schrieb ihn voller Freude und Hoffnung an. Er antwortete auch, erklärte aber, dass er inzwischen eine andere geheiratet habe, eine Hausbesitzerin. Dass müsse sie verstehen. Denn da er nach dem Krieg kein Dach über dem Kopf gehabt habe, habe er "keine andere Wahl" gehabt. Nun aber freue er sich, sie wieder gefunden zu haben. Er wolle sich scheiden lassen und sie heiraten. Auf diesen Brief antwortete ihm seine ehemalige Verlobt nicht. Auch nicht auf einen zweiten.

Christina von Braun vermutet nun, sie habe als Katholikin vielleicht keinen geschiedenen Mann heiraten wollen. Wäre es aber nicht vielleicht naheliegender, dass sie nur noch wenig Vertrauen in einen Mann haben konnte, der eine Frau derart ausnutzt, um sie augenblicklich im Stich zu lassen, sobald er sie nicht mehr braucht? Man weiß es nicht. Den Wert des Buches - ja man kann im Falle von Christina von Brauns Familiengeschichte durchaus einmal sagen: seine Bedeutung - und die herausragende Leistung der Autorin in dem von ihr begründeten Genre der (Familien-)Geschichtsschreibung als Stiller Post mindert das nicht im Geringsten.

Die erzählte Geschichte gleicht in manchem derjenigen anderer deutscher Familien während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Doch vieles unterscheidet sie auch von diesen. Beides macht das Buch lesenswert. Mehr noch aber, wie Christina von Braun die Stille Post den Lippen ihrer Familie abgelauscht hat und hier an ein größere Publikum weiterreicht.


Titelbild

Christina von Braun: Stille Post. Eine andere Familiengeschichte.
Propyläen Verlag, Berlin 2007.
416 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783549073148

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