Nachlese

Vor einem Jahr starb Robert Gernhardt

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als die "schlechte Nachricht" kam und blieb, treu und verlässlich wie Freund Hein, der oft besungene, als das Ende bereits abzusehen, aber noch nicht zu sehen war, da dachte er sich den Tod: Welch ein Leben, ein Sterben, ein Schaffen! Das "Gedankenexperiment", schon immer seine Domäne ("Denk dir ein Trüffelschwein, / denk's wieder weg"), begleitete sein Sterben, Gedichte und Erzählungen waren ihm "Sekundanten, / Zeugen des Endens" und Medium, die Welt bis zuletzt zu gestalten.

Zwei Bände sind nunmehr posthum erschienen. Robert Gernhardts Erzählungen sind ein Déjà vu mit guten Bekannten: "Seht ihn an, den Hummer, trinkt er, wird er dummer", rezitiert sich da ein Alter Ego des Dichters, seekrank auf einer Yacht vor Florida liegend, während die "falschen Freunde" seiner spotten: "Auch einen Weißwein?" Er verflucht sich, Sartre zitierend, weil er sich auf den Trip eingelassen hat - "Die Hölle, das sind die anderen, doch in diese Hölle bin ich durch eigene Schuld geraten." Die Erzählung mit "Pferdefuß" (nicht die einzige mit einem solchen) heißt "Versucht vor Florida", weil dem vom "Zweifelteufel" gepackten Protagonisten der "Jeneralvertreter" von Übel erscheint und ihm Papier und Feder zum Teufelspakt reicht.

Die dargestellte Welt der Lyrik wie der Prosa ist bei Gernhardt literarisch präformiert: Mit "Paul und Paula" (Ulrich Plenzdorf) überschreibt er seine Legende von den "Privatterminologien" der Zweisamkeit als den lächerlichen Diminutivformen und Kosenamen, auf die Pärchen gern verfallen und die im Berufsalltag peinlich wirken. Zwischen der Kraft der zwei Herzen und dem demografischen Wandel ist die Erzählung "Walther im Alter" angesiedelt, in der Walther von der Vogelweide auf den "Seniorenberater" Florian Freyer trifft - auch er ein Dichter aus des Meisters Feder. Conrad Ferdinand Meyers berühmte Ballade "Die Füße im Feuer" bildet einen wichtigen Bezugstext für die alttestamentarisch grundierte Erzählung "Mein ist die Rache", in der sich der getriebene Patient auf dem Folterstuhl des Zahnarztes an eine "beklemmende Parallelaktion" erinnert. Der Name Norbert Gamsbart schließlich legt eine weitere Spur in das poetische Werk, denn Gernhardt-Lesern ist er schon oft als Chiffre einer Alter ego- und Künstlerfigur begegnet. Überhaupt gehören die allermeisten Erzählungen des Bandes in den Kontext der Künstlergeschichten, wie sie der Autor 1999 in seinem Band "Der letzte Zeichner" versammelte. Sie sind damit auch als Gedankenexperimente über die Bedingungen von Künstlerschaft interpretierbar. "Denken wir uns Delft", hebt die Erzählung "Die Musikstunde" an, erteilt uns eine Lektion in Sachen Künstler- und Ehealltag - und liefert zugleich die imaginierte Entstehungsgeschichte des gleichnamigen Bildes ...

Das erzählte Bild ist die eine Domäne des Dichters, das wie gemalte Gedicht ("Denk dir einen Waldsee") eine andere. Aber nicht nur die Figuren, auch die Texte, Textsorten und Kontexte kommen uns bekannt vor: Gernhardts autobiografischer Roman "Ich Ich Ich" (1982) scheint hier ebenso auf wie seine Erzählsammlung "Es gibt kein richtiges Leben im valschen" (1987). Formal experimentiert der Autor mit dem fiktiven Dialog ("Die Baum-Schule", "Die Ehe der Mutter Teresa"), auch in Gestalt des Streitgespräches, des Kreuzverhörs ("Der Zudrücker") und der Gerichtsverhandlung ("Bei den Reichen"), dem auserzählten Witz und dem anekdotisch unterfütterten beziehungsweise erweiterten Lexikonartikel am Beispiel des Beaumarchais ("Achtundzwanzig, achtundvierzig, achtundsechzig"), der Künstleranekdote ("Pennellino") und dem erzählten Bild ("Die Musikstunde"). Vor allem in Gesprächen der fiktiven "Männer reiferen Alters", der Herren Anders, Bernstorff und Claudius, wird dabei das Zeitalter besichtigt, dessen Auswirkungen Gernhardt bewusst durchlebt und vielleicht auch durchlitten hat: als Resonanzboden der großen Ideologien und des geteilten Deutschland. Der Dichter, ein "Westler", imaginiert sich als "Opfer der Geschichte", das, "statt deutscher Bäume tiefe Schatten zu durchwandeln", toskanische Hitze ertragen muss - während sich Preußens betuchte Kommunisten (eine Anspielung auf Peter Hacks) in den Besitz schattiger Residenzen gebracht haben und Sommer und Alter im tiefen Schatten erlesener Bilder "durchwandeln". Es ist keine "neidvolle", sondern eine ironische Brechung der Zeitläufte und ihrer großen Sänger, in deren "Entscheidung" sich die wahre Meisterschaft zeigt, sei es im Leben, sei es in der Lyrik.

Der Varianten- und Varietätenreichtum seiner Prosa wird nur von der seiner Lyrik übertroffen: Gedichte vom "blühenden Leben" und "welkenden Sterben" hat der Dichter seinem Krebsleiden abgetrotzt:

BLUT, SCHEISS UND TRÄNEN
Oben blut ich, unten scheiß ich.
Blut und Scheiße treten derart
haltlos mir aus Nase, After,
daß nun auch noch Tränen fließen:

Was verlaßt ihr meinen Körper?
Warum, Scheiße, diese Eile?
War ich, Blut, dir keine Heimstatt?
Weshalb, Träne, dein Gefließe?

Oder seid ihr etwa nichts als Ratten,
die das Schiff, das sie beherbergt,
flugs verlassen, eh der Dampfer
mit dem Rest der Stammbesatzung
absäuft?

Dabei gedenkt Gernhardt derer, die ihm nahe standen und vorangeschritten sind, wie F. K. Waechter ("Nie werd ich den sterbenden Fritz vergessen") und Ruth Gernhardt ("Ein immer fremderer Mensch, / unsere Mutter"). Es sind Abschiedsgedichte, die mit dem eigenen zu frühen Ende hadern, nicht ohne dem Ausklang Komik abzutrotzen:

VOM SCHÖNEN, GUTEN, WAHREN
Das Schöne an Alten Meistern,
sind die vielen jungen Frauen.
Sie kommen in all ihrer Schönheit zuhauf,
um die Bilder der Alten zu schauen.

Das Gute an jungen Frauen,
ist ihr heißes Interesse fürs Alte.
Zumal wer selber altert, erhofft,
daß diese Glut niemals erkalte.

Das wahre Vermächtnis der Alten,
das sind all die jungen Frauen,
die sie als Jünglinge malten und die
nun junge Frauen beschauen.

Diese Alten liebten die Jungen.
Nun lieben die Jungen die Alten.
Ach mög' diese Brück' zwischen Alt und Jung
noch all mein Leben lang halten.

"Standbein" und "Spielbein" heißen die beiden großen Zyklen des nachgelassenen Gedichtbuchs "Später Spagat". "Standbein" erzählt etwa von der Toscana, die - genau wie der Betrachter - schon im Herbst "saftlos" und "farblos", "kummer- und jammervoll" daliegt, während sich das Sterben hinzieht, seines wie ihres. Die Toscana-Gedichte enthalten Vanitas-Verse voll Verzweiflung, Verweigerung und Verzicht. Als "Landschaft meiner Niederlagen" apostrophiert, bietet die Toscana einen Bilderschatz der Begegnungen und Eindrücke und Reminiszenzen: Das lyrische Ich gedenkt all dessen, "was sich ihm in den Weg stellte", der Licht- und Landschaftsmalerei, mittels derer es den Augenblick festzuhalten dachte ("ein Weg ohne Ende"); ferner der Hoffnung, der eigenen Berufung zu leben ("Du bist / auf dem richtigen Wege"), gefolgt von der Einsicht, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein ("kein Weg, eine Sackgasse") - als der Unmöglichkeit nämlich, "das halten zu wollen, / was nur Schein und dann weg ist".

Halb resignativ wirkt das "Krebsfahrerlied", gefolgt von der Paul-Gerhardt-Kontrafaktur ("Geh aus mein Herz und suche Leid"), die in einem ganz eigenen Licht erscheint, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Gernhardt einmal mit Gerhardt verwechselt worden ist, und zwar in Jean-Pierre Lefebvres "Anthologie bilingue de la poésie allemande" (von 1993).

"Krankheit macht hellhörig. / Läßt tiefer blicken", heißt es im "Lob der Krankheit", und hellsichtig auf das Ende sehend sind diese Gedichte allesamt, ihre Befunde lassen keine Zweifel am Zustand des Ich, dessen "Symmetrie" zerstört und zerschnitten wurde wie das Kunstgebilde namens "Frankenstein". Aber auch der alte Spötter ist noch da: Sein Gesang auf Paderborn - eine späte Reprise seines berühmten Metzingen-Gedichts ("Hässliches, du hast so was Verlässliches") - gehört wie "Mir san mir" zu den virtuosen Städtegedichten, die sich von einem Register aus Namen und Wortformen herleiten: "Arme Stadt Paderborn". Andere Gedichte erinnern an anderes im Werk: Das mit konsequent "einsilbigen" Wortformen bestückte "Von viel zu viel" erinnert an Gernhardts Experimente mit Misch- und Reduktionsformen der gesprochenen Sprache ("Indianergedicht"), aber auch an "Viel und leicht" ("Lichte Gedichte"). Das Spiel mit Sprichwörtlichem ("Dem Reinen ist alles rein") erfreut ebenso ("Mit etwas gutem Willen geht / beim Reinen alles rein") wie der lyrische Ertrag, der aus dem Gleichklang des Schreckens gewonnen wird:

VOM WISSEN UMS STERBEN
Der sich das erdachte, war
furchtbar.
Sein Denken ging einzig darauf, daß die Menschheit voll
Furcht war.
Damit sie sich in größtmöglicher Zahl fürchtete, wollte er sie
fruchtbar.
Worauf all der Menschen nie endenwollende Gottesfurcht die
Frucht war.

Das Spiel mit den Möglichkeiten des Gleichklang, mit ein-, zwei- und dreisilbigen Endreimen, das Schwelgen in Minimalpaaren, die in angereicherte Reime münden, führt zu einem Kleinzyklus höchst ungewöhnlicher Erzählgedichte ("Ich und er"), die schweren Träumen ähnlich surreale Welten stiften. Dabei wird der großen Meister gedacht, der Kollegen Ringelnatz, Hacks und Rühmkorf, und eine Zeit resümiert, die Gernhardt für die Dichtung erst erschlossen hat.


Titelbild

Robert Gernhardt: Später Spagat. Gedichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
120 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3100255097

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Robert Gernhardt: Denken wir uns. Erzählungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
288 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783100255105

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