Das Medium am Ende der Theorie

Die Medialität der Literatur und die medientheoretischen Implikationen der Literaturtheorie

Von Oliver JahrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahraus

Vorbemerkung

Unter dem Titel "Theory after the end of theory?" wurde vom 24. bis zum 26. Juni 2007 an der Hebrew University Jerusalem eine Konferenz zum Stand und zur Zukunft theoretischer Entwicklungen in Literatur- und Kulturtheorie und zu "New Approaches in current literary und cultural studies" - so der Untertitel - unter der Leitung von Prof. Dr. Christian Kohlroß veranstaltet. Der folgende Text beruht auf meinem Beitrag zu dieser Reihe.

1. Theorie nach der Theorie

Würde man von dem Titel der Konferenz nur das erste Wort weglassen, so könnte man lesen: "...after the end of theory? New approaches in current literary und cultural studies". Diese Weglassung würde erhebliche semantische Verschiebungen mit sich bringen. Zum einen könnte man das Fragezeichen weglassen und "after the end of theory" als epochale Markierung einer Situation verstehen, in der wir uns jetzt gerade befinden. Die "new approaches" wiederum würden sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie aus dieser Situation nach dem Ende der Theorie heraus geboren wurden, dass sie also theorielos sind. Dass sie aber theorielos sind, muss mit dem Zusammenspiel von literary und cultural studies zusammenhängen. Wenn man nun weiterhin annimmt, dass das, was die cultural studies bezeichnen, bei all ihrer Heterogenität, eine relativ junge Tendenz darstellt, die zu dem, was man literary studies nennt und was die lange Tradition der Philologie und Philologien ausmacht, hinzukommt, so liegt es nahe, einen immanenten Zusammenhang in der Veränderung der Theorielandschaft und den neuen cultural studies zu sehen. Oder, um es prägnant auszudrücken: Mit den neu(er)en cultural studies wäre in diesem Modell die Zeit und die Epoche nach der Theorie, die Epoche der Theorielosigkeit, angebrochen.

Man musste Herrn Kohlroß zu diesem Titel gratulieren, weil die Formulierung allein eine komplexe Ausgangslage sichtbar macht, die es zu berücksichtigen gilt, wenn man die gegenwärtige Theorielandschaft, die Situation der Theorie in Literatur- und Kulturwissenschaft in den Blick nimmt. Eine Situation übrigens, die häufig - wie ungenau auch immer - mit dem vermeintlichen Gegensatzpaar von Philologie und Kulturwissenschaft in Verbindung gebracht wird.

Ich rufe zwei internationale, ausgewiesene Fachleute auf dem Gebiet der Literaturtheorie auf, die genau die Problematik einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung oder gar eines kulturwissenschaftlich induzierten theoretischen Paradigmenwechsels im Zusammenhang mit einer radikalen Veränderung der Situation der Literaturtheorie - mithin des Status der Theorie in der Literaturwissenschaft - sehen, die also bestimmte Formen der Kulturwissenschaft - nicht akzidentell, sondern substanziell, nicht kontingent, sondern konstitutiv - für eine Theoriesituation "after the end of theory" oder kurz: "after theory" machen.

Jonathan Culler hat in seiner - nota bene - "Literaturtheorie" dieses Problemfeld in einer polemischen Frage auf den Begriff gebracht: "Romanisten, die ganze Bücher über Zigaretten [...] schreiben, Shakespeare-Spezialisten, die Bisexualität analysieren; Realismusexperten, die über Massenmörder arbeiten. Was ist hier eigentlich los?" Aber noch deutlicher, noch umfassender, noch detaillierter, noch polemischer hat Terry Eagleton diese Situation diagnostiziert. Ich zitiere aus seiner langen Bestandsaufnahme nur zwei witzige Bemerkungen: "Structuralism, Marxism, post-structuralism and the like are no longer the sexy topics they were. What is sexy instead is sex. On the wilder shores of academia, an interest in French philosophy has given away to a fascination with French kissing."

Auch hier ein nota bene: Das Buch, in dem sich diese Diagnose findet, trägt den Titel "After Theory" und reflektiert genau jene Situation, die ich gerade zu umschreiben versucht habe. Nun will ich aber nicht selbst nochmals in die Debatte um Philologie und Kulturwissenschaft eingreifen, sondern meinen Vortragstitel erläutern und dabei das aktuelle Feld gegenwärtiger theoretischer Konstellationen systematisch durchmessen, um die Bedingungen dieser Konstellation historisch herzuleiten. Und auf dieser Grundlage sollen jene historischen und systematischen Bedingungen - im Ansatz - ausgelotet werden, die für eine Theorie nach dem Ende der Theorie maßgeblich sind.

2. Das Medium und die drei Ebenen

Der Titel "Das Medium am Ende der Theorie" platziert genau dort, wo mein Fokus liegt, einen anderen Begriff, nämlich den des Mediums. In einer banalen Lesart könnte dies bedeuten, dass man, wenn alle methodischen und theoretischen Paradigmen und Varianten sich erschöpft haben, dann doch erstmals oder noch einmal das medientheoretische Paradigma durchspielen sollte. Soweit ist diese Aussage von dem, was ich Ihnen vorstellen will, gar nicht entfernt. Selbst Norbert Bolz hat eine Entwicklung, ja sogar eine "klare [...] Paradigmensequenz: vom Strukturalismus über die Diskursanalyse zur Medientheorie" ausgemacht, nota bene - ein weiteres Mal - wiederabgedruckt in seinem Buch mit dem Titel "Philosophie nach ihrem Ende", was nicht nur auf die philosophischen Endspiele des 20. Jahrhunderts rekurriert, sondern in einer frühen Variante den Kongresstitel symptomatisch vorwegnimmt.

In einer anderen, tiefergreifenden Lesart hingegen kann der Begriff des Mediums vorderhand eine konzeptionelle Hilfestellung leisten, wenn es darum geht, die gegenwärtige Theoriesituation zu diagnostizieren und nach den Bedingungen für Theorie nach der Theorie zu fragen. Wenn man ein Medium in seiner abstraktesten Form als Instanz der Differenzierung und Vermittlung des damit Differenzierten begreift, so kann man auf drei verschiedenen Ebenen operieren:

1) auf der Objektebene der Literatur; ich selbst habe einen Vorschlag gemacht, was es bedeutet, "Literatur als Medium" zu betrachten;
2) auf der Metaebene der Literaturtheorien; hier wäre zu fragen, in welchem Sinne eine Medientheorie der Literatur den Katalog der gängigen Literaturtheorien erweitert;
3) und damit ist man - drittens - auf einer Metametaebene gelandet, wo man fragen kann, wie sich denn die Konstellation der Literaturtheorien strukturiert und wie sie sich ausdifferenziert hat. Das ist die Ebene, die mich jetzt interessiert, weil sie die Ebene ist, auf der eben nach den Bedingungen für Theorie nach der Theorie gefragt werden kann. Und meine These lautet: Begreift man in diesem Sinne Literatur als Medium, so folgt nicht nur die Aufeinanderfolge und die Ausdifferenzierung theoretischer Position der Literaturtheorie, sondern auch noch die angebliche Erschöpfung des Theorieparadigma (the end of theory), ja sogar ihre Reanimation (theory after the end of theory) einem Muster folgt, dass in der Medialität von Literatur selbst schon angelegt ist.

3. Heuristik: Theoretische Implikation des Konflikts zwischen Philologie und Kulturwissenschaft

Dass die Frage nach dem Verhältnis von Philologie und Kulturwissenschaft zu den letzten Debatten gehört, die sich als Vorstufe zu einer Situation verstehen lassen, in der man das Ende der Theorie sieht, muss nicht verwundern. Ich halte die Entgegensetzung für falsch, weil ihretwegen genau das übersehen wird, was beides miteinander vermitteln kann. Der heuristische Wert dieser Entgegensetzung hingegen erscheint mir durchaus der Berücksichtigung wert. Nun kann man all das, was unter dem Stichwort Kulturwissenschaft in der Literaturwissenschaft läuft, nicht über einen Kamm scheren, aber vielleicht doch einige Grundprinzipien angeben. Die meisten und die prominentesten Ansätze einer solchen literaturwissenschaftlichen Kulturwissenschaft scheinen aus einem produktiven Umgang mit Theorie hervorgegangen zu sein.

Blickt man zum Beispiel in den Band von Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten "Germanistik als Kulturwissenschaft" (2002), so werden dort unter anderem die historische Anthropolgie, die Ordnungen des Wissens, Gendertheorien, Alteritäts- und Interkulturalitätstheorien, auch die Medientheorie selbst und nicht zu vergessen die Performativität als neue Ansätze der Kulturwissenschaft in der Literaturwissenschaft, genauer: in der Germanistik vorgestellt. All diesen Ansätzen ist gemein, dass sie zwar auf ein philologisches Fundament zurückgreifen, dieses aber wesentlich verändert, erweitert und zum Teil auch verlassen haben. Am deutlichsten lässt sich dies an einem Grundbegriff der Philologie, am Textbegriff, selbst festmachen.

Bereits 1997 hatte Wilfried Barner in einem Artikel im Schillerjahrbuch die Leitfrage aufgeworfen, ob 'der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden käme'. Gegenstand der Literaturwissenschaft ist aber der Text in seiner textuellen und in seiner literarischen Verfasstheit. Nun besteht das Konfrontations- und Konfliktverhältnis, wenn man es denn so darstellen will, darin, dass die Kulturwissenschaft beide Bestimmungsmomente - das Textuelle und das Literarische - in ihrer Gegenstandskonstitution auflöst. Gegenstand der Kulturwissenschaft sind nicht mehr allein literarische Texte, sondern sind auch Texte, die nicht mehr philologisch als Text bezeichnet werden können - oder schlechterdings keine Texte mehr sind. Es ist schon - aus wissenschaftstheoretischer Perspektive - interessant zu beobachten, welche Rückkopplungen es zwischen der Objekt- und der Metaebene gibt. Wird zum Beispiel der Textbegriff in medientheoretischer Hinsicht von seinen repräsentationalistischen Implikationen befreit und statt dessen eher performanztheoretisch definiert, so lässt sich auch von keiner repräsentationalistischen Gegenstandsbestimmung mehr sprechen. Die Frage, was Gegenstand der Kulturwissenschaft wird, wird ersetzt durch die Frage, wie er es wird. Die Gegenstandsbestimmung wird selbst zu einem performativen Prozess - nicht nur im Sinne einer konstruktivistisch verstandenen Objektkonstitution, sondern radikaler: Gegenstände einer Theorie ergeben sich daraus, wie sich Theorien in einem bestimmten Feld von anderen Theorien oder mehr noch, in einem bestimmten Theorie-Klima verortet werden. So kommt es eben dazu, dass man sich mit Zigaretten, Bisexuellen, Massenmördern und French Kissing beschäftigt.

Dass allerdings dem French Kissing - Terry Eagleton zufolge - die French Theory vorausgeht, ist mehr als nur ein ebenso gekonntes wie böses Wortspiel. All das, was die Kulturwissenschaften in ihrer Erweiterung des Gegenstandsbereiches zugleich auf theoretischem Gebiet vollziehen, ist ja alles andere als ein unmethodologischer, untheoretischer und gar anarchischer Schritt, zum Beispiel im Sinne eines Anything goes eines Paul Feyerabend. Kulturwissenschaftliche Gegenstandsfindung ist - wie dies gerade am Textbegriff deutlich wird - in vielfacher Weise theoretisch vorgeprägt. Fast möchte ich - Eagleton ergänzend - hinzufügen: Ohne French Theory kein French Kissing in der Theorie. Wenn ich diesen Umstand auf eine einfache Formel herunterbrechen darf, so würde ich sagen, mit French Theory ist die Theorieentwicklung von den 60er- zu den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts gemeint, die mit den Begriffen Strukturalismus und Poststrukturalismus umschrieben werden können. In vielfacher Weise ist der Poststrukturalismus ein Neostrukturalismus, wie Manfred Frank sagt, nicht nur im Bereich der Zeichentheorie, sondern auch der Texttheorie, weil er die strikten Vorgaben der Vorstellung eines geschlossenen, strukturalen und systemischen Textbegriffs voraussetzt, um ihn dann - im besten Sinne des Wortes - zum Beispiel durch die Idee der Öffnung geschlossener Systeme - zu dekonstruieren.

Ich gehe davon aus, dass viele Varianten der Kulturwissenschaft (French Kissing) genau auf einen solchen dekonstruktiven Verfahren bei ihrer Gegenstandskonstitution beruhen, ohne dass die zugrunde liegende Dekonstruktion (French Theory) offenbar und selbst wiederum als theoretischer Prozess reflektiert würde. Um es ganz knapp zu sagen: Die Kulturwissenschaft(en) haben vielfach ihr dekonstruktives Erbe vergessen oder verdrängt. Sie reflektieren ihre methodische Voraussetzungen nicht mehr. Zugegeben, dass sich eine dekonstruktive Position nicht mehr selbst als Methodik verstehen kann, ergibt sich aus der Sache selbst. Aber gerade deswegen ist die Dekonstruktion umso mehr dazu aufgerufen und auch dazu in der Lage, zu reflektieren, was man tut, wenn man Dekonstruktion betreibt - trotz oder gerade wegen all der aporetischen Autoreflexionen und autoreflexiven Selbstdementis. Die Dekonstruktion ist und bleibt ein später Gipfel literaturtheoretischer Reflexion - ein Erbe, das man nicht leichtfertig verspielen oder verspielt auf die leichte Schulter nehmen sollte.

4. Der Widerstand gegen die Theorie

"Vergessen" oder "verdrängt". Nun kann ich es mir raussuchen, ob ich nun Martin Heidegger oder Sigmund Freud folge. Ob das Sein vergessen wird oder das Sexuelle verdrängt, ob wir metaphysisch oder neurotisch werden, in jedem Fall üben wir Widerstand gegen die Erinnerung und die Wiederkehr des Verdrängten. Wo in der Philosophie die Sprache feiert, vergisst sie ihr metaphysisches Beginnen. Wo in der psychoanalytischen Praxis die Verdrängung durchschaut werden soll, da droht der Widerstand. Eagleton sieht den Übergang von der French Theory zu French Kissing, die Ausbreitung von Theorieabstinenz, in einem Widerstand gegen Theorie begründet. Woher kommt dieser Widerstand?

Terry Eagleton hat die Situation "after Theory" aus seiner marxistischen Position heraus mit dem Verlust eines politischen Bewusstseins erklärt. Paradigmatisch ist für ihn das Obsoletwerden des Marxismus. Der Marxismus ist für ihn eine politische Theorie. Gerade im Blick auf Frankreich in den 60er- und 70er-Jahren ist der Marxismus neben dem Strukturalismus die Option, die die politische Dimension von Theorie aufzeigt. Auch Theorien, die keine politischen Theorien sind, haben für ihn eine politische Dimension. Manifest wird diese Situation mit dem Aufkommen von "anti-theoretical terms" wie "evil", "freedom-loving" oder "patriot". Folgt man Eagleton, so wird daran nicht nur eine politische Variante des Widerstands gegen Theorie offenbar, sondern auch eine Revision von dem, was zum Beispiel die Theorie schon erreicht hatte, nämlich mit der Theoretisierung von Begriffen immer auch ihre potenzielle Dekonstruktion mit einzuschließen oder gar zur Verfügung zu stellen. Man denke nur an Jaques Derridas Essay "Gibt es Schurkenstaaten?" aus seinem Buch "Schurken" (2003).

Die politische Perspektive eines Terry Eagleton blickt auf einen Widerstand gegen Theorie, der von außerhalb der Theorie kommt. Er legt aber gerade seinen Finger dorthin, wo dieser externe Widerstand intern reproduziert wird. Solche Formen des Widerstands sind - gerade im Zusammenhang mit den Kulturwissenschaften - überall dort zu beobachten, wo Philologen annehmen, dass der Theorieimport aus anderen Wissenschaften zu einer Aushöhlung der philologischen Basis führt.

So unterschiedlich die Denkhorizonte sind, so ähnlich sind die Denkfiguren eines Freud, Heidegger, Derrida. Überblendet man diese Figuren, so machen sie auf einen entscheidenden Umstand deutlich: der Widerstand gegen die Theorie, der von außerhalb der Theorie kommt, bleibt der Theorie äußerlich. Bedenkenswerter ist ein Widerstand, der eigentliche Widerstand, der selbst Sache der Theorie ist. Und dieser Umstand ist wiederum auf sprachliche, textuelle, literarische Strukturen, auf Grammatik und Semantik, mithin auf das Verhältnis von Sprache, Text, Literatur und Theorie und von jener theoriebegründenden Differenz von Objekt- und Metaebene zurückzuführen.

Diese Perspektive nimmt ein Denker ein, der wie kein zweiter neben Derrida, aber in einer eigenen Variante, die Vorstellung von Dekonstruktion geprägt hat: Paul de Man. Er geht in seinem Aufsatz mit dem einschlägigen Titel "Widerstand gegen die Theorie" davon aus, dass die Theorie selbst den Widerstand gegen die Theorie unterschwellig evoziert. Das hängt de Man zufolge mit dem prekären Verhältnis von Objekt- und Metaeben zusammen, weil die konstitutive sprachliche Qualität des literarischen Textes, die eine Literaturtheorie ins Auge zu fassen hat, auch der Metaebene eben dieser Theorie zukommt. De Man spitzt seine Überlegungen folgendermaßen zu: Literaturtheorie ist mit einem Problem der Autoreflexivität konfrontiert. Was mit Literaturtheorie zutage gefördert werden soll, ist zugleich dasjenige, was dieser Offenlegung entgegensteht. Wie nahe das an einer psychoanalytischen Konzeption ist, erwähne ich nur nebenbei. De Man reflektiert dies nicht. Was also den theoretischen Zugriff auf Literatur sichern soll, nämlich die sprachliche im Gegensatz zur ästhetischen oder historischen Qualität, ist zugleich dasjenige, was diesen Zugriff problematisiert, wenn nicht sogar verhindert: "Der Widerstand gegen die Theorie ist ein Widerstand gegen den Gebrauch von Sprache über Sprache." (de Man) Insofern kann de Man den Widerstand gegen die Theorie in die Theorie selbst hineinverlagern und folgern: "Nichts kann den Widerstand gegen die Theorie überwinden, da die Theorie selbst dieser Widerstand ist."

Damit allerdings gewinnt meine obige These eine weitere Facette: Wenn Kulturwissenschaft der Ort ist, an dem die Situation "after Theory" manifest wird, wenn gleichzeitig die Situation "after Theory" auf einen Widerstand gegen die Theorie zurückzuführen ist, wenn weiterhin gilt, dass die Kulturwissenschaft ihr dekonstruktivistisches Erbe vergessen hat, dann muss dieses Vergessen als Form des Widerstands gewertet werden, dessen Wurzeln in der dekonstruktivistischen Grundlegung von Kulturwissenschaft gesucht werden müssen. Dass die Kulturwissenschaft ihr dekonstruktivistisches Erbe vergessen hat, liegt also darin begründet, dass die Art und Weise, wie dieses dekonstruktivistische Erbe fortgeführt wurde, indem der Textbegriff erweitert und geöffnet wurde, gleichzeitig sein eigenes Vergessen impliziert: eine Form der Dekonstruktion, die - heideggerisch gesprochen - dekonstruktionsvergessen ist. Und wie es Heidegger für die Metaphysik gezeigt hat, so gilt es auch für jenes Unternehmen, das an die Seinsvergessenheit der Metaphysik erinnert: die Dekonstruktion. Die Dekonstruktion hat sich selbst vergessen und vergessen, dass sie vergessen hat, und dieses Vergessen war kein Manko in der Theorieentwicklung, sondern unumgängliche Folge des geschichtlichen Prinzips der Theorie selbst. Demnach würde das Vergessen notwendigerweise aus dem Erbe selbst resultieren. Und noch allgemeiner: Die Situation "after Theory" ist selbst theorieinduziert. Das Ende der Theorie zu diagnostizieren, ist ein genuin theoretischer Akt, der vielfach neue theoretische Impulse liefert. Und nur in theoretischer Perspektive wird sie überhaupt beobachtbar. Daraus folgt, systemtheoretisch formuliert: Theorie ist die Einheit der Differenz von Theorie und Widerstand gegen die Theorie. Oder einfacher: Totgesagte Theorie lebt lange!

5. Das individuelle Allgemeine und die mediale Konstellation

Nun wäre zu fragen: Wie ist damit zu verfahren. Zunächst einmal können wir feststellen, dass de Man geschickt die Objektebene des literarischen Textes für das verantwortlich macht, was theoretisch auf der Metaebene sich als Struktur ausbildet: nämlich theorieinduzierter Widerstand gegen Theorie. Blicken wir zunächst auf die Objektebene.

Um nun die Spezifität der literarischen Sprache festzumachen, unterscheidet de Man zwischen einer grammatischen oder logischen und einer rhetorischen Dimension der Sprache. Das konstitutive Spezifikum der Literatur, ihre "Literarizität", besteht demnach in einem "Gebrauch von Sprache, der die rhetorische Funktion gegenüber der grammatischen und der logischen in den Vordergrund rückt" (de Man). Die Literarizität der Literatur besteht in ihrer Rhetorizität. Literatur ist in diesem Sinne konstitutiv rhetorisch. Im Versuch, Literarizität literaturtheoretisch zu fassen, stößt er genau auf die Rhetorizität, aus der dann der Widerstand gegen die Theorie resultiert: "Der Widerstand gegen die Theorie ist ein Widerstand gegen die rhetorische [...] Dimension der Sprache."

Wie immer man den Unterschied zwischen der grammatischen und der rhetorischen Dimension fassen will, ich will ihn mit einer anderen Differenz konfrontieren, die am Anfang einer modernen Hermeneutik bei Schleiermacher steht, zwar etwas anderes meint, aber begrifflich verräterisch nahe an de Mans Unterscheidung liegt, nämlich der Unterscheidung zwischen einer grammatischen und einer psychologischen Interpretation. Das Grammatische bezieht sich auf die sprachliche Struktur des Textes, das Psychologische bezieht sich auf die den Text übersteigende Interpretationsleistung des einzelnen Interpreten. Manfred Frank hat das Grammatische mit dem Allgemeinen und das Psychologische mit dem Individuellen verknüpft und den literarischen Text als Einheit einer Differenz bestimmt: "Gewußt oder erkannt wird schließlich nur das Allgemeine; [...] Dagegen ist das Individuelle, z.B. der Stil, im eigentlichen Sinn des Wortes unteilbar und mithin unmitteilbar". Der literarische Text ist also die Einheit der Differenz des Individuellen und des Allgemeinen oder, wie Frank auch sagt, des Sagbaren und des Unsagbaren.

Grammatisch/rhetorisch, grammatisch/psychologisch, allgemein/individuell, sagbar/unsagbar - so unterschiedlich die einzelnen Differenzierungen auch sind, so lassen sie doch ein - wie ich meine - durchgängiges dialektisches Differenzierungsmuster erkennen. Jeder Text hat also eine Doppelperspektive, eine Zweifachdimension, die - wie immer man sie auch bestimmt, deutlich macht, dass konstitutiv immer nur eine Dimension theoretisch erfasst werden kann, während die andere, selbst wenn die Theorie die Differenz selbst reflektiert, konstitutiv ausgeblendet werden muss. Es gibt eine schöne Formulierung von Ian Watt zum bürgerlichen Roman und zur bürgerlichen Literatur des 18. Jahrhunderts, die diese Problematik nicht nur auf der Objektebene der Literatur selbst positioniert, sondern sie auch medientheoretisch deutet: "Es ist ein Widerspruch, daß die stärkste Identifikation des Lesers mit den Gefühlen fiktiver Charakterisierung, die es in der Literatur je gab, durch die Ausnutzung der Wesenszüge des Buchsdrucks zustandekommen sollte - des unpersönlichsten, objektivsten und öffentlichsten aller Kommunikationsmedien."

Größte Intimität und Individualität sind eben nur in einem Medium zu haben, Schrift, Text, Literatur, Buch, das in seiner Zugänglichkeit genau das Gegenteil, Öffentlichkeit und Allgemeinheit, garantiert. Genau damit aber wird der Beginn der modernen Literatur markiert. Modern ist Literatur deswegen, weil sie einerseits jeden beliebigen Leser erreichen, aber gleichzeitig jedem beliebigen Leser ein je individuelles Rezeptionserlebnis bieten kann.

Wie auch immer man dieses Differenzierungsschema ausarbeiten will, das Differenzierungsschema an sich nenne ich die mediale Qualität von Literatur. Die Rede von der Literatur als Medium meint also, dass der literarische Text konstitutiv die Fähigkeit hat, die Einheit einer so gearteten Differenz herzustellen. Aufgrund seiner Schriftlichkeit und Textualität ist er hochgradig allgemein. Jeder, der die entsprechende Sprachkompetenz besitzt, kann ihn lesen. Aber hätte er nur diese eine Dimension, wäre er für uns völlig irrelevant. Er muss eine zweite Dimension haben, die sich der Allgemeinheit entzieht. Erst beide Dimensionen zusammen machen den Text literarisch und literarisch interessant. Hätte der Text nicht eine solche individuelle Dimension, die sich der Interpretation entzieht, so wäre er der Interpretation gar nicht wert. Das Differenzierungsschema ist vieldeutig zu bestimmen, zum Beispiel auch als Sagbares und Unsagbares, als Bestimmtes und Unbestimmtes, als Konstruktion und Destruktion, und selbst alle Elemente, um die ein hermeneutischer Zirkel kreist, können in dieses Differenzierungsschema gebracht werden, dessen zirkuläre Struktur leicht sichtbar gemacht werden kann.

6. Theorie nach dem Ende der Theorie

Wenn dies aber als mediale Dimension zu verstehen ist, die auf diesem bestimmten Differenzierungsschema aufruht, dann hat dies Auswirkungen auf die Metaebene literaturtheoretischer und methodologischer Positionen. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich die Geschichte dieser Positionen als eine Abfolge von Konstellationen rekonstruieren lässt, in der immer wieder zwei Positionen so in ein Differenzverhältnis treten, dass dieses Verhältnis die mediale Dimension des literarischen Textes abbildet. Denken Sie an solche Konstellationen wie Geistesgeschichte und Positivismus, wie Hermeneutik und Strukturalismus, wie Strukturalismus und Poststrukturalismus, wie Hermeneutik und Dekonstruktion, wie Literaturpsychologie und Literatursoziologie. Diese Konstellationen haben sich zumeist so ergeben haben, dass sich auf der zeitlichen Achse literaturtheoretischer Entwicklungen Positionen von unterschiedlichem Alter und Lebensdauer in einer Phase überschnitten und sich so als differenzielle Optionen dargeboten haben. Immer wieder hat es Debatten gegeben, zum Beispiel zwischen Gadamer und Derrida, die diese Konstellation sogar personal zum Ausdruck gebracht haben, immer wieder hat es Neuansätze gegeben, wie zum Beispiel die Rezeptionsästhetik Jauß/Iser'scher Provenienz, die explizit mit dem Vorhaben angetreten ist, ein neues Paradigma auf die "Verknüpfung strukturaler und hermeneutischer Methoden" (Jauß) zu gründen, dann aber selbst als eine Seite in neue Differenzierungsschemata eingetreten ist, wie in der Konstellation von Rezeptionsästhetik und Rezeptionsforschung. Und es hat, von Schleiermacher bis de Man und darüber hinaus immer auch Modelle gegeben, die schon intern dieses Differenzierungsschema genutzt haben.

Grundlegend bei diesen Konstellationen ist jedoch das Differenzierungsschema, wonach die eine Seite immer das fokussiert, was die andere Seite ausblendet oder als unbeobachtbar ausgibt, und vice versa. Diese Konstellierung muss auf die mediale Struktur des Textes zurückgeführt werden. Nicht unbedingt in einer Eins-zu-eins-Relation, sondern immer mit Blick auf jene Rekonzeptualisierungen der einen oder anderen Dimension, die die entsprechende Literaturtheorie vornimmt. Das geschieht in den unterschiedlichsten Formulierungen, wenn zum Beispiel das Unbeobachtbare als das Unsagbare, als das Unwissenschaftliche oder zumindest als das Uninteressante ausgeben wird. Damit kann man sagen, dass jeder Streit der Interpretationen zugleich Abbild der medialen Struktur des literarischen Textes ist. Man kann sogar noch weiter gehen und die Theoriegeschichte der Literaturwissenschaft als fortgesetzten Prozess medialer Differenzierung verstehen. Ausdruck der Medialität der Literatur ist die Literaturtheorie. Nach dem Ende der Theorie wird Literaturtheorie zum Symptom der Literatur, zum Symptom ihrer Literarizität, will sagen: ihrer Medialität. Und damit lässt sich auch die Blickrichtung umkehren: Literaturtheorien entwerfen nicht nur Konzeptionen des literarischen Textes, sondern ihre Konstellierung sagt auch etwas über den literarischen Text aus.

Schließlich ist auch der Streit zwischen den Positionen Philologie und Kulturwissenschaft, als eine der letzten Varianten dieser Konstellierung, hier einzuordnen, allerdings bereits auf einem höheren Abstraktionsniveau, weil sich damit nicht nur zwei Interpretationsoptionen gegenüberstehen, sondern bereits zwei Modelle grundsatztheoretischer Positionierungen, zum Beispiel was den Textbegriff angeht. Die Differenzierungslinie verläuft hier - so könnte man unter anderen Möglichkeiten festhalten - zwischen einem engeren und weiteren oder gar zwischen einem geschlossenen und offenen Konzept von Text oder zwischen einem repräsentationalistischen und einem performativen Konzept von Text oder zwischen Textimmanenz und Texttranszendenz. Das ist auch der Grund, warum ich diesen Streit für müßig halte. Nimmt man nämlich das auf der medialen Disposition des Textes beruhende Differenzierungsschema ernst, so zeigt sich, dass in einer Konstellation die eine Seite ihre Kontur überhaupt erst durch die jeweils andere gewinnt.

Und damit komme ich zu der dritten Ebene, zu jener Beobachtungsebene, die wiederum die Konstellierungen solcher Positionen in den Blick nimmt - und damit auch zum Schluss. Die dritte Ebene ist jene Ebene, die die zweite als Widerspiegelung einer Struktur auf der ersten Ebene in Erscheinung treten lässt, mithin beobachtbar macht.

Wenn aus dieser Perspektive deutlich wird, dass sich in den Konstellationen die mediale Disposition des Textes, also ein dialektisches Differenzierungsspiel, das in unserer Kultur an Textstrukturen gebunden ist, widerspiegelt, so können die beiden Ebenen, die Objektebene des Textes und die Metaebene der Literaturtheorien, selbst wiederum in ein Differenzverhältnis gesetzt werden, das als mediale Struktur zu deuten wäre. In diesem Sinne wäre die Literaturtheorie, ohnehin symptomatisch, selbst wiederum ein Medium, das die mediale Struktur des Textes beobachtbar werden lässt.

Das Wichtigste erscheint mir dabei zu sein, dass auf dieser Ebene auch das Verhältnis von Theorie und Widerstand gegen die Theorie sich als eine solche mediale Struktur deuten lässt, die ihrerseits wiederum schließlich auf die mediale Disposition des Textes zurückzuführen ist. Der Widerstand gegen die Theorie erweist sich damit auf der Basis der Medialität des Textes selbst als Medium der Theorie. Theorie ist, wenn man trotzdem theoretisiert. Theorie ist nichts anderes als Selbstüberwindung, die Erinnerung an die eigene Selbstvergesslichkeit und Selbstvergessenheit.

Und wenn man diese Situation als historisch perspektiviert, so ist die Situation "after theory" nichts anderes als das differenztheoretische Komplement zu einer Phase, in der Theorie vorherrschend war, bisweilen so vorherrschend, dass sie den Blick auf den Text nicht mehr freigegeben hat. Theorie kommt immer dann an ihr Ende, wenn dieser Widerstand nicht mehr wahrgenommen wird. Und eine Theorie nach der Theorie müsste daher vorrangig den Widerstand gegen die Theorie theoretisch namhaft machen und funktionalisieren.

Und damit will ich abschließend ein Prinzip skizzieren, das man als Bedingung für eine "Theorie nach der Theorie" angeben könnte. Eine solche Theorie muss eine Theorie auf der dritten Ebene sein. Und sie muss erkennen, dass sie selbst Teil einer Struktur von Konstellationen ist, die ihrerseits wiederum auf eine konstitutive Struktur des (literarischen) Textes, also dieses in und mit dem Text entfalteten dialektischen Differenzierungsspiels zurückgeht. Man muss dies nicht auf den Begriff des Mediums beziehen. Doch es bietet sich an, weil so diese differenzielle Vermittlung des dialektischen Spiels am besten zum Ausdruck gebracht werden kann. Wenn man dies tut, so ist eine Medientheorie der Literaturtheorie nicht nur eine weitere Option oder Position, als Medientheorie ist sie zugleich eine Metametatheorie. Anders gewendet: Eine Medientheorie der Literaturtheorie könnte eine Theorie nach der Theorie sein. Oder noch deutlicher: Theorie nach ihrem Ende ist eine Medientheorie und als solche Theorietheorie.

Mir schwebt eine Literaturwissenschaft vor, die als Medienwissenschaft nunmehr, zum Beispiel mit Rück-Blick auf den Streit von Philologie und Kulturwissenschaft, genau jene Anstrengung unternimmt, diese medientheoretischen Implikationen der Literaturtheorie ernst zu nehmen.

Literatur:

Barner, Wilfried: Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden? Vorüberlegungen zu einer Diskussion. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 1997, S.1-8.

Bolz, Norbert: Strukturen - Diskurse - Medien. In: Rhetorik, Bd. 9: Rhetorik und Strukturalismus, 1990, S.1-10; wiederabgedruckt in: ders.: Philosophie nach ihrem Ende, 1992, S.142-155.

Eagleton, Terry: After Theory. New York: Basic Books 2003.

Culler, Jonathan: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Stuttgart 2002.

Frank, Manfred: Was ist ein literarischer Text, und was heißt es, ihn zu verstehen? In: ders.: Das Sagbare und das Unsagbare: Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik und Texttheorie. Erw. Neuausgabe. Frankfurt a.M. 1990, S.121-195.

Man, Paul de: Der Widerstand gegen die Theorie. In: Volker Bohn (Hg.): Ro mantik. Literatur und Philosophie. Frankfurt a.M. 1987, S.80-106.

Watt, Ian: Der bürgerliche Roman. Aufstieg einer Gattung. Defoe- Richardson - Fielding. Frankfurt a.M. 1974.