Im hermeneutischen Zirkel
Gernot Wimmer untersucht Franz Kafkas Roman-Trilogie
Von Erhard Jöst
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGernot Wimmer hat zu den zahllosen Arbeiten, "die Franz Kafka und sein Werk zum wissenschaftlichen Gegenstand machten und unter Anwendung einer Vielzahl von Methoden den Ideengehalt seiner literarischen Hinterlassenschaft zu ermitteln versuchten", eine weitere hinzugefügt. Wer dies tut, der fühlt sich verpflichtet zu begründen, weshalb er die Sekundärliteratur erweitert, und dann kommt es zwangsläufig zu Aussagen wie dieser: "Den anfangs dominierenden religiösen, tiefenpsychologischen und soziologischen Methodensträngen sowie dem anschließenden biografischen Ansatz fehlte es jedoch an logischer Klarheit. Über 80 Jahre nach Kafkas Ableben liegt somit immer noch keine seinem Werk gerecht werdende Interpretation vor."
Eine in ihrer Rigorosität fragwürdige Aussage. Und wenn sie zuträfe und der Autor dieser neuen Studie daran gemessen werden möchte, ob ihm dieser große Wurf gelungen sei, so muss man dies verneinen. Wimmers Buch bestätigt vielmehr die von Heribert Hoven aufgestellte These, "dass die Kafka-Literatur in immer neue Dimensionen der Unübersichtlichkeit vorstößt." (siehe Literaturkritik Nr. 8/2007)
Bereits in der Einleitung zu seinem Buch, in das er seine im Jahr 2004 approbierte Dissertation über Kafkas "Verschollenen" in überarbeiteter Form eingegliedert hat, greift Wimmer einige Aussagen von Kafka-Interpreten auf, die er entweder bestätigt oder bestreitet. An dieser Vorgehensweise hält er dann auch in den theoretischen und interpretatorischen Teilen seiner Abhandlung fest. Es erstaunt, dass er seine Ausführungen zur hermeneutischen Methode ausgerechnet auf Emil Staiger aufbaut, dessen "Kunst der Interpretation" bekanntlich aus dem historischen Kontext ihrer Entstehung als eine Flucht aus den Zeiten der NS-Politik in den Bereich der nebulösen Gefühle verstanden werden kann.
Wimmer geht inhaltsorientiert vor: Vorgänge aus Kafkas Romanen werden in Verbindung mit Zitaten aus der Sekundärliteratur paraphrasiert. Seitenweise wird zusammengetragen, was die Literaturwissenschaftler Emrich, Politzer, Schillemeit, Kim, Binder, Henel, Frey, Allemann, Pongs, Adorno und viele andere über Kafkas Prosa zu Papier gebracht haben. Sicherlich eine Fleißarbeit, aber: In ermüdender Monotonie wird aufgezählt, was der eine "erkennt", der andere "schreibt". Eine eigenständige Interpretation ist kaum zu erkennen.
Immerhin begründet Gernot Wimmer seine These, wonach Franz Kafka in seinen Romanen die Ära des entfesselten Kapitalismus vorführt: "Vor dieser sozialkritischen Folie stellt die Handlung des "Verschollenen" eine Art darwinistische Versuchsanordnung dar, durch die der Autor die populäre Annahme, dass der Stärkste beziehungsweise ,Fitteste'- also Anpassungsfähigste - im evolutionären Entwicklungsprozess stets der Sieger bleibt, widerlegt und damit die Gesellschaftsform US-amerikanischer Prägung infrage stellt. [...] Wenn sich der Autor auch der künstlerischen Realisierung eines konsequent zu Ende gedachten Handlungsschemas versagt, lässt dieses bloß einen denkbaren Schluss zu. Die hoch kapitalistische Gesellschaftsform stellt keine sich aus dem Kompositionsschema ergebende Notwendigkeit dar, da die Hauptfigur in einem weniger auf Rentabilität getrimmten Schauplatz ebenfalls zum existentiellen Scheitern verurteilt gewesen wäre. Doch tritt das amoralische Wesen christlich-religiöser Gottesordnung so unverkennbar hervor."
Im Roman "Der Process" liegt nach Wimmers Auffassung "im Gegensatz zum Amerika-Roman eine überwiegend inhaltliche Verwirklichung des biblischen Mythos vor. Neben dem Teil-Mythos vom Letzten Gericht finden sich die Frauengestalten in Anlehnung an Kafkas Interpretation des Sündenfalles als im Allgemeinen von geschlechtlicher Lust besessen dargestellt. Sexuelle Verführung des Mannes durch die Frau auf deterministischer Basis - vermeintlicher Sündenfall bzw. Erbsünde - Letztes Gericht: Diese Begriffe bilden die Kernstücke von Kafkas mythologischer Abhandlung. Die adaptierten mythischen Versatzstücke aus der Kabbala dienten dem Autor bei der künstlerischen Gestaltung des Gerichtes als brauchbares Material."
Ausführlich erläutert Wimmer die Parabel "Vor dem Gesetz" aus dem "Process"-Roman, bietet aber hier ebenso wenig neue Erkenntnisse wie in der oben zitierten Passage. Bei der Untersuchung des Romans "Der Verschollene" steht das Scheitern des Protagonisten Karl Rossmann im Mittelpunkt, der wie alle Figuren Kafkas eine Willensschwäche aufweist. Außerdem geht Wimmer den "verhängnisvollen Verkettungen der Geschehnisse" und den Eigenheiten der dargestellten Szenerie nach. "Der Process" wird unter dem Aspekt des "Übertritts der materiellen Existenz des Josef K. ins metaphysische Nichts" betrachtet, wobei auch hier Kulissen wie die Gerichtsräumlichkeiten und das Erscheinungsbild der Beamten beschrieben werden.
Josef K. wird als Figur gedeutet, "deren existentieller Niedergang nicht eine Folge zukunftsbestimmender Begebenheiten als fundamentales Strukturelement der Romankonzeption darstellt, sondern unmittelbares Ergebnis der christlichen Weltgerichtsbarkeit ist."
In der Handlung des "Schloss"-Romans geht es nach Wimmer um "die Suche des selbst ernannten Landvermessers K. nach der inneren Logik der metaphysischen Ordnung." Der Verfasser legt die "partielle Willensschwäche" des Protagonisten dar, der an der "Unüberwindbarkeit der Anklage" scheitern muss. Zudem wird auch hier das "Erscheinungsbild der Diener- und Beamtenschaft" beschrieben und interpretiert. "Was die Gestaltung der mythologischen Verweisstruktur anbelangt", so Wimmer, bestehe " eine enge konzeptionelle Verwandtschaft zum "Proceß"-Roman. Vor dem Hintergrund dieser Gemeinsamkeiten in der inhaltlichen Umsetzung des Teil-Mythos vom Letzten Gericht unterscheiden sich die beiden Werke jedoch im Verhalten der Protagonisten der göttlichen Behörde gegenüber. Während im "Process" eine angeklagte Hauptfigur vorgeführt wird, die sich den Aktivitäten der Behörde - auf offiziellem wie inoffiziellem Weg - stellt, tritt der K. des "Schlosses" eine Flucht vor ebendieser an. Der Unzulänglichkeiten des behördlichen Apparates wegen ist sein Unternehmen anfangs von Erfolg gekrönt, doch alle höheren Ziele, die mit seiner Ankunft im Dorf verbunden sind, haben zwangsläufig zu scheitern."
Gernot Wimmer geht bei seiner Untersuchung von der These aus, dass Kafka "eine künstlerische Parodie des christlichen Mythos in seiner Roman-Trilogie" vollziehe. Man kann seine größtenteils an den Textvorlagen orientierte Argumentation nachvollziehen, aber eine überzeugende Deutung von Kafkas Roman-Trilogie ist ihm nicht gelungen.
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