Das Kind mit dem Bade
Ein Kommentar zu Adornos Negativer Dialektik
Von Mario Wenning
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas "dicke Kind", als welches Adorno seine 1966 erschienene "Negative Dialektik" bezeichnete, ist ein ungewöhnliches philosophisches Hauptwerk. Es macht sich den performativen Widerspruch zum Prinzip. Das Buch beansprucht, durch das traditionelle Mittel der Analyse grundlegender philosophischer Begriffe und Kategorien zu zeigen, dass diese Form abstrakter Reflektion eigentlich durch konkretes, "materiales" Philosophieren ersetzt werden sollte. Man ist daher vielleicht besser damit bedient, die Negative Dialektik nicht als Methodologie im herkömmlichen Sinn einer Methodenlehre zu verstehen. Ähnlich wie die Ästhetische Theorie mit Bezug auf Adornos ästhetische Studien, ist die Negative Dialektik eine Rechtfertigung seiner konkreten gesellschaftskritischen und erkenntnistheoretischen Studien. Zudem soll sie eine Hinleitung zu einem inhaltlichen Philosophieren sein. Hinleitung ist hier freilich nicht im Sinne einer leicht verständlichen Einführung gedacht.
Adorno macht es seinen Lesern und Kommentatoren nicht einfach. Seine Abwehr gegen simplifizierende pädagogische Aufbereitung, seine Kritik am Begriff des Orientierung spendenden Klassischen und seine Überzeugung, dass die Darstellungsdimension der Philosophie wesentlich sei und Philosophie sich nicht referieren lasse, stellt einen Kommentar in einer Reihe, die sich explizit der Auslegung philosophischer Klassiker widmet, vor ein großes Problem.
Nicht nur Adornos selbst auferlegte Sperrigkeit gegen die Auslegung und Übersetzung philosophischer Texte erschweren eine Interpretation. Viele seiner pauschalisierenden Thesen wirken heute veraltet, wie die Herausgeber Axel Honneth und Christoph Menke zu Recht betonen. Die Rede von der "total verwalteten Welt" und die Hegels Logik entlehnter Gebrauch von Begriffen wie "Allgemeinheit" und "Besonderheit" werfen die Frage auf, worin (wenn überhaupt) die gegenwärtige Bedeutung der Negativen Dialektik (und Adornos Philosophie als Ganzer) bestehen könnte.
Die Herausgeber, zwei profilierte geistige Enkel des einflussreichsten Gründervaters der Frankfurter Schule, stellen sich diesen Herausforderungen in einem Sammelband, der sich "im bewussten und ausdrücklichen Abstand zu Adornos Text" verstanden wissen will. Die Aktualität des "antiklassischen Klassikers" besteht bei aller Antiquiertheit einzelner Motive in seiner "kritischen Potenz", überkommene philosophische Begriffe und Unterscheidungen in Frage zu stellen und auf Spannungen zwischen Geist und Natur hinzuweisen. Der Band umfasst bis auf zwei Ausnahmen zuvor unveröffentlichte Aufsätze bekannter Adornointerpreten. Neben Beiträgen der Herausgeber sind Interpretationen spezifischer Textabschnitte der "Negativen Dialektik" von Dieter Thomä, Andrea Kern, Martin Seel, Jay Bernstein, Klaus Günther, Birgit Sandkaulen und Albrecht Wellmer enthalten.
Der Kommentar richtet sich nicht nur an Leser, die einen ersten Zugang zu Adornos auf Grund seiner sprachlichen und argumentativen Dichte schwer zu lesenden Text suchen. Auch für Adornokenner finden sich interessante Vorschläge, die "Negative Dialektik" neu zu entdecken. Um nur einige Beispiele zu nennen: Honneth plädiert dafür, Adornos dialektische Philosophie "immer auch [als] die Praktizierung einer restituierenden Gerechtigkeit" zu verstehen; Thomä verweist in seinem Kommentar auf die unterschwelligen Konvergenzen im Denken der Konkurrenten Heidegger und Adorno bezüglich deren Verhältnisses zum Sein als einem Schützenswerten; Kern unterscheidet eine aporetische von einer dialektischen Interpretation des Erfahrungsbegriffs bei Adorno; Seel rekonstruiert eine Theorie eines kritischen Gebrauchs von Begriffen; Günther schlägt vor, die "Moral der Fehlbarkeit" im Sinne einer "Utopie des autoritätsfreien Sollens" zu verstehen; Bernstein und Sandkaulen veranschaulichen, dass Adorno sich weniger gegen Hegel oder Marx wendet, sondern gegen einen sich selbst absolut wähnenden Idealismus und einen nominalistischen Liberalismus, der die Freiheit des Einzelnen als bestehend voraussetzt und die Utopie der Versöhnung von Individuen und Gesellschaft sowie Geist und Natur prinzipiell verwirft.
Vielleicht veranschaulicht die Spannbreite dieser hier nur anzudeutenden Interpretationen am besten, was uns die Negative Dialektik heute noch zu sagen hat. Wenn man von einer Methode der Negativen Dialektik sprechen kann, so wäre hervorzuheben, dass sie sich an der Schnittstelle von Erkenntnistheorie, Ethik, Geschichtsphilosophie, Sozialpsychologie und politischer Theorie bewegt. Im Hintergrund steht immer der Bezug auf die gegenwärtige Gesellschaft. In Zeiten, in denen Interdisziplinarität zwar groß geschrieben, im umkämpften Wissenschaftsbetrieb fächerübergreifendes gesellschaftskritisches Denken jedoch zusehends verkümmert, erinnert Adornos "Negative Dialektik" daran, dass die Wissenschaft ihren Anspruch verliert, wenn sie sich mit traditionellen Fächergrenzen zufrieden gibt und dabei die Gesellschaft aus dem Blick verliert.
Ein Motiv, das die Beiträge verbindet, ist eine gewisse Unzufriedenheit damit, dass Adorno die Aporie gegenüber der Verständlichkeit vorzieht. In ihrem Bestreben, Adorno verständlich und gegenwartstauglich zu machen, laufen die Autoren jedoch Gefahr, ihn vorschnell in einen Theoretiker des common sense zu verwandeln. Die gewagten Thesen, aus denen Adornos Denken seine Kraft zieht, werden dabei gerne als unliebsames Ausrutscher verworfen. Die selbstkritische Aktualisierung des Marxismus unter den Bedingungen nach dem Holocaust, nach dem Scheitern bürgerlichen und marxistischen Revolutionen und nach der globalen Ausbreitung des liberalen Kapitalismus vorschnell als "fixe Theoreme" abzustempeln, läuft Gefahr, das "dicke Kind" mit dem Bade auszuschütten. Dass die Interpretationen trotz ihrer inhaltlichen Schärfe in vielen Punkten zu kurz greifen, mag auf der anderen Seite zeigen, dass die "Negative Dialektik" nicht recht unter den philosophischen Klassikern ankommen will. Ein Sachverhalt, der Adorno sicherlich gefallen hätte.
|
||