Zwei Bücher in einem

Michael Mann versucht, ethnische Säuberungen und den Holocaust zu erklären

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michael Mann, Professor für Soziologie an der University of California in Los Angeles, hat ein in mancherlei Hinsicht irritierendes Buch geschrieben. Anders als es der deutsche Titel suggeriert, geht es darin weder um demokratische Systeme noch um eine "Theorie" ethnischer Säuberung oder um den Zusammenhang zwischen beidem. Dem Autor, der einer Forschungsrichtung zuzurechnen ist, die als Neue Historische Soziologie bezeichnet wird, geht es darum, folgende Aufsehen erregende Hypothese zu beweisen: "Mörderische ethnische Säuberungen entstehen innerhalb unserer Zivilisation, und die meisten Täter waren uns durchaus nicht unähnlich". Als modernes Phänomen bildeten sie nachgerade die "dunkle Seite der Demokratie". Damit ist - wie Mann explizit betont - nicht gemeint, dass es primär demokratische Staatswesen gewesen seien, die ethnische Säuberungen vom Zaune brachen. Allerdings bärgen Demokratien die Möglichkeit in sich, dass die Mehrheit die Minderheit tyrannisiere, und dies führe in multiethnisch geprägten Lebenszusammenhängen oft zur Massengewalt.

Mann versucht, seine These anhand ausgewählter historischer Beispiele zu verdeutlichen. Nacheinander behandelt er das Assyrerreich und die spanische Reconquista im 16. Jahrhundert, die USA und Australien, die gerade in der Etablierungsphase ihrer Demokratien autochthone Bevölkerungen ausgerottet hätten, die Nationalitätenpolitik des zaristischen Russland, die deutsche Kolonialherrschaft in Südwestafrika, den Völkermord der Jungtürken an den Armeniern, den Holocaust, die kommunistischen Säuberungen in der Sowjetunion, Kambodscha und China, den seit 1991 stattfindenden jugoslawischen Bürgerkrieg und den Massenmord der Hutu an den Tutsi 1994 in Ruanda. In einem weiteren Kapitel nimmt der Autor mit Indien und Indonesien zwei Fälle in seinen Blick, bei denen es, trotz vieler struktureller Ähnlichkeiten mit anderen Staaten, aus einer Reihe von Gründen nicht zu ethnischen Säuberungen kam.

In seiner Einleitung legt Mann insgesamt acht Thesen dar, die er in den anschließenden darstellerischen Teilen überprüft. Demnach waren "mörderische Säuberungen" erstens ein modernes Phänomen, das sich im Zeitalter der Demokratie vollzog. Zweitens hätten sich viele Konflikte, die zu ethnischen Säuberungen führten, in der Regel dort entwickelt, wo die Ethnizität der Klassenzugehörigkeit als Kriterium der sozialen Schichtung den Rang ablief. Drittens drohten die Konflikte immer dann zu eskalieren, wenn zwei alteingesessene ethnische Gruppen einen aus ihrer Sicht legitimen Alleinanspruch auf das Staatsterritorium erhoben. Viertens radikalisierten diese sich, falls sich in diesem Umfeld entweder die stärkere Seite im Besitz überwältigender militärischer Macht glaubte oder die schwächere von außen zum Kämpfen ermutigt wurde. Fünftens markierte der Zerfall eines Staates in einzelne Splittergruppen, wie er sich in einem labilen geostrategischen Umfeld oder einem Krieg vollzog, einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einer ethnischen Säuberung. Sechstens lag diese in den meisten Fällen nicht in der ursprünglichen Absicht der Akteure, sondern entwickelte sich als Konsequenz eines kontingenten Zusammenspiels zwischen Personen, Institutionen und Organisationen. Als Täter traten siebtens hauptsächlich radikale Eliten, militante Gruppen und Milizen sowie eine kleine, aber treue Anhänger- und Zuträgerschaft aus der Mitte der jeweiligen Gesellschaft in Erscheinung. Achtens schließlich waren die Täter keine Psychopathen, sondern wurden durch strukturelle Konstellationen dazu gebracht, ethnische Säuberungen zu begehen.

Manns Methode ist, wie auch in seiner mittlerweile in drei Bänden vorliegenden "Geschichte der Macht", die von den Anfängen der Menschheit bis zum Ersten Weltkrieg reicht, eine makrosoziologische. Er interessiert sich in erster Linie für die in Institutionen eingebetteten Interaktionsbeziehungen und Machtbalancen; ein Ansatz, den er als "organisatorischen Materialismus" bezeichnet hat. Auch in der vorliegenden Studie steht jenes Verhältnis von gesellschaftlichen Strukturen und Individuen im Mittelpunkt. Ausführlich behandelt Mann die Entwicklungen, die zu ethnischen Säuberungen führten, wogegen die Tötungsakte selbst nur kursorisch Erwähnung finden. Exemplarisch lässt sich dies anhand seiner Analyse des Holocaust zeigen, die mit fast 200 Seiten Umfang den Kern des Buches bildet. In Anknüpfung an seine vergleichende Monografie "Fascists" aus dem Jahr 2004, die bislang nicht ins Deutsche übersetzt wurde, wendet er sich darin insbesondere den NS-Tätern und ihren autochthonen Kollaborateuren zu. Anhand einer Stichprobe von 1581 deutschen "Kriegsverbrechern" zeigt Mann, dass diese Täter mehrheitlich aus den Grenzgebieten des Deutschen Reiches beziehungsweise den durch den Versailler Vertrag 1919 abgetrennten Territorien stammten. Dabei waren Akademiker und Angehörige des öffentlichen Dienstes überrepräsentiert, landwirtschaftliche oder industrielle Berufe dagegen deutlich unterrepräsentiert. Im Unterschied zu Saul Friedländer, der den "Erlösungsantisemitismus" in den Mittelpunkt seiner Interpretation des Holocaust gestellt hat, hebt Mann eher die kumulativen, durch Strukturen, Institutionen und Subkulturen vermittelten Erfahrungshaushalte der Täter hervor. Besonderen Wert legt er auf deren Karrieremöglichkeiten, die oftmals einen weiteren Beweggrund für die Beteiligung an Massenmorden gebildet hätten.

Jene ausführliche Soziografie der NS-Täter, die eine genuine Forschungsleistung des Autors darstellt, wirft eine zentrale Frage auf: Wenn diese Täter in der Regel aus Gebieten kamen, in denen der "Volkstumskampf" tobte, wie es zeitgenössisch hieß, weshalb wurden dann nicht Dänen, Tschechen, Polen, Ukrainer, Franzosen oder Russen zu ihren Opfern, sondern die nach biologischen Kriterien definierten europäischen Juden? Nicht nur an diesem Problem wird deutlich, dass sich der Holocaust nicht einfach unter dem Begriff der ethnischen Säuberung subsumieren lässt, sondern ein Völkermord sui generis war. Im abschließenden Kapitel, in dem er seine Eingangsthesen kritisch rekapituliert, gesteht Mann dies dann auch mehr oder minder zu. Demnach weise der Holocaust "zu viele Besonderheiten auf, um in irgendein allgemeines Modell zu passen". Zwar hat dessen "Universalisierung" (Daniel Levy/Nathan Sznaider), die sich im Gefolge der Jugoslawien-Krise seit den 1990er-Jahren vollzog, in der internationalen Politik, in wissenschaftlichen Untersuchungen und im alltäglichen Sprachgebrauch zusehends dazu geführt, den NS-Genozid an den europäischen Juden als ethnische Säuberung zu verstehen. Für den Historiker bleiben beide dennoch distinkte Phänomene, deren Unterschied (nicht nur) daran zu erkennen ist, dass der Holocaust einen eigenen Namen hat.

Im Grunde genommen liefert Mann zwei Bücher in einem: Einerseits behandelt er die Ursachen ausgewählter ethnischer Säuberungen, ohne daraus eine Theorie im reinen Sinne des Wortes zu destillieren, andererseits den Holocaust. Seine Fallstudien vermögen zu überzeugen, sind teilweise gar brillant. Die Bilanz des Buches fällt dennoch kritisch aus. Zum einen oszilliert Manns Terminologie zwischen ethnischer Säuberung, Ethnozid, Fratrizit, Klassizid und Politizid; allesamt hoch umstrittene Begriffe, über die in der Forschung keine Einigkeit besteht. Zum anderen bombardiert er den Leser mit einer Vielzahl an Hypothesen, die er im weiteren Verlauf seiner Untersuchung dann teils relativieren, teils sogar völlig zurücknehmen muss. Seine Fallanalysen zeitigen sehr unterschiedliche Ergebnisse und hängen vom Stand der Forschung zum jeweiligen Thema ab, denn generell basiert seine makrosoziologische Herangehensweise fast ausschließlich auf Sekundärliteratur. Eine solide Vergleichsgrundlage lässt sich daraus nicht gewinnen. Am schwierigsten zu verstehen ist jedoch, was Manns Ausführungen mit "Demokratie" zu tun haben, wie es der plakative Titel des Buches und dessen unpassendes Umschlagbild - die ersten Bankreihen eines Plenarsaales - suggerieren. Am ehesten nachzuvollziehen ist der von Mann konstatierte Zusammenhang zwischen sich etablierenden demokratischen Nationalstaaten oder auch Siedlerdemokratien und ethnischen Säuberungen. Dass solche Staatsgründungen, zumal im 19. Jahrhundert, oft mit dem Versuch der Homogenisierung des Staatsvolks auf Kosten ethnischer Minderheiten einhergingen, ist von der Nationalismusforschung bereits hinlänglich aufgearbeitet worden. Insofern bleibt es das Geheimnis des Autors, was er darüber hinaus eigentlich unter der "dunklen Seite" der Demokratie verstehen will.


Titelbild

Michael Mann: Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung.
Hamburger Edition, Hamburg 2007.
862 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783936096750

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