Fesselnd bis befremdend

Über das Goethe-Jahrbuch 2006

Von Heidi-Melanie MaierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heidi-Melanie Maier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft versammelt auf 441 Seiten vier Vorträge des Symposiums für junge Goetheforscher, acht Abhandlungen, drei Beiträge unter der Rubrik "Dokumente und Miszellen" und 33 Rezensionen.

Einleitend finden sich vier von sieben auf dem Symposium junger Goetheforscher 2005 gehaltenen Vorträge. Einen thematischen Schwerpunkt gab es wie bei den bis dato abgehaltenen Symposien nicht. Ziel war und ist jeweils, die Breite der "jungen" Goetheforschung zu dokumentieren. Dies schlägt sich bei den hier abgedruckten Vorträgen in gänzlich unterschiedlichen Themenstellungen wieder. Goethes Mittelalterbild (Stefan Keppler) wird vorgestellt, Schillers Bearbeitung des Egmont (Steffan Davies) und Goethes Tragödientheorie (Marie-Christin Wilms) kritisch hinterfragt sowie Felix Mendelssohns Goethebild (Hanna Stegbauer) vor dem Hintergrund von Mendelssohns "Italienischer Symphonie" evaluiert.

Diese thematische Vielfalt entspricht der des gesamten Jahrbuches. Stellvertretend herausgehoben seien drei Aufsätze, die sich unter verschiedenen Gesichtspunkten mit der Identität(-skonstruktion) Goethes befassen.

Dirk von Petersdorff untersucht in seiner sich theoretisch auf der Höhe des aktuellen wissenschaftlichen Diskurses bewegenden Aufsatz ",Ich soll nicht zu mir selbst kommen'. Werther, Goethe und die Formung moderner Subjektivität" den Zusammenhang der Subjektkonstitution bei Goethe und deren literarischer Umsetzung im "Werther". Nach einer klugen Einbettung in die sozialgeschichtlichen Entstehungsbedingungen des Romans, die sich in dessen "sozialer Energie" niederschlagen, exemplifiziert Petersdorff die drei Lebensbereiche "Natur", "Liebe" und "Gesellschaft", innerhalb derer Werther vergeblich versucht, eine (sich an-)passende Identitätsfolie zu entwickeln. Dabei stellt der Autor vorsichtig und überzeugend die Verbindung zu Goethes eigenen Selbstentwürfen her, die sich nach der Werther-Phase anders gestalteten als davor: "Identität wird auf mehrere Felder verteilt, und so wird der Zwang zur Reinheit verabschiedet, werden Mischungsverhältnisse akzeptiert. Aufgegeben wird die Fixierung auf das Subjekt, auf das Innere, und es werden als objektiv angesehene Bedingungen gesucht." So zeigt Petersdorff letztlich, dass Literatur nicht nur aus dem Leben schöpft, sondern in diesem Fall Goethes Werk als literarisch durchexerziertes Experiment Auswirkungen auf sein Leben hatte. Die soziale Energie des Textes fließt zurück in die Gestaltung des eigenen Lebens, die in Weimar ein funktionierendes Zusammenspiel von Dichteridentität und wirtschaftlich und politisch erfolgreichem Wirken findet.

Der Beitrag Vittorio Hösles Aufsatz "Erste und dritte Person bei Burchell und Goethe: Theorie und Performanz im zehnten Buch von 'Dichtung und Wahrheit'" kommt, so die Herausgeber, "ohne schweres theoretisches Gepäck" aus, ist aber "gleichwohl auf der Höhe aktueller philosophischer Reflexion". Hösle widmet sich einem Grundproblem autobiografischer Darstellung, der Objektivität der Subjektivität. Er verweist auf aufschlussreiche intertextuelle Parallelen zwischen Oliver Goldsmiths "Vicar of Wakefield" und Goethes Darstellung der Sesenheimer Ereignisse, die er einem grundsätzlichen Nachdenken über die textuellen und realen Bedingungen autobiografischen Schreibens im allgemeinen und einer poetologischen Untersuchung von "Dichtung und Wahrheit" folgen lässt. Dabei bezieht er sich versiert immer wieder auf den Autobiografen Goethe und dessen eigene poetologische Einordnung des Werkes: "Wenn aber ein solches [i.e. das Grundwahre darzustellen] in späteren Jahren nicht möglich ist, ohne die Rückerinnerung und also die Einbildungskraft wirken zu lassen, und man also immer in den Fall kommt gewissermaßen das dichterische Vermögen auszuüben, so ist es klar daß man mehr die Resultate und, wie wir uns das Vergangene jetzt denken, als die Einzelheiten, wie sie sich damals ereigneten, aufstellen und hervorheben werde." Umso befremdender klingen ( aufgrund der überaus schlüssigen Herleitung der Bedingungen autobiografischen Schreibens und der umfassend subjektiv gestalteten Textebenen seine "Ratschläge" an den autobiografischen Schreiber: "Bei der Rekonstruktion der eigenen Vergangenheit ist der Autobiograf daher gut beraten, sich nicht allein auf seine Erinnerung zu verlassen, sondern mit eigenen Erinnerungslücken und -täuschungen zu rechnen und sich zusätzlich auf Erinnerungen anderer sowie auf eigene und fremde schriftliche Dokumente zu stützen. Er muß sich also zu sich selbst nicht nur in erster, sondern auch in dritter Person verhalten, wenn er objektiv sein will." Dies ist eine erstaunliche Erkenntnis, nachdem Hösle zuvor hergeleitet hat, dass jegliches autobiografische Schreiben subjektiv sein muss. Sie tut der Qualität des Textes jedoch nur zwischenzeitlich Abbruch.

Eine gänzlich andere Ebene der Identität Goethes kommentiert Herbert Ullrich in seinem Text "Goethes Skelett ( Goethes Gestalt". Man fühlt sich bei der Lektüre bisweilen an einen Pathologie-Krimi erinnert, die dadurch mindestens ebenso fesselnd wie befremdend gerät. Beigegeben sind dem Text zahlreiche Fotografien des Skeletts, die hier zum ersten Mal veröffentlicht werden und bei der Mazeration Goethes im November 1970 entstanden sind. Sicherlich ist dies für den Literaturwissenschaftler eher ein Seitenarm seines breiten Interesses am Sujet Goethe. Aber Literatur und Leben hängen zusammen. Und mit dem Interesse an der Literatur geht das Interesse am Leben des Menschen Goethes einher.

Das Goethe-Jahrbuch ist für beides immer wieder die entscheidende Quelle.


Titelbild

Werner Frick / Jochen Golz / Edith Zehm (Hg.): Goethe-Jahrbuch 2006. Band 123.
Wallstein Verlag, Göttingen 2007.
441 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783835301153

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