Fast eine Gesamtdarstellung

Als aktualisierte und erweiterte Neuausgabe liegt die von Wolfgang Benz, Hermann Graml und Hermann Weiß herausgegebene "Enzyklopädie des Nationalsozialismus" vor

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die von Wolfgang Benz, Hermann Graml und Hermann Weiß herausgegebene "Enzyklopädie des Nationalsozialismus" liegt mittlerweile in fünfter, aktualisierter und erweiterter Auflage vor. Seitdem der Band 1997erschien, hat er sich zu einem Standardwerk entwickelt. Was könnte diese Bedeutung des Bandes besser belegen als die Tatsache, dass er bei der Internet-Enzyklopädie Wikipedia ein eigenes Stichwort belegt.

Der trotz seiner nahezu 1000 Seiten vom Deutschen Taschenbuch-Verlag in eine handliche Form gebrachte Band ist, so informierten die Herausgeber ihre Leser im Vorwort zur Erstausgabe, "Sachlexikon mit über 1000 Stichworten", zugleich will er, "als Handbuch mit essayistischen Überblicksdarstellungen angelegt", als ein "enzyklopädischer Versuch alle notwendigen Informationen über Institutionen und Organisationen, zu Ereignissen und Begriffen, über Fakten und Daten der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Verwirklichung im NS-Staat bieten." Alle drei Herausgeber dürfen mit gewissem Recht so hohe Ansprüche formulieren, haben sie doch im Laufe ihrer wissenschaftlichen Karriere als Historiker am Münchner Institut für Zeitgeschichte wichtige Grundlagen zur Erforschung des Nationalsozialismus gelegt.

Der Band umfasst in seinem ersten, dem Handbuchteil, 25 "essayistische Überblicksdarstellungen" zu Themenbereichen, die die unterschiedlichen Facetten des Nationalsozialismus beziehungsweise deren Bedeutung für die nationalsozialistische Herrschaft zu beschreiben suchen. Themenbereiche wie "Führer und Hitlerkult" (Autor: Ian Kershaw), "Propaganda" (Winfried Ranke) und "Rassenpolitik und Völkermord" (Konrad Kwiet) umkreisen die ideologisch-programmatischen Grundlagen des Nationalsozialismus. Der ursprünglich vorhandene Beitrag "Ideologie" wurde zugunsten der Platzgewinnung für "Neueinträge und Erweiterungen", gestrichen. Jedoch, so begründen die Herausgeber ihre "schmerzliche Entscheidung", lasse sich das "einschlägige Informationsbedürfnis" mit den vorhandenen Beiträgen sowie den ,verwandten' Lexikoneintragungen gewissermaßen querlesend befriedigen. Weitere Themenbereiche behandeln klassische Politikfelder wie "Außenpolitik" (Bernd-Jürgen Wendt), "Justiz und Innere Verwaltung" (Ernst Ritter), "Sozialpolitik" (Marie-Luiese Recker) oder "Wirtschaft" (Werner Bührer) sowie soziokulturelle Aspekte der Alltags- und Lebenswelt wie "Kunst" (verschiedene Autoren für die Kunstsparten), "Kirchen und Religion" (Kurt Nowak), "Jugend" (Rolf Schörken), "Frauen" (Ute Frevert) oder "Sport" (Wolf-Dieter Mattausch). Der Themenbereich Verfolgung und Widerstand wird in drei Beiträgen "Verfolgung" (Ludwig Eiber), "Emigration" (Marie-Luise Kreuter) sowie "Widerstand" (Hermann Graml) behandelt. Die Beiträge "Weltkrieg 1939-1945" (Thomas Bertram) sowie "Quellen zum Nationalsozialismus" (Heinz Boberach) schließen den Handbuchteil ab.

Der zweite Teil umfasst auf mehr als 500 Seiten das Lexikon. Es ist müßig, darüber zu streiten, ob und welche Stichworte hier möglicherweise fehlen, überbewertet oder zu gering bewertet sind. In jedem Fall erfüllen die namentlich gezeichneten Artikel ihre lexikalische Pflicht. Einzelnen Artikeln sind zudem Literaturempfehlungen beigefügt, was dem Gebrauchswert ebenfalls zuträglich ist. Der dritte Teil des Bandes umfasst das "Personenregister mit Kurzbiographien". Ein fleißiges Unterfangen, das als Service informativen Mehrwert bringt - nicht mehr, aber auch nicht weniger!

Bei einem Unternehmen, an dem mehr als 100 Menschen mitgewirkt haben, kann es nicht verwundern, wenn die Beiträge nicht alle von gleicher Qualität sind. Entscheidend ist aber, dass alle Beiträger von den Herausgebern auf einen nutzerorientierten Mindeststandard verpflichtet worden sind. Für die "essayistischen Überblicksdarstellungen" des Handbuchteils bedeutet dies, dass sie den Lesern eine auf dem aktuellen Stand der Forschung basierende Darstellung bieten, die zudem eine solide Grundlage zur Weiterbeschäftigung mit dem jeweiligen Thema bieten. Im Lexikonteil muss Verlässlichkeit hinsichtlich der Informationen gesichert sein. In beiderlei Hinsicht erfüllt der Band die Anforderungen.

Dass eine solche Enzyklopädie des Nationalsozialismus möglich ist, ist auch ein Ergebnis der in den letzten Jahrzehnten geleisteten Forschungsarbeit zum Nationalsozialismus. Mittlerweile hat diese sich sehr spezialisiert und liefert immer wieder Ergebnisse zu Teilbereichen, die - aus Sicht des interessierten Laien - nur noch schwer in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen sind. Der wird gewissermaßen vorausgesetzt. Doch was in Fachkreisen vorausgesetzt werden darf, kann für eine interessierte Öffentlichkeit nicht ohne weiteres angenommen werden. Die Fülle der Forschungsergebnisse erschwert das zusammenhängende Verstehen, Bezüge und Interpretationen zum Verständnis spezialisierter Einzelstudien müssen erst hergestellt werden. Da aber Gesamtdarstellungen eher selten zu finden sind, hat die Enzyklopädie eine wichtige Funktion: sie sammelt und ordnet das gesamte Einzelwissen und bietet so einen Zugang zum Verständnis des Ganzen. Gleichzeitig fordert sie zur Weiterbeschäftigung auf. Für das eine wie das andere liefert der vorliegende Band die nötigen Informationen.


Titelbild

Wolfgang Benz / Hermann Graml / Hermann Weiß (Hg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe.
dtv Verlag, München 2007.
991 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-13: 9783423344081

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch