Von der Angst, Kafka zu sein
Oder: Warum Axel Sanjosés "vier nach" Lust auf katalanische Gegenwartslyrik macht
Von Jens Zwernemann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWas macht eigentlich eine gute Rezension aus? Sicher, sie sollte nicht zu lang sein, aber auch nicht zu kurz. Nach Möglichkeit sollte sie elaboriert-amüsant geschrieben sein, versetzt mit dem einen oder anderen Bonmot. Objektiv-informativ, aber dennoch subjektiv-wertend sollte sie möglichst klar zu erkennen geben, ob es sich lohnt, sauer verdientes Geld für das besprochene Buch auszugeben. Doch wenn man ehrlich ist, dann wird man sich eingestehen müssen, dass das Lesevergnügen um ein Vielfaches steigt, wenn der Rezensent - respektive die Rezensentin - das eine oder andere Haar aus der literarischen Suppe fischt und gar beginnt, dem entsprechenden Autor inhaltliche Inkompetenz, sprachliche Insuffizienz und stilistische Inkonsequenz vorzuwerfen. Noch sehr viel unterhaltsamer allerdings wird es, wenn besagter Rezensent - oder natürlich besagte Rezensentin - selbst auf dem Eis einbricht, auf dem man eben noch den Autor ausrutschen sah: Ein inhaltlicher Fehler hier, ein falsches Zitat da, ein zwar prätentiöses aber falsch geschriebenes Fremdwort, eine Metapher, die keinen Sinn macht und dann noch ein Lapsus, der zeigt, dass das Wissen des Rezensenten über den Gegenstand seiner Ausführungen auch eher begrenzt ist. Erst wenn all diese Punkte in glücklicher Koinzidenz zusammentreffen, garantiert die Besprechung höchsten Lesegenuss bei gleichzeitig größtmöglichem Unterhaltungs- und Informationswert.
Gesetzt dem Fall, dass diese (zugegeben: nur vorläufige) Bestimmung vom Wesen einer guten Rezension zutrifft, so vermag das Folgende leider keine gelungene Besprechung mehr zu werden. Dies soll nicht daran liegen, dass der Rezensent nicht gerne bereit wäre, das Seinige dazu beizutragen, um durch den einen oder anderen Fehler diese Besprechung im obigen Sinne zum Erfolg werden zu lassen, doch an Axel Sanjosés "vier nach" fundamentale Schwächen zu entdecken, so viel sei schon jetzt verraten, wird schlechterdings kaum möglich sein. Dabei erübrigt es sich zunächst (wieder einmal), ein Loblied auf die Münchner Stiftung Lyrik Kabinett zu singen. Andererseits - da heutzutage viel zu wenig gelobt wird, sei es dennoch wenigstens angestimmt. In Zeiten, in denen sich viele Verlage ganz im Sinne der Gewinnmaximierung nur noch darum bemühen, möglichst bestsellerverdächtige Massenware in möglichst billiger Aufmachung auf den Markt zu werfen, haben sich die Münchner von dieser Form des literarischen 'fast food' distanziert und veröffentlichen genau das, was jedem McKinsey-Verlagsberater den Schlaf rauben würde: Lyrik - fremdsprachige noch dazu, Orchideenliteratur, von der meist nur wenige Interessierte überhaupt je gehört haben. Diese wird dann auch noch aufwendig übersetzt und in zweisprachigen Ausgaben veröffentlicht, deren wundervoll blaue Umschläge an sich bereits Grund genug sind, um sie sich alle ins heimische Bücherregal zu stellen.
So auch im vorliegenden Fall: "Katalanische Lyrik nach der Avantgarde" ist es, die der Herausgeber und Übersetzer Axel Sanjosé vorlegt. Zwar, so stellt er in seinem Vorwort fest, könne man nicht gerade behaupten, dass "Katalonien [...] eines der Epizentren der europäischen Avantgarde gewesen" sei, doch mit Gaudí, Miró, Tàpies und Dalí hat die Region dennoch einige bedeutende Größen der Avantgarde vorzuweisen. Die Literaten hingegen, die Sanjosé aufzuzählen weiß, sind außerhalb Spaniens wohl schon weitaus weniger bekannt: Joan Salvat-Papasseit, Joan Brossa und Josep Vicenç Foix. Der Bekanntheitsgrad der vier ausgewählten Gegenwartslyriker dürfte sich, zumindest in Deutschland, ebenfalls eher in Grenzen halten. Enric Casasses, Eduard Escoffet, Arnau Pons und Victor Sunyol sind es, die Sanjosé dem hiesigen Lesepublikum näher bringen möchte. Frauen sind dabei in dieser Sammlung nicht vertreten; deren Abwesenheit erklärt der Herausgeber damit, dass experimentelle Lyrik in Katalonien wohl noch primär Männersache ist: "Was wir [...] im Vorfeld festgestellt haben, ist eine statische Dominanz männlicher Autoren auf den Feld des Experimentellen". Da es bei der Zusammenstellung des Bandes ebenso wie der diesem zugrunde liegenden Lesung weder "um Proporz oder Quote" gegangen sei, habe man folglich darauf verzichtet "einer falsch verstandenen Political Correctness zuliebe nachträglich eine Repräsentantin hinzuzuwählen."
Der erste, der in diesem Band vertretenen Lyriker, ist der 1979 geborene Eduard Escoffet, der sich insbesondere der visuellen und lautpoetischen Lyrik verschrieben hat. Bemerkenswert ist sein Gedicht "angst", in dem er - respektive das lyrische Ich - nicht nur bekennt, Angst davor zu haben, Kafka, Stalin, eine Olive mit Sardellenfüllung oder gar eine Garnele zu sein, sondern auch, dass er sich am meisten davor fürchtet, "nicht du zu sein". Der zweite Lyriker, Victor Sunyol (Jahrgang 1955), zählt zu den führenden Literaten Vics, der ,heimlichen Kulturhaupstadt' Kataloniens, wobei seine Sprachexperimente radikal mit der Vorstellung der konventionellen Bedeutungen von Worten brechen. Es ist daher eine primär nicht-referentielle Sprache, die er einsetzt. So auch in dem Cristina Cervià gewidmeten Gedicht, das Sunyol offenbar während einer Vorstellung von Sarah Kanes "4.48 Psychose" verfasste: "wie wo das wort blutet wo spiegel wo messer, dort. wo der tod noch nicht aber doch schon, und nur vor eis brennend, nagend. diese, diese, wenn weder jetzt noch wann, diese noch zeit. noch die figur im hintergrund. [...]".
Herausragend ist das Prosagedicht "Austrocknung" des 1965 geborenen Arnau Pons, in dem dieser die Perspektive eines Wasserspeiers einnimmt: "Ich war ein Wasserspeier zwischen Moosflechten und unter mir, ganz unten, fremd, da war die Welt. Ich zog mich zusammen, gab mir Flügel. Spie mein Rachen in vollem Strahl, so sang er später ein Tröpfeln nur, wie hingekritzelt, bittren Saft, ganz unbestimmt, der fiel herab vom Himmel: Rotz-und-Tau. [...]". Den Abschluss des Bandes bilden Gedichte des 1951 geborenen Enric Casasses, dessen letztes Gedicht adäquater Weise mit den Versen: "DIE KREATIVITÄT IN DER KUNST / MACHT NUR UMSTÄNDE" endet.
Dass sich über Geschmack im Grunde nicht und letztlich dann doch trefflich streiten lässt, wird im Angesicht post-avantgardistischer Lyrik überdeutlich: Ob man sich mit den versammelten Gedichte auseinandersetzen mag oder nicht, wird letztlich eine Frage persönlicher Präferenz sein. Wünschenswert wäre es gewesen, dass Sanjosé den etwas spärlichen Anmerkungsapparat ausgeweitet hätte, was insbesondere dem Verständnis der Sunyol-Gedichte dienlich gewesen wäre; dennoch bemerkens- und hervorhebenswert ist aber auf jeden Fall die Tatsache, dass der Übersetzer und Herausgeber diese Gedichte dem deutschen Publikum zugänglich machte. Dabei bleibt zu hoffen, dass aufgrund der recht unterschiedlichen poetischen Ansätze der einzelnen Dichter für jeden Lyrik-Geschmack etwas dabei sein wird. Um das allerdings herauszufinden, wird es wohl unumgänglich sein, sich den Band möglichst umgehend zu besorgen.