Wanderungen durch zertrümmerte Zahl- und Textlandschaften.

Jutta Nickel entwickelt in "Revolutionsgedanken" neue Lesarten der Texte Heinreich Heines

Von Esther KilchmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Esther Kilchmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die philosophische Dimension von Heinrich Heines Schriften ist in der Forschungsliteratur nach wie vor unterrepräsentiert. Wie produktiv deren Erarbeitung sein kann, zeigt Jutta Nickels kluge Studie "Revolutionsgedanken. Zur Lektüre der Geschichte in Heinrich Heines Ludwig Börne. Eine Denkschrift". Es ist ein Kernthema von Heines Werk, das hier überraschend neue Beleuchtungen erfährt: die Revolution. Untersucht werden zusammen mit der Denkschrift auch "Briefe aus Polen", "Romanzero", "Ideen. Das Buch LeGrand" und die "Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland". Differenziert weist die Autorin nach, auf welche Weise sich Heines Herangehensweise an "Revolution" ebenso wie an den Begriff der "Freiheit" grundlegend von jener Börnes und anderer Vormärz-Autoren unterscheidet. Dabei wird gezeigt, dass Heines Denken ebenso aus der Auseinandersetzung mit Hegel wie mit der jüdischen Tradition und der Erarbeitung eines modernen jüdischen Selbstverständnisses heraus zu begreifen ist. Hier führt Nickel eine Forschungsrichtung fort, die sich in den letzten Jahren intensiv der Entzifferung des 'jüdischen Schriftzuges' in Heines Werk widmete, insbesondere schließt sie an die Untersuchungen Klaus Brieglebs an.

Ziel der Studie ist, das "dichtende 'Ich' auf seinen Wanderungen durch die weltgeschichtliche Textlandschaft zu beobachten." - Eine weltgeschichtliche Textlandschaft, die sich aus jüdischem Blick als eine nach dem Rückzug Gottes darstellt, mithin als eine zertrümmerte, die ihre Allegorie in der bloß konsonantischen und somit unvollständigen Buchstabenfolge der hebräischen Schrift findet. Wie die Schrift, so fordern auch die Trümmer der Geschichte eine Lektüre. Beides ist verbunden und meint gleichzeitig den Versuch einer Restauration des verlorenen Gottesnamens. Daran, so Nickel, schließe auch die poetische Arbeit Heines an, die sie gegenläufig zur philosophischen Hegels bestimmt: sie zertrümmere nicht wie letztere, sondern habe die Aufgabe, "Textsplitter aus dem zerschlagenen Buchstabenarchiv der Geschichte auf[zu]lesen". Gelesen werden aber nicht nur Buchstaben, sondern auch Zahlen, und so wird Heines Thematisierung des Geldes in den Kontext des Projektes einer Entzifferung der modernen Natur Gottes gestellt.

Als wichtigen theoretischen Bezugspunkt ihrer Lektüre nennt Nickel die Geschichtstheorie Walter Benjamins. Auch Heine gehe es in seiner Lektüre der Geschichte und in der Deutung der Revolution um die Herauslösung von Konstellationen des Erwachens. So plausibel eine Lektüre Heines mit Benjamin ist, bleibt der explizit erhobene theoretische Anspruch dieser Vorgehensweise doch uneingelöst. Eine eingehendere Besprechung von Benjamins Modell und den Ähnlichkeiten und Differenzen, die sich zu Heines Lektüre von Geschichte ergeben, wäre hier nötig gewesen. So hingegen läuft die Untersuchung zuweilen Gefahr, Begriffe zu überblenden und Unverständlichkeiten zu produzieren. Insgesamt hätten der Arbeit etwas weniger Hermetik, eine nachvollziehbarere Herleitung der Thesen und einige systematische Begriffsklärungen - zumindest in der Einleitung - gut getan. So hingegen wird die Lesbarkeit stellenweise sehr erschwert, nicht zuletzt auch wegen der durchgängig allzu verdichteten Schreibweise und des sperrigen Stils.

Dennoch ist "Revolutionsgedanken" eine herausragende Arbeit für die Heineforschung und insbesondere in zwei miteinander verbundenen Punkten wegweisend: Erstens werden die Revolutionsgedanken Heines aus der Konstruktion einer "selbstbewussten Knechtschaft Israels" heraus aufgeschlüsselt und mithin aus einer spezifischen Reflexion von Hegels 'Herr und Knecht'-Figur. Vor diesem Hintergrund wird auch die Börne-Figur neu begriffen. Zweitens wird durchgängig - und für viele Texte erstmalig - der zuweilen verborgene biblische Intertext von Heines Schriften herausgearbeitet. Daraus entwickelt die Autorin neue Lesarten scheinbar bekannter Texte. So wird beispielweise im Kapitel "Helgoland-Jerusalem. Zur Restauration des Gottesnamen in Heines Briefen aus Helgoland" überzeugend die These vertreten, dass die Briefe nicht wie üblich als Dokument der politischen Erweckung des Dichters durch die Julirevolution zu lesen seien, sondern als "Testament der Idee einer Revolution [...], deren Möglichkeitsbedingung nicht an Dynamisierung und Akzeleration stets ungeheuer bedeutungsgeladener tagespolitischer Ereignisse, [...] sondern, gleich dem dialektischen Bild, an den Stillstand der Zeit gebunden ist." Gerade indem das "Ich" hier gleichzeitig jüngste Revolutionsnachrichten und das Alte Testament lese, werde in den Briefen "das zeitliche Moment der Revolution stillgestellt".

In Nickels Lesart ist dann auch nur vordergründig Paris die Referenz der Briefe, im Kern jedoch Jerusalem, der zertrümmerte Wohnsitz Gottes. Insgesamt will die Autorin mit den Verweisen auf den biblischen Intertext besonders die Figur der Klage bei Heine neu akzentuieren, die in Zitation des Psalmes 137 ("An den Wassern zu Babel...") vom Früh- bis ins Spätwerk hinein "den Schmerz und zugleich die Liebe zur Herkunft als Zentrum des modernen jüdischen Selbstbewusstseins erinnern".


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Jutta Nickel: Revolutionsgedanken. Zur Lektüre der Geschichte in Heinrich Heines "Ludwig Börne. Eine Denkschrift".
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2007.
274 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783895285837

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