Ganz schön verrückt

Wilhelm Speyers ungemein lebendiger Roman über die neue Frau, den neuen Mann und das neue Berlin erscheint in einer Neuausgabe

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So lernen wir Charlott kennen: Auf der Fahrt über die Automobil-Verkehrs- und Übungs-Straße, kurz Avus, bei der sie aus dem Auto herausholt, was sie will. Immerhin soviel, dass es ihrem männlichen Begleiter Holk den Atem verschlägt. Zwar sind es nur 130 Sachen, auf die sie den Wagen beschleunigt - vergleichbare weibliche Geschwindigkeitsräusche finden heute sicherlich jenseits der 200 Stundenkilometer statt -, aber dieser Charlott ist anzumerken, dass sie weiß, was sie will und das auch noch in jedem Fall bekommt. Und dass Tempo ihre Existenzform ist. Charlott ist jung, knapp 21 Jahre alt (in einem fiktiven Jahr 1906 geboren), sie ist lebendig, sie ist schlank, sie ist eine neue Frau, ohne Zweifel.

Dazu ist sie ein Ideal, wie es in Wilhelm Speyers Roman "Charlott ein bißchen verrückt" heißt: "eine antike Göttin mit den Hüften und den Brüsten des 20. Jahrhunderts". Ganz anders ihr Ex-Ehemann Justus Verloh, der der genaue Gegenentwurf Charlotts ist. Sein Ideal ist ein 250 Pfund schwerer chinesischer Staatspräsident. Er verweigert sich dem Bewegungs- und Schlankheitsideal seiner Zeit, er ist phlegmatisch und elegant gekleidet, und ein ungemein leichter Tänzer, ja geradezu der "Gott des Charlestons". Und Charlott - kaum von ihm geschieden - will ihn wieder heiraten. Nur leider ist Justus zwischenzeitlich - vermeintlich - verarmt (natürlich ist alles gelogen).

Da hilft es nichts, die Erbschaft muss her (wenn es denn eine gibt, und es gibt eine). Nur schade, dass Charlott die anderthalb Millionen erst in fünf Jahren erhalten soll. Und die Erbverwalterin Cornelia (eine gut erhaltene 45jährige hätte man früher gesagt, damals aber eine perfekte, harte und hennarot und mit allen Wassern gefärbte Geschäftsfrau) rückt keinen Pence der Erbschaft heraus, bevor Charlott nicht 25 ist. Das alles natürlich unverzinst. Fünf Jahre, und das unverzinst, ist aber eine viel zu lange Zeit.

Es hilft also ein weiteres Mal nichts: Wer so hartleibig ist, der muss betrogen werden. Deshalb zieht Charlott ein großes Manöver auf, an dessen Ende sie die "bedeutendste Publikation menschlichen Geistes" entgegennimmt, einen Scheck über anderthalb Millionen Britische Pfund. Das wäre auch heute noch ein großes Vermögen, wieviel erst in den damaligen Zeiten?

Wilhelm Speyer, der Charlott erfunden hat ("alles erfunden, wozu ist man Romancier" lässt er eine seiner Figuren sagen), ist vielleicht noch den leidenschaftlichen Kinderbuchlesern bekannt, durch den "Kampf der Tertia" oder durch dessen Fortsetzung "Die goldene Horde". Selbstverständlich hat der 1887 in Berlin als Sohn einer jüdischen Fabrikantenfamilie geborene Speyer noch viel mehr geschrieben. Die Bücher des Erfolgsautors, der 1933 in österreichische, 1938 ins französische Exil ging, sind heute aber nur noch im Antiquariat zu haben. Bis eben auf "Charlott", die Walter Fähnders und Helga Karrenbrock endlich wieder in einer Neuauflage herausgebracht haben. Keiner der großen Publikumsverlage hat sich jedoch dieses Kleinods der deutschen Unterhaltungsliteratur angenommen, sondern der leider nur unter Germanisten bekannte Aisthesis Verlag in Bielefeld. Anscheinend sammeln sich in Bielefeld nicht nur durchgedrehte Systemtheoretiker, sondern auch noch andere Verrückte - ohne die unsere Welt um so manch schöne Idee und manch liebenswerte Buch ärmer wäre. Wilhelm Speyers "Charlott" also nicht bei Ullstein, Fischer, Rowohlt oder dtv - sondern bei Aisthesis. An die beiden waghalsigen Verleger dafür schon einmal den besten Dank.

Was "Charlott" so bemerkenswert und liebenswert macht? Die Leichtigkeit, Frische und Heiterkeit, die Speyer nicht nur seiner kleinen, gut 200 Seiten umfassenden Erzählung gegeben hat, sondern auch seinen Figuren, seiner Szenerie, seinem Berlin und seinem Paris. Das bohemistische Berlin der 1920er-Jahre ist selten so genau und ironisch geschildert wie in Speyers "Charlott", dabei ohne Häme und ohne den bitteren Spott, den man manchmal sogar Erich Kästners "Fabian" anmerkt. Spott ist okay, aber freundlich soll er sein. Und Speyer ist freundlich.

Natürlich ist die Geschichte ein großer Schmarrn. Der groß angelegte Betrugsversuch, den Charlott inszeniert, um ein paar Jahre früher an ihre Erbschaft zu kommen, ist so durchsichtig, wie er nur sein kann. Darauf fällt nicht einmal eine Cornelia herein. Aber weiß der Himmel warum, der Spaß ist ihr am Ende immerhin so viel wert, dass sie bereitwillig das gewünschte Geld auszahlt (es bekommt ja keine Arme, wie sie weiß, denn sie durchschaut Justus' Betrug) und das Ganze in einer grandiosen Hochzeit enden kann. Ein "triviales" Buch, diese "Charlott", kein Zweifel. Kein Schimmer vom wahren Elend dieser 1920er-Jahre, kein Hinweis auf die politischen Kämpfe, Brüche und Bewegungen, und dennoch ist es große Unterhaltung, amüsant und endlich wieder neu zu haben.


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Wilhelm Speyer: Charlott etwas verrückt.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2007.
230 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783895286469

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