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Zwei Bücher zu Lesekanon und Literatur um 1968

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die '68er Bewegung lebt zumindest auf dem Papier weiter. Vor allem in Jubiläums- oder Gedenkjahren ist der Ausstoß an Autobiografien, an Essayistischem, wie auch an Dokumentationen und wissenschaftlicher Literatur enorm. 2008, im Jahr nach dem Gedenken an den deutschen Herbst 1977, dürfte dieser Trend einen neuen Höhepunkt erreichen.

'Auf dem Papier' ereignete sich allerdings auch in den späten 1960-Jahren mutmaßlich sogar mehr als auf der Straße. Die Akteure der Studentenbewegung und ihre Gegner tendierten durchaus nicht so notorisch zu nackter Gewalt, wie es die uns allen vertrauten Bilder von damals suggerieren wollen. Gewiss lässt sich auch die Geschichte der APO als Politik- und Ereignisgeschichte schreiben. Sie beginnt dann spätestens mit der Ermordung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 und endet frühestens mit dem Genickschuss für Hanns Martin Schleyer im Oktober 1977. Doch während dieses Zeitraums der revolutionären und dann zunehmend terroristischen Eskalationen liefen auch und vor allem unspektakuläre und doch Mentalitäten prägende Prozesse des Lesens, Schreibens und Diskutierens ab, die intellektuelle Sozialisation einer Studentengeneration.

Hinzuweisen ist auf zwei nicht mehr ganz taufrische Bücher, die auf je eigene Weise den Schwerpunkt auf Lesen und Schreiben der '68er legen. Die von Rudolf Sievers zusammengestellte "Enzyklopädie" betreibt zunächst Etikettenschwindel. Handelt es sich doch bei dem Band keineswegs um ein Lexikon oder Handbuch zu den Ereignissen, Themen oder Personen der APO-Zeit, sondern um eine Anthologie einflussreicher, vor und um 1968 entstandener, damals kanonisch gewordener Texte. Hinzu kommt, Seite für Seite als Marginalien, eine bunte Chronik der Ereignisse des Jahres 1968 - als ob "1968" nicht schon vorher begonnen und erst später geendet hätte. Das Ganze als eine "Enzyklopädie des Denkens der außerparlamentarischen Opposition" zu deklarieren, ist, wie der Klappentext selbst einräumt, wahrhaft "unbescheiden", denn von der mutmaßlichen Lektüre der Zeitgenossen und den von ihnen erfahrenen Tagesereignissen ist nicht leicht auf so etwas wie kollektives Denken oder gar einen Wandel von Mentalitäten zu schließen. Bis auf ein knappes einführendes Vorwort fehlen auch die für die Nachgeborenen unerlässlichen Anmerkungen und weiterführenden Informationen, so dass das Buch vor allem eine wertvolle Fundgrube des Quellenstudiums für bereits Vorinformierte sein kann. Es sei denn, es ginge dem Herausgeber Rudolf Sievers mehr um Leser, die um eine identifikatorische Lektüre bemüht sind, und nicht so sehr um solche, die nach historischer Klärung suchen.

Vertreten sind Leitfiguren wie Rudi Dutschke, Hans-Jürgen Krahl und Fritz Teufel, nicht zu vergessen der Peter Handke der "Publikumsbeschimpfung", mehr noch Vorbilder und Vordenker wie Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Wilhelm Reich, Klassiker von Georg Büchner und Karl Marx bis Georg Lukács und Ernst Bloch, Sympathisanten und Wegbegleiter wie Hans Magnus Enzensberger und Jürgen Habermas. Dazwischen und daneben finden sich anonyme Flugblatttexte sowie heute kurios und doch lesenswert erscheinende Texte wie das Pamphlet einer "Basisgruppe des Walter-Benjamin-Instituts" mit dem so schlichten wie ergreifenden Titel "Schafft die Germanistik ab!" Hier lässt sich auch Enzensbergers legendär gewordener "Kursbuch"-Aufsatz zum angeblichen Tod der Literatur nachlesen. Das Verdienst des Quellenreaders kommt der Möchtegern-Enzyklopädie jedenfalls zu. Dass die versammelten Texte, wie wiederum der Klappentext mutig behauptet, "die Aktionen der APO beeinflußten", ist anzunehmen, im Einzelnen ist es allerdings vorläufig kaum nachzuweisen. Und dass, wie Sievers in seinem Vorwort ähnlich lakonisch konstatiert, "mit der Einübung radikaldemokratischer Verhaltensweisen ein Modernisierungsschub ausgelöst" wurde, ist aus heutiger Sicht natürlich ebenfalls evident, während man doch den nicht selten recht weltfremd vor sich hin theoretisierenden oder schwadronierenden Texten heute kaum mehr große Wirkungen zutrauen möchte. Der heutige Leser muss Texte und Bilder aus einer fremd gewordenen Welt vielmehr mühsam entziffern; selbst die Akteure von damals finden ihren Enthusiasmus kaum zwischen den Zeilen wieder. Ein Mitverfasser des Anti-Germanistik-Pamphlets dazu: "Nichts läßt dieser Text von der Erregung, von der Hochspannung erahnen, die dieses Jahr prägten, nichts wird von den Personen, die agierten, sichtbar; man spürt nichts von dem Feuer und der Entdeckerfreude, mit denen dieser Text geschrieben wurde." Eben dies würde sich der Leser wünschen: mehr über die Emotionen in Erfahrung zu bringen, die teils dröge Texte (mit) auslösten, und auch zu erfahren, von wem überhaupt und in welchem Umfang dieser angebliche '68er-Kanon rezipiert wurde.

Die Literatur spielte jedenfalls eine Hauptrolle, und so treten auch Martin Walser, Uwe Johnson und Peter Weiss auf. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Der "Tod der Literatur" wurde von Enzensberger in seinem Kursbuch 15 durchaus als literarische Metapher analysiert und somit dementiert. Vielmehr beklagte er das Fehlen revolutionärer Literatur, die er, der zeitweilig nach Kuba ging, dann gleich selbst produzierte.

Roman Luckscheiter, Autor einer literaturwissenschaftlichen Monografie zum Thema "1968", spricht gleich von einer Krise der Literatur, die sich im Jahr der APO zugleich als 'Sinnkrise' manifestiert und zu deren Überwindung ein Theorieparadigma beigetragen habe, das man in der Regel erst mit den 1980er-Jahren identifiziert, die Postmoderne. Luckscheiter zeichnet dabei ein Krisen- wie auch ein Krisenüberwindungsszenario von metaphysischem Ausmaß, argumentiert also ideen-, wenn nicht mythengeschichtlich. Es geht ihm um Verlust und Wiedergewinnung von Normen und Werten.

Zur Krisendiagnose gehört für Luckscheiter das Ende der Gruppe 47 genauso wie die Debatte um den Literaturkritiker Leslie A. Fiedler, der sich mit seinem Plädoyer zugunsten einer "fröhlichen Unvernunft" in der Literatur zum Herold der literarischen Postmoderne erklärte und kurioserweise unter Faschismusverdacht geriet. Literarische Theorien und Manifeste der '68er untersucht der Verfasser auf ihre Überwindungsversuche der skizzierten Krisensituation hin und erkennt Affinitäten zu postmodernen Idealen. Weniger eine politische Krise, so Luckscheiter, als eine Bewusstseinskrise war die Voraussetzung eines Kompensationsangebots, als das die faktische ästhetische Revolte gelten darf - die im Gegensatz zur politischen Revolution gelang. Die Postmoderne der APO, deren adäquateste Ausdrucksform das Happening war, ist subversiv und subjektkritisch, fördert Gruppenidentitäten und Pluralisiserungstendenzen - doch sie ist nicht revolutionär.

Das Konzept des Buches vermag zu überzeugen; die Materialfülle, die die Argumentation in ihren Verästelungen stützt, spricht für sich. Luckscheiters frühe Postmoderne hat aber auch ihre Schönheitsfehler - denn es mangelt ihr an theoretisch reflektierter Sprachkritik. Sie ist also eine Postmoderne 'vor' und ohne Jacques Derrida (und allenfalls nach und ebenfalls ohne Max Bense), und sie erhebt in ästhetischer Hinsicht eben doch noch Totalitätsansprüche. Dies ließe sich an dem von Luckscheiter (als einzigem) exemplarisch analysierten Text, Bernward Vespers Romanessay "Die Reise", leicht zeigen. Immerhin ist dort eine "Spannung zwischen totalitären Bedürfnissen und ironischer Haltung" erkennbar, werden gängige literarische Formen in ein postmodernes Spiel eingebracht.

Mit Bernward Vesper hat ausgerechnet der Sohn des einstigen nationalsozialistischen Erfolgsdichters Will Vesper vielleicht den Klassiker der APO abgeliefert. Als das Buch 1977 erscheint, hat der Autor längst Selbstmord begangen. Das Gleiche gilt bald auch für die Mutter des gemeinsamen Sohns Felix, einen der Protagonisten der "Reise": Gudrun Ensslin stirbt im Oktober des Jahres in Stuttgart-Stammheim.


Titelbild

Roman Luckscheiter: Der postmoderne Impuls. Die Krise in der Literatur um 1968 und ihre Überwindung.
Duncker & Humblot, Berlin 2001.
191 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-10: 3428103599
ISBN-13: 9783428103591

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Rudolf Sievers: 1968 - Eine Enzyklopädie.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
450 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 351812241X

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