Omnia mutantur

In der neuesten seiner 'Spielarten des Erzählens' spürt Christoph Ransmayr einige höchst merkwürdige "Damen & Herren unter Wasser" auf

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den - an sich recht tröstlichen - Gedanken, dass trotz beständigen Wandels nichts auf der Welt wirklich vergehe, sondern lediglich die Form ändere, lässt Ovid im letzten Buch seiner "Metamorphosen" den griechischen Philosophen Pythagoras äußern: "Keines verbleibt in derselben Gestalt, und Veränderung liebend / Schafft die Natur stets neu aus anderen andere Formen, / Und in der Weite der Welt geht nichts - das glaubt mir - verloren; / Wechsel und Tausch ist nur in der Form. Entstehen und Werden / Heißt nur anders als sonst anfangen zu sein, und Vergehen / Nicht mehr sein wie zuvor."

Mit seinen Ausführungen versucht Pythagoras nicht nur, seine ihm lauschende Zuhörerschar zum Vegetarismus zu bekehren (man weiß ja schließlich nie, wen man da so verspeist), sondern er thematisiert auch jenen Grenzbereich zwischen Seelenwanderung und körperlicher Metamorphose, der in der Begriffsverwirrung von "metempsychosis" und "metamorphosis" Leopold und Molly Bloom in "Ulysses" so eindringlich beschäftigt.

Zugegeben: Die Freude über die Verheißungen der formverändernden Unvergänglichkeit währt für einige sicherlich nur kurz - mag es doch nicht jedermanns beziehungsweise jederfraus Sache sein, sich in einen formidablen Zwölfender am Kopf einer Treibjagd verwandelt zu sehen, in eine Osterglocke, ein körperloses Echo oder gar einen Großflossen-Riffkalmar. Just letzteres widerfährt dem dauertranspirationsgeplagten Herrn Blueher, einem ehemaligen Museumsangestellten mit einer besonderen Vorliebe für flämische Landschaftsbilder des frühen 16. Jahrhunderts. Herr Blueher ist Erzähler in Christoph Ransmayrs unlängst erschienenen bibliophilen Bändchen "Damen & Herren unter Wasser", in dem sich selbiger plötzlich und unerwartet als Vertreter der Spezies Sepioteuthis lessoniana unter dem Meeresspiegel wiederfindet: "Eben noch Museumswärter. Jetzt Riffkalmar. Ein Wunder?"

Als siebten Beitrag zu seinen seit 1999 in loser Folge publizierten 'Spielarten des Erzählens' wählte sich Ransmayr die Bildergeschichte, ein Genre, das ihn - nach eigenem Bekunden - an die bildgestützten Schreibübungen aus Schulzeiten (neudeutsch wohl als creative writing zu bezeichnen) erinnere. Dass es ihm dabei, das Vorwort als "Brief aus der Wüste" in der Marokkanischen Sahara schreibend, gelingt, narrativ ebenso überzeugend wie überraschend in die Tiefen des Ozeans abzutauchen, liegt nicht zuletzt an seinen Bildvorlagen: Sieben Unterwasserfotografien des österreichischen Künstlers Manfred Wakolbinger von exotischen Meeresbewohnern, deren faszinierende Farbigkeit und anatomische Andersartigkeit sie dem Autor wie "Aliens, so fremd wie Besucher aus den Tiefen des Alls" erscheinen ließen, dienten Ransmayr als Grundlage für seine Geschichte, in der er Ovid zwar nicht so deutlich Tribut zollt wie in "Die letzte Welt", dessen Einfluss jedoch im Thema der Verwandlung stets greifbar ist.

Herausgerissen aus der Sphäre der "japsende[n] Lungenatmer" vermag sich der ansonsten stets wasserscheue Herr Blueher anfangs weder mit seiner neuen Situation noch mit seinem neuen Körper (immerhin schlagen drei Herzen in seinem Kopf) anzufreunden; als er jedoch beginnt, seiner Metamorphose "nicht mehr als Verbannter, Ausgelieferter oder Leidender, sondern mit der Hingabe und Neugier eines Forschers" zu begegnen, erscheint ihm seine überraschende Verwandlung schon fast natürlich: "wie die Aufeinanderfolge der Lebensphasen etwa eines Insekts, das aus seinem Ei schlüpft und dann in gelassenem Wechsel die Gestalt einer reglosen, wie für immer in der Erde begrabenen Mumie annimmt, dann zur seidenhaarigen oder borstigen, vielbeinigen und immer noch höchst erdgebundenen Raupe wird, um sich schließlich als prachtvoller oder auch unscheinbarer, wie im Glücksrausch gaukelnder Schmetterling in die Luft zu erheben und alles Vertraute unter sich zurückzulassen."

Nachdem der derart Transformierte in einer tragisch-komischen Episode versuchte, sich einem Taucher verständlich zu machen, dessen Gedanken er auf wundersame, telepathische Weise hören konnte, er selbst von diesem jedoch nur als besonders geselliger Meeresbewohner wahrgenommen wurde, stellt Herr Blueher bald fest, dass er keinesfalls als einziger Ex-Oberweltler zur submarinen Lebensform mutierte: Dabei trifft er zunächst auf den permanent fluchenden Herrn Reddish, der in seinem früheren Leben als Wasserbettverkäufer seinen Lebensunterhalt verdiente, obwohl ihm diese Profession zutiefst zuwider war. Dieser hat mittlerweile seinen roten Opel Kapitän, mit dem er widerwillig die neuesten Kataloge zu seiner Kundschaft transportierte oder zu den von ihm stets gefürchteten Notfällen geplatzter Wasserbettkammern eilte, gegen den ebenfalls leuchtend-roten Körper einer so genannten 'Spanischen Tänzerin' eingetauscht, einer Nacktschnecke, von der er sich nun in Form einer nicht minder roten Imperialgarnele durch das Meer schaukeln lässt: Eine Farbgebung, die seiner zuvor nur versteckt ausgelebten Neigung zum Transvestitismus mehr als entgegenkommt.

Der ebenfalls telepathische "Fischfunk" erlaubt dem nun zunehmend interessiert-forschenden Kalmar den verbalen Austausch mit weiteren Schicksalsgefährten und -gefährtinnen, die er (ganz der Humboldt'schen Forschertradition verpflichtet) zu benennen beginnt: "Daß ich mich als Täufer für englische Namen entschieden habe, ist zugegebenermaßen willkürlich und [...] mit einer Anekdote verbunden, hier mit einer Geschichte aus der Zeit zweier Abendkurse, in denen ich mir Grundkenntnisse in meiner ersten und einzigen Fremdsprache erwarb [...]. Ich entdeckte damals in meinem eigenen Namen das wunderbare englische blue." So begegnet er etwa der ausgesprochen auskunftsfreudigen Frau Horange, einer ehemaligen Schwimmlehrerin, die sich zur fragil-transparenten Kronenqualle wandelte, Herrn Blackthorn, ursprünglich als "Meister Undicht" bekannter Installateur mit einer fast panischen Abscheu vor Rohrbrüchen und Schimmelpilzen, nun unglücklich in Frau Horange verliebter Geisterpfeifferfisch, sowie der Ex-Fischereiministerin und heimlichen Nichtschwimmerin Frau Whitey, die selbst als Flohkrebs die Diktion der Politik nicht abzulegen vermag. Die besondere Favoritin des erzählenden Tintenfischs ist jedoch der Rotlippen-Fledermausfisch Frau Purpleheart, die sich in ihrer irdischen Existenz von der Faschingsprinzessin bis zur Schönheitskönigin mauserte, wobei leider ihre intellektuellen Fähigkeiten - gelinde gesagt - etwas unterentwickelt blieben. Zwar hat sie dieses Defizit auch in ihre neue Existenz hinübergerettet, doch stört sich der ansonsten so tiefsinnige Kopffüßler im Eifer amouröser Verblendung weniger daran, dass die so innig Adorierte seinen philosophischen Gedanken zu Sinn und Zweck ihrer aller Transformation nicht zu folgen vermag, als vielmehr an der Tatsache, dass sie noch immer emotional ihrem (im wahrsten Sinne des Wortes) Verflossenen nachhängt. Einstmals als Staudammbaumeister tätig, der seine Angst vor dem Brechen der von ihm ersonnen Dämme schließlich nur noch mittels schwerer Medikamente unterdrücken konnte, traf Greenfinch, wie ihn der eifersüchtige Tentakelträger tauft, ein besonderes Schicksal: Er verwandelte sich in eine an ihren Rändern phosphoreszierende Nacktschnecke, die, sehr zum Leidwesen Frau Purplehearts, jegliche 'fischfunkende' Kommunikation bald völlig einstellte.

Obwohl ihm nur aus den Erzählungen des rotmundigen Fledermausfisches bekannt, wird Greenfinch für Blueher bald zum Ideal: "Greenfinch [gilt] für mich mittlerweile als Wesen der Zukunft: So oder ähnlich einfach muß unsereins erst einmal werden! [...] Erst jenseits dieser famosesten aller Metamorphosen, dort, wo alle Formen und Gestalten wieder bloße Möglichkeit und keine einzige mehr Wirklichkeit waren, durften doch die alten Kräfte [...] erneut wirksam werden und die verstreuten Trümmerchen dazu verführen, miteinander wieder zu liebäugeln [...] und sich dann Herrgottnochmal! wieder zusammenzutun und niemals gesehene, ja noch nicht einmal geträumte Erscheinungen [...] hervorzubringen, Gestalten und Wesen, grotesker und bösartiger [...], vielleicht aber auch liebevoller und gütiger, als wir es je waren."

In seiner mit scheinbar großer Leichtigkeit geschriebenen Prosaminiatur thematisiert Ransmayr damit einen Gedanken, der so fundamental-tiefgründig ist, dass er jedem guten Viktorianer sicherlich den Schlaf geraubt hätte: Die Vision einer umgekehrten Evolution, allerdings nicht verstanden als Regression, sondern als Teil eines unendlichen Kreislaufs, in dessen Verlauf überkomplizierte (und offenbar nur wenig zufrieden stellende) Lebewesen sukzessive wieder auf ihre Grundbestandteile reduziert werden, um sich anschließend, eventuell mit einem überzeugenderen Ergebnis, neu zusammensetzen zu können - ein Gedanke, der ebenso reizvoll ist wie Ransmayrs Buch.


Titelbild

Christoph Ransmayr: Damen und Herren unter Wasser. Eine Bildergeschichte nach 7 Farbtafeln von Manfred Wakolbinger.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
82 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783100629371

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