Dieses Balzac-Extrakt macht süchtig

Ein schmuckes Romanpaket und Materialien zu Leben und Werk von Honoré de Balzac verführen in den Kosmos der menschlichen Komödie

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Deuschland ist Balzac wohl nie so populär wie in Frankreich geworden. Dort kennt jeder seine genial prägnanten Charaktererfindungen wie den alten, verlassenen Vater Goriot, den Emporkömmling Rastignac, den Geizhals Grandet oder den Meister-Verbrecher und Super-Intriganten Vautrin. Hierzulande hat womöglich erst die Coffeeshop-Kette den Namen des durch reichlich nächtlichen Kaffee aufgeputschten Vielschreibers einem Straßenpublikum bekannt gemacht, das die Abenteuerromane Alexandre Dumas' dem geschichtssatten Romankosmos Balzacs vorzog. Und die deutschen Connaisseurs und Literaturliebhaber bevorzugten meist die vermeintlich oder tatsächlich kunstvolleren Realisten Stendhal und Flaubert gegenüber dem Autor, der, als er erschöpft mit 51 Jahren starb, rund hundert Romane und ähnlich viele Erzählungen geschaffen hatte.

Schon in den 1920er-Jahren hatte der Rowohlt-Verlag eine 40-bändige Balzac-Ausgabe herausgebracht, die freilich mit unzähligen Übersetzungsfehlern oder gar willkürlichen Kürzungen und kleinen Hinzudichtungen verunstaltet war. Die Übersetzer hielten die Texte des hektisch für die neuen Printmedien der in den 1830er- und 1840er-Jahren schreibenden Dandies offenbar für nicht besonders verbindliche Sprachkunstwerke und räumten sich arg weitgehende Freiheiten ein. Diese Ausgabe wurde zum 200. Geburtstag Balzacs 1999 vom Diogenes Verlag (ohne großen Erfolg) wieder veröffentlicht, nachdem schon in den 1970er-Jahren der Bertelsmann Verlag eine überwiegend von Ernst Sander besorgte, zuverlässigere Gesamtübersetzung des Romanzyklus der 'Menschlichen Komödie' veröffentlicht hatte.

Nun publizierte der weiterhin um Balzac bemühte Diogenes Verlag eine klug komponierte und schön verpackte achtbändige Kassette mit einigen der berühmtesten Romane und Erzählungen. Die Bücher sind neu gesetzt und die alten Übersetzungen wurden vom Lektorat des Verlages durchgesehen. Leider erfährt man nicht, wer die neuen Übersetzungen jetzt verantwortet. Und diese Leseausgaben erhalten auch keinerlei Bemerkungen über die Art und Anzahl der Übersetzungsverbesserungen. Die wären übersetzungsgeschichtlich doch von Interesse gewesen. Stichproben ergeben allerdings, dass die überarbeiteten Übertragungen sehr viel zuverlässiger sind als ehedem. Die Bände werden mit jeweils einem kleinen älteren Nachwort aus Dichtermund (etwa Oscar Wildes oder Somerset Maughams) und einem heutigen Einleitungstext (unter anderen von Jörg Drews und Volker Roloff) versehen; für Hinweise auf die Übersetzungsgeschichte scheint da kein Platz mehr übrig. Sehr schön ist die ästhetisch ansprechende Faktur der neuen Ausgabe. Entkleidet man die Bücher ihrer kühlen weißen Schutzumschläge im üblichen Diogenes-Design, so hält man tiefrote Leinen-Bände in den Händen (von den bei mobilem Gebrauch freilich schon nach einmaliger Lektüre der schwarz-goldene Titelaufdruck abbröselt). Dieses tiefe Rot passt wie das sinnliche Leinen unbedingt zur Welt der Leidenschaften, Abenteuer und Sinnlichkeiten, die der große Balzac so phantastisch zu evozieren verstand.

Die plausibel aus dem Riesenwerk ausgewählten sieben Romane und Erzählungen verstehen es, mit Hilfe der Charaktere, Passionen, Ereignisse und Geschichten, die Balzac erfindet und kunstvoll quer durch die verschiedenen Bücher verwebt, den Leser durch Spannung in die Welt der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu ziehen. Gewiss reibt man sich gelegentlich wegen der exaltierten Fähigkeiten seines Personals die Augen, etwa wegen der übermenschlichen Schläue des trickreichen Verbrechers Vautrin oder der ähnlich übermenschlichen Liebe der Kurtisane Esther Gobseck. Doch funktioniert Balzacs häufig melodramatische Übertreibungskunst wohl nicht viel anders als die Mechanismen von Hollywood. Bigger than life muss es schon sein, damit beim Lesen die gewünschten großen Gefühle produziert werden. In Anlehnung an die naturgeschichtliche Bestimmung von (Tier-)Arten und Gattungen erklärte der Romancier in seinem programmatischen Vorwort, sein Riesenzyklus beruhe auf der analytischen Bestimmung menschlicher Sozialtypen, aus deren Anlagen und Kombinationen er dann ein Gesellschaftspanorama entfalte. Die Interpreten rühmen seit über 150 Jahren abwechselnd die unglaubliche gestalten- und geschichtenschöpferische Phantasie dieses Autors und seinen soziologisch überaus wachen Realismus.

Die Kassette enthält die Romane ,Der Talisman oder Das Chagrinleder', ,Vater Goriot', ;Eugénie Grandet', ,Verlorene Illusionen', ,Glanz und Elend der Kurtisanen', ,Vetter Pons oder Die beiden Musiker', und ,Tante Lisbeth'. Außerdem sind die sieben Erzählungen ;Das rote Wirtshaus', ,Eine Leidenschaft in der Wüste', ,Sarrasine', ,Das unbekannte Meisterwerk', ,Colonel Chabert', ,Facino Cane' und'Das Mädchen mit den Goldaugen' enthalten. Neben einer neuen, kompakten Balzac-Biographie von Johannes Willms begleitet der Diogenes Verlag seine willkommene Balzac-Offensive auch mit einer leicht erweiterten Neuauflage seiner von Claudia Schmölders zusammengestellten Anthologie mit Texten zu Leben und Werk des französischen Meistererzählers.

Diese sehr gelungene Materialsammlung enthält Zeugnisse zum Leben des Autors aus so unterschiedlichen Perspektiven wie denen der poetischen Zeitgenossen Lamartine, Gautier und Hugo nebst literaturkritischen Passagen von Saint-Beuve und Taine über Baudelaire und Henry James bis zu Dilthey, Lukacs und Adorno. Neu aufgenommen sind längere Passagen aus Ernst Robert Curtius' großer Balzac-Monografie, die die ersten 100 Jahre der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte informiert nachzeichnen. Die Vorbehalte gegen die moralischen und ästhetischen Ambivalenzen von Balzacs wuchtiger Einbildungskraft wichen erst spät einer Bewunderung seiner Kompositionskunst gerade auch durch Ästheten wie Hugo von Hofmannsthal.

Überraschend ist dann auch das Lob, das der Nouveau-Romancier Michel Butor dem Vernetzungs- und Widerholungskünstler Balzac spendet. Statt als Antipoden der neuen Romankunst der 1960er-Jahre, mithin als einen vorwärtsstürmend, ereignistrunken dahinerzählenden, konventionellen Vielschreiber, erklärt Butor Balzac zum innovativ experimentellen Vorläufer der späteren Romanexperimente:

"Es ist recht amüsant, festzustellen, daß viele der Romane, die man heute als ,balzacisch' charakterisieren würde, von Balzac selbst als servile Imitationen von Walter Scott betrachtet worden wären. Aufschlußreich ist es, bei ihm ein Bestreben festzustellen, das ich das Prinzip der Variation und der systematischen Erforschung der Form nennen möchte. Doch der endgültige Sieg Balzacs über seinen großen Vorgänger und seine Befreiung von ihm zeigt sich in einer außerordentlichen Neuerung, die die Struktur seines Werkes vollständig verwandelt und es ihm ermöglicht, aus einem Roman in der Art Walter Scotts ein Detail oder ein einzelnes Kapitel dessen zu machen, was er als seinen Roman ansieht."

Diese Materialsammlung bietet wie die achtbändige Balzac-Kassette eine lesenswerte Orientierungshilfe für den Einstieg in die Welt Balzacs. Sie enthält ein durchaus nützliches Personenverzeichnis, das mit seinen Kurzcharakteristiken und Auftrittsorten zahlreicher Protagonisten die Orientierung in der etwa 2000 Figuren umfassenden Erzählwelt erleichtert. Und sie bietet das programmatische Vorwort zum Romanzyklus der 'Menschlichen Komödie'. Bei den Interpretationsauszügen überwiegen die älteren Balzac-Hommagen (oder auch Vorbehalte wie etwa von Proust oder Henry James). Wichtige neuere Erläuterungen zur 'Menschlichen Komödie', etwa von Rainer Warning und Hans Ulrich Gumbrecht oder die aufschlussreichen Beobachtungen Karlheinz Stierles zum semiotischen Universum der Stadt Paris im Werk Balzacs fanden leider noch keinen Eingang in diese Anthologie.

Für angefixte Leser, die des Französischen mächtig sind, sei hier noch eine Quelle verraten, wo man Materialien zu Balzac und - viel wichtiger! - seine ganze 'Comédie Humaine' sowie einige weitere Balzac-Texte als verlässlich edierte Online-Texte lesen, durchsuchen und auch herunterladen kann. Das Pariser Musée Balzac bietet auf seiner Homepage nahezu unbegrenzten Nachschub an fesselnden Erzählwerken.

In Balzacs Œuvre verbindet sich auf unvergleichliche Weise ein damals ganz neues und bis heute schwer zu überbietendes soziologisch analytisches Gespür mit der vielleicht unerschöpflichsten und energischsten Einbildungskraft in der Geschichte der Literatur.


Titelbild

Claudia Schmölders / Daniel Keel (Hg.): Balzac Leben und Werk. Essays und Zeugnisse.
Diogenes Verlag, Zürich 2007.
502 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783257226614

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Titelbild

Honoré de Balzac: Glanz und Elend der Kurtisanen. Mit einem Essay von Oscar Wilde Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Emil A. Rheinhardt.
Diogenes Verlag, Zürich 2007.
813 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783257066159

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Titelbild

Honoré de Balzac: Honore de Balzac. Romane und Erzählungen 8 Bände.
Diogenes Verlag, Zürich 2007.
3952 Seiten, 99,00 EUR.
ISBN-13: 9783257066104

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Titelbild

Honoré de Balzac: Vater Goriot.
Mit einem Essay von W. Somerset Maugham.
Diogenes Verlag, Zürich 2007.
352 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783257066135

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