Was uns das karge Leben schuldig bleibt

Eine Biographie über Leo Perutz

Von Oliver VogelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Vogel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wahrscheinlich sollte man all das loben, was das Werk von Leo Perutz befördert, was daran erinnert, was dazu führt, dass jemand die "Steinerne Brücke" oder den "Schwedischen Reiter" liest. Und wahrscheinlich genügt es, zu diesem Zweck eine der Geschichten nachzuerzählen: Die schöne Esther, Frau des Mordechai Meisl, liebt im Traum allnächtlich den Kaiser. Der Kaiser verbringt den Tag wie ein Armer, mit Sorge und Mühe und Plag, und trifft nachts im Traum die schöne Esther, sein einziges Glück, und er sagt zu ihr: "Als du dann kamst und bei mir warst und ich dich hielt, da war es wie ein Wunder oder Traum." Sein Tag vergeht "wie ein Spuk zerstiebt, wie Rauch verweht, und ich bin bei dir. Du allein bist Wirklichkeit."

Aber diese Beziehung im Traum hat Folgen, denn Esther begeht schließlich Ehebruch. Nur im Traum kennt sie diese Sorge. Am Tag aber ist sie froh, daß alles nur ein Traum gewesen ist. Jedoch straft Gott sie und mit ihr die Stadt, in der sie lebt. Der einzige, der davon weiß, ist der hohe Rabbi Loew, denn der ist kundig in der Sprache der Toten. Die Kinder der Stadt sterben und um dieses Schicksal abzuwenden, muss der Rabbi die sich im Traum Liebenden trennen. Er geht nachts unter die steinerne Brücke und gräbt den Rosmarin aus, der dort eng umschlungen mit dem Rosenstock steht. In dieser Nacht stirbt die schöne Esther, die Frau des Mordechai Meisl. In dieser Nacht fährt auf seiner Burg in Prag der Kaiser des Römischen Reiches, Rudolf II, mit einem Schrei aus seinem Traum.

Hier könnte man weitererzählen. Das sind nur wenige Seiten, dies nur einer der ausgetüftelten, der verzweigten, der verrückten Romane von Leo Perutz. 1882 wurde Perutz in Prag geboren, arbeitete - wie fast gleichzeitig Franz Kafka - als Versicherungsangestellter der Assicurazioni Generali, war Anfang des 20. Jahrhunderts ein berühmter und erfolgreicher Schriftsteller. Seine Romane und Erzählungen erzielten hohe Auflagen und sie wurden in Zeitschriften und Zeitungen vorabgedruckt.

Richard A. Bermann schreibt: "Dem Dichter Perutz guckt immer der Mathematiker Perutz über die Schulter. Seine Effekte sind Blut, nicht Wasser oder Jauche. Der erste Einfall ist manchmal phantastisch und irreal; alles andere ist Logik und Mathematik und warmblütige Realität." Perutz' Bücher sind in einem Rausch des Erzählens geschrieben. Vergangenheit und Zukunft sind eins, sind jedenfalls ununterscheidbar. Die handelnden Personen, erzählt von einem unzuverlässigen Erzähler, sind unklare Identitäten in einer Welt, die vom Zufall oder einer anderen geheimnisvollen Macht determiniert zu sein scheint. Ein Sinnzusammenhang ist, auch wenn es ihn geben sollte, nicht mehr vorstellbar, eine Kontinuität nicht absehbar. Und doch erahnt man, bei allem Geheimnisvollen, für Momente die Zauberfäden, die es zusammenhalten. Komödie und Tragödie sind nicht zu trennen. Der Unterschied von Traum und Wirklichkeit ist nicht mehr groß. "Der Traum", heißt es und klingt fast wie eine Antwort auf Faust, "gibt uns mit verschwenderischen Händen, was uns das karge Leben schuldig bleibt. Was man im Traum besitzt, kann einem keine Welt von Feinden nehmen."

Mit den Wahlerfolgen der Nazis wird es für Perutz, der inzwischen in Wien lebt, immer schwieriger zu publizieren, bald unmöglich. Der ausgeklügelte Wahnsinn der Geschichten greift auf ihren Erfinder über. Perutz braucht Wochen, um eine Ausreiseerlaubnis aus Österreich zu bekommen, dem Land in dem er als Einwohner nicht mehr erwünscht ist. Und er braucht Wochen, um ein Einreisevisum des Landes zu bekommen, in das er eigentlich gar nicht wollte. 1938 zieht er unter dem Druck der Nationalsozialisten nach Palästina. Dort bleibt er bis zu seinem Tod 1957 ein unbekannter Schriftsteller. Kurz vor seinem Tod notiert er: "Vor 2 Tagen klopfte zum 1. Mal der knöcherne Finger an. Sonst der Vergessenheit nahe, keine Erfolge mehr, kein Verleger." Er war aus der Literatur entfernt worden. Erst seit Ende der achtziger Jahre, seitdem bei Zsolnay eine zuverlässig edierte Ausgabe erscheint, kann von einer Wiederentdeckung gesprochen werden. Und doch gehört Leo Perutz noch immer zu den Autoren, die gerne übersehen werden. Seine Literatur gehört zu der Spezies, die von der Literaturwissenschaft nicht recht zur Literatur gerechnet wird. Es besteht der Verdacht, dass dem so ist, weil sie unterhält. Carl von Ossietzky sagte über Perutz: "Er ist ein Dichter mit der Fähigkeit, ungewöhnlich fesselnde Romane zu schreiben. Ich betone: ein Dichter."

Jede Form von Werbung für diesen Autor, ist zu begrüßen. Auch dann, wenn sie ausnahmsweise doch aus der Wissenschaft kommt, wie etwa die neue Biographie von Ulrike Siebauer. Ihr Buch ist eine angenehm unaufgeregte, unsentimentale, informative und zugleich von Idolatrie und unnötigem Ballast freigehaltene Einführung in Leben und Werk, das fast nie interpretativ, fast nur als Nacherzählung vorkommt, wodurch der in dieser Form meistens unergiebige Bezug des Lebens auf das Werk vermieden wird. Es ist eher eine Materialsammlung als ein inspirierter Essay, was bei diesem Dichter eine Kunst ist. Gegenüber der Monographie von Hans-Harald Müller hat sie den Vorteil - der für Eilige ein Nachteil sein kann - der größeren Materialfülle.

Titelbild

Ulrike Siebauer: Leo Perutz - Ich kenne alles Alles, nur nicht mich. Eine Biographie.
Bleicher Verlag, Gerlingen 2000.
398 Seiten, 27,60 EUR.
ISBN-10: 3883506664
ISBN-13: 9783883506661

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