Über die Kunst, postkoloniale germanistische Studien zu betreiben

Zur Frage, wie man aus der Metropole auf die Metropole mit einem peripheren Blick schaut

Von Sabine WilkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Wilke

Die Nachbarfächer der Germanistik, in erster Linie die Amerikanistik, die Anglistik und die Romanistik, beschäftigen sich seit Jahren mit postkolonialen Themen. Dies geschieht im Zuge der Übertragung des politischen Prozesses der Dekolonisation auf die wissenschaftliche Diskussion. Parallel dazu gibt es in den USA, in England und in Frankreich einflussreiche Intellektuelle, Wissenschaftler und Künstler mit dezidiert postkolonialem Selbstverständnis, das sie in öffentliche Debatten tragen. Das alles fehlt in Deutschland weitgehend. Die spezielle historische Konstellation, die der deutsche Kolonialismus darstellt, hat weder vergleichbare wissenschaftliche noch kulturpolitische Debatten hervorgebracht. Die deutsche koloniale Geschichte bestand aus einer langen und intensiven Phase der Imagination von (Kolonial-)Reichen im Zuge der fehlenden staatlichen Einheit, einer relativ kurzen Kolonialzeit (1884-1919), einer intensiven Phase der Kolonialrevision in der Weimarer Republik und in der Nazizeit bis etwa 1940, und schließlich der Verdrängung einer substantiellen Auseinandersetzung mit der deutschen kolonialen Vergangenheit nach dem Zweiten Weltkrieg und der fehlenden Dekolonisation, wie sie Frankreich beispielsweise sehr intensiv erlebt hat.
Aus dieser spezifischen Ausgangslage ergeben sich einige Schlussfolgerungen für die Art und Weise, wie postkoloniale Studien im deutschen Kontext angelegt sein müssen: Sie dürfen sich nicht auf die offizielle Kolonialperiode beschränken, sondern müssen die prä- und postkoloniale Imagination von möglichen Kolonialreichen in einem ganz umfassenden Sinne einschließen. Aus dem speziellen deutschen Fall ergeben sich weiterhin bestimmte Fragestellungen: wie die nach dem Verhältnis von Kolonialismus und Naziideologie oder, in erweitertem Sinn, nach dem Verhältnis von Kolonialismus und Rassismus und speziell Antisemitismus, aber auch nach dem Verhältnis von Kolonialismus und der spezifisch deutschen Imaginierung des (europäischen) Ostens. Nicht zuletzt nach dem Verhältnis des deutschen Kolonialismus zum gegenwärtigen multikulturellen Deutschland, und auch nach der Bedeutung des deutschen Tourismus‘ in postkolonialen Räumen wie Namibia und Neu-Guinea.
Doch dieser Komplex von Fragestellungen macht noch keine postkoloniale Perspektive aus. Vielmehr ist das Kernstück für eine solche Betrachtungsweise im Fach Germanistik die Aufarbeitung der präkolonialen Imagination und eine kritische Würdigung der Dokumente aus der Kolonialzeit. Dafür ist auch die Einarbeitung von kritischen Stimmen aus der Peripherie auf die dominante Kultur des kolonisierenden Mutterlandes erforderlich. Und die gibt es im deutschen Kontext zu wenig. Auch wenn wir auf solche Stimmen aus den deutschen Kolonien – etwa durch Archivarbeit – stoßen sollten, ist darüber hinaus theoretisch zu reflektieren, wie diese von uns beschrieben und beurteilt werden können.
Von den Nachbardisziplinen hören wir zu unserem Erstaunen, dass die postkolonialen Studien dort bereits an ihrem Ende angekommen sein sollen, gerade zu einer Zeit, in der die Germanistik verstärkt die Übertragung der theoretischen Paradigmen diskutiert. Ein Anzeichen dafür, dass sich die Nachbarfächer tatsächlich auf eine post-postkoloniale Phase zubewegen, ist die Tatsache, dass bereits etliche Handbücher zu postkolonialen Studien erschienen sind. Es gibt sogar bereits eine Enzyklopädie für postkoloniale Studien von John C. Hawley, die 2001 herauskam und im Übrigen in allen amerikanischen Bibliotheken bei den Nachschlagewerken steht. Im Vorwort betont Hawley die zentrale Bedeutung der postkolonialen Studien für die Transformation der Fächer Literatur- und Kulturwissenschaften und stellt ein radikales Umdenken in Richtung Interdisziplinarität heraus, sogar von einem Zusammenlegen von Instituten im Zuge zunehmender Globalisierung ist die Rede. Wenn man die dort versammelten Beiträge zu relevanten Begriffen und Namen in den postkolonialen Studien betrachtet, stellt sich die Frage, ob und inwiefern diese Begriffe auf die deutsche Situation übertragbar sind. Mit anderen Worten: Können wir Begriffe verwenden, die in der kritischen Auseinandersetzung mit einer anderen Tradition entstanden sind?
Die deutsche Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus ist geprägt von speziellen Mustern. Diese beeinflussen die Art und Weise, wie Deutsche fremde Räume fantasiert, wie sie konkret über die Erfahrung in den Kolonien berichtet haben und wie sie sich heute noch mit kolonialem Material beschäftigen. Germanistische postkoloniale Studien müssen dabei die spezielle (prä-/post-)koloniale Konstellationen in differenzierter Weise herausarbeiten. Sie sollten eine vergleichende Perspektive im Auge behalten und die besonderen Muster der deutschen Kolonisierung in den verschiedenen geografischen Räumen gegenüber dem britischen, französischen, belgischen und niederländischen Kolonialismus aufzeigen. Eine germanistisch geprägte postkoloniale Perspektive sollte dabei Anschluss finden an deutsche Traditionslinien, etwa an die Rassismustheorie Hannah Arendts, die Kritische Theorie, die Hermeneutik oder auch die Physiognomik. Neben diesem thematischen und begrifflichen Aufarbeiten der deutschen Tradition und dem eingangs genannten Versuch der Suche nach Stimmen aus den Kolonien in Archiven sollte der Plan stehen, die periphere Dimension in den Texten der Metropole zu rekonstruieren. Wir müssen uns an die kanonischen Texte setzen und diese auf der Suche nach Anzeichen von indigener Handlungs- und Sprechfähigkeit durchkämmen.
Das kann sehr spannend sein. Bei der Untersuchung von Georg Forsters „Reise um die Welt“ stellte sich etwa heraus, dass es Stellen gibt, an denen der Autor entweder direkt indigene Stimmen zitiert oder davon spricht, wie die Insulaner auf den ‚Besuch‘ der europäischen Entdecker reagiert haben. In einer Situation, in der keine Schriftkultur vorhanden war (anders als bei den Azteken oder den Chinesen beispielsweise) und die archäologischen Befunde dünn sind, muss man die Aufgabe der Rekonstruktion indigener Stimmen mittels der Stimmen der Kolonisatoren selbst leisten – und zwar mithilfe kritischer Lektüremodelle, die uns zur Verfügung stehen. Eine postkoloniale Perspektive auf die deutsche Literatur ist von daher ein großes Problem, das die Neuorientierung unserer Umgangsweise mit dem literarischen Kanon und der deutschen Kultur beinhaltet.
Ein Beispiel einer solchen Neuorientierung wäre die Tatsache, dass man eigentlich die gesamte deutsche Literatur nach dem Ersten Weltkrieg als postkoloniale Literatur neu lesen müsste, nicht nur die Texte, die sich speziell mit kolonialen Themen beschäftigen. Das bedeutet nicht nur ein literaturhistorisches Umdenken, sondern auch neue methodische Fragestellungen: Wie wird in diesen Texten deutsche Identität als eine Ästhetik von ‚whiteness‘ konstruiert? Wie verhält sich eine postkoloniale Germanistik zu angrenzenden theoretischen Fragestellungen: dem Feminismus, den Gender-Studien, den Studien zu Globalisierung, den kritischen Ökowissenschaften und so weiter. Das sind die Fragen, die vor uns stehen und die von einer postkolonialen Ausrichtung unseres Faches angeschnitten werden müssen.