Gibt es eine hinduistisch geprägte "Ästhetik des Widerstands"?

Eine postkoloniale Interpretation der Angkor Wat-Passagen in Peter Weiss' gleichnamigem Roman

Von Michael HofmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Hofmann

Im Jahre 1981 erschien der dritte Band von Peter Weiss' "Ästhetik des Widerstands". Seit dem Erscheinen des ersten Bandes im Jahre 1975 und bis zum Ende der DDR 1989/90 stand der Roman, der eine Reflexion über das Scheitern der Arbeiterbewegung im Angesicht der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft mit einer literarischen Reflexion über Grundlagen einer kritischen Ästhetik verbindet, im Zentrum zahlreicher literarisch-ästhetischer und politischer Diskussionen. Auch Fragen des Selbstverständnisses der deutschen Linken in einer postmodernen Welt und im Kontext einer massiv einsetzenden Globalisierung wurden im Hinblick auf Weiss' Text verhandelt. Die folgenden Ausführungen sollen der Frage nachgehen, inwieweit Peter Weiss in seinem opus magnum eurozentrischen Klischees folgt und ob sein Text und dessen Gehalt nicht Impulse für postkoloniale Konzepte enthält, die einer neuen Form von ästhetischem Widerstand im 21. Jahrhundert den Weg weisen könnten.

Die Überlegungen gehen von der Erkenntnis aus, dass Interkulturalität und Postkolonialismus im Sinne einer Selbstkritik des nationalen und des eurozentrischen Bewusstseins eine zentrale Bedeutung für das globale Zusammenleben der Menschen im 21. Jahrhundert haben. Gegen die Uniformierung der Welt nach europäisch-amerikanischem Vorbild steht ein Bewusstsein, das die Vielheit der Kulturen in ihrer Verschiedenheit und inneren Pluralität respektiert. Diese aktuellen Fragen und Herausforderungen an ein traditionelles Denken implizieren auch eine kritische Selbstreflexion des postmarxistischen Denkens. Dieses hat - und Peter Weiss ist ihm darin in prominenter Weise gefolgt - zwar die Auseinandersetzung mit dem Neokolonialismus und die Solidarität mit den unterdrückten Völkern der Dritten Welt ins Zentrum seines politischen und weltanschaulichen Programms gestellt; es hat aber nicht immer eurozentrische Denkweisen und Handlungsmuster vermieden, und es hat häufig an die Stelle einer originären Selbstbefreiung der außereuropäischen Völker und Kulturen den Export und die Oktroyierung europäischer Denk- und Handlungsnormen im Namen des Kampfes gegen die Unterdrückung gesetzt.

Eine "aktualisierende" Neuinterpretation einiger Passagen der "Ästhetik des Widerstands" zeigt einerseits, dass Weiss' Konzept eines Widerstands der Ästhetik viele Klischees und konventionelle Denkmuster eines schablonenhaften linken Denkens überwunden hat; sie zeigt aber andererseits auch, dass seine Position im Sinne der neuen postkolonialen Konzepte weiterzudenken und weiterzuentwickeln ist. Konkret soll in diesem Beitrag Weiss' Auseinandersetzung mit der Kunst, Kultur und Mentalität des Hinduismus untersucht werden, wie er sich in den Passagen zur kambodschanischen Tempelanlage von Angkor Wat zeigt. Zunächst ist dabei zu würdigen, dass die implizite Kunstgeschichte des Romans auch außereuropäische Kunst mit einbezieht. Kritisch zu fragen ist freilich, ob Weiss nicht in reduktionistischer Weise und ganz im Stil des "Orientalismus" (Edward Said) asiatisch-orientalische Kunst nur als Herrschaftskunst zu begreifen vermag. Im Sinne der skizzierten interpretatorischen Doppelstrategie ist aber auch zu zeigen, dass der Text Ansätze zu einer postkolonialen Ästhetik des Widerstands bietet, die auch die asiatische Kunst nicht auf eine solche Manifestation von Herrschaft reduziert. Die These lautet, dass Weiss' Roman Ansätze für eine Art spirituelle Ästhetik des Widerstands enthält, die als asiatische Variante eines herrschaftskritischen Denkens zu verstehen ist und die in postkolonialer Perspektive das europäische politische und ästhetische Denken zu bereichern vermag.

Folgende Vorannahmen und -überlegungen fundieren die postkoloniale Weiterführung der "Ästhetik des Widerstands":

1) Zentrale Leitbegriffe des europäischen Denkens sind mit Herrschaft verbunden und stehen unter dem Verdacht, partikulare Werte und Normen, nämlich eben gerade die der europäischen Kulturen als universale auszugeben. So sind etwa Rationalität, Humanismus, Schönheit und Heiterkeit philosophische und ästhetische Leitkonzepte, die zum Ausschluss, zur Exklusion des Fremden beitragen und damit den außereuropäischen Kulturen und deren differenten Normsystemen nicht gerecht werden. Diese Missachtung des Abweichenden kann aber dazu führen, dass die eigentlich 'harmonischen' und auf friedliche Synthese gerichteten Leitvorstellungen des westlichen Denkens zur Unterdrückung des außereuropäisch Anderen missbraucht werden. Zugespitzt formuliert: Im Namen von Humanität, Menschlichkeit und Fortschritt wird Unterdrückung und Repression präzisiert.

2) Die vor allem von Walter Benjamin klassisch formulierte Interdependenz von Kultur und Barbarei, die selbstverständlich auch in innereuropäischen Kulturbegegnungen anzutreffen ist, gewinnt damit in der postkolonialen Perspektive eine besondere Brisanz. So kann Eurozentrismus zu einer Missachtung und Geringschätzung der kolonialisierten Kulturen führen. Außerdem kann Kolonialismus als Projektion ambivalenter Anteile des Eigenen auf die Fremden begriffen werden.

3) Von besonderem Interesse ist vor diesem Hintergrund das Verhältnis von Postkolonialismus und Marxismus. Letzterer ist trotz seiner Bedeutung im Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus durchaus als Teil des eurozentrischen Denkens zu begreifen. Denn wenn Marx auch gute Gründe etwa zur Verteidigung des britischen Kolonialsystems ins Feld führen konnte - er glaubte, dass dieses zur Überwindung archaischer Strukturen nützlich sei -, so ist aus heutiger Sicht doch nicht zu verkennen, dass der Begründer des Marxismus' damit eine Zwangsmodernisierung nach westlichem Vorbild propagierte, deren negative Folgen in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhundert in vielen Ländern der Welt unübersehbar waren. Auch Marx' Theorie der asiatischen Produktionsweise und sein von Stereotypen geprägtes Bild des orientalischen Despotismus' zeigen seine Übernahmen eurozentrischer Denkmuster und weisen sein Denken als Teil des von Said beschriebenen "Orientalismus"-Syndroms aus. Zu fragen ist auch, inwieweit Marx' materialistische Revolutionstheorie spirituelle Traditionen der außereuropäischen Kulturen missachtet und inwieweit eine unreflektierter Übernahme seines Religions-Konzepts ("Opium fürs Volk") gerade in Asien, aber auch in Afrika und Südamerika zu einem Umschlag des marxistischen Denkens von einer Befreiungslehre in eine Ideologie neuer Unterdrückung geführt hat.

4) Postkoloniale Theorien akzentuieren hybride Denkformen als Grundmuster postkolonialer Konzepte. In dem ebenso berühmten wie umstrittenen Roman "Satanische Verse" des Inders Salman Rushdie zeigen sich Eurozentrismus und (islamischer) Fundamentalismus als totalitäre Denksysteme, denen eine hybride Ästhetik entgegengesetzt wird, die durch einen unvoreingenommenen und spielerischen Umgang mit Konzepten europäischer und außereuropäischer Kulturen geprägt ist. Kritische Reflexion historischer Traditionen verbinden sich im postkolonialen Denken mit unerwarteten Kombinationen zwischen dem Denken des Zentrums und dem der Peripherie: So diskutiert man über die Entwicklung eines europäischen Islam; die afrikanische Literatur verbindet literarische Formen der europäischen Traditionen mit wesentlichen Perspektiven des afrikanischen Denkens (Achebe), und ein "magischer Realismus" verbindet vor allem in Südamerika Aspekte mythischen Denkens mit postmodernen Romanstrukturen. Auffällig ist in diesem Kontext ein ebenso unvoreingenommenes wie undogmatisches Verhältnis von Postkolonialismus und Religion: Im Sinne der skizzierten Hybridisierungsprozesse lässt sich die Entwicklung nicht-autoritärer religiöser Modelle als "bricolage" beobachten. Das europäische Denken hat sich davor zu hüten, Denkmodelle von Befreiung und Fortschritt in die außereuropäischen Kulturen zu exportieren; es kann vielmehr davon lernen, wie die avancierte postkoloniale Ästhetik Momente der eigenen Tradition mit europäischen Denkmustern verbindet und damit ein hybrides Neues schafft, von dem selbstverständlich auch die europäische Kultur profitieren kann

I.

Die "Ästhetik des Widerstands" interpretiert mit dem Pergamonaltar modellhaft ein Kunstwerk, das ausdrücklich und eindringlich als Herrschaftskunst angesprochen wird, das aber dennoch und in besonderem Maße als Musterbeispiel der subversiven Funktion von Kunst und Ästhetik gilt. Zu betonen ist in unserem Kontext, dass das herausragende Kunstwerk in Weiss' Perspektive seinen Herrschaftscharakter transzendiert, ja sogar umgekehrt eine Reflexion über Zivilisation und Herrschaft und über die Notwendigkeit einer Überwindung ungerechter Herrschaft einzuleiten vermag. Aber ist es akzeptabel, im Falle des Pergamon-Altars das starre Verhältnis von Kunst und Herrschaft zu transzendieren, um es im Falle von Angkor Wat zu zementieren? Läge nicht wirklich eine Form von Eurozentrismus vor, wenn man dem europäischen Kunstwerk (das freilich selbst in Kleinasien errichtet wurde) diese herrschaftskritische Funktion in einer Interpretation gegen den Strich zuweist, eine solche Vorgehensweise aber dem fernöstlichen Kunstwerk verweigert? Und, so werden wir weiter fragen, wenn wir dieser einseitigen Vorgehensweise nicht folgen, wie lässt sich dann eine "Ästhetik des Widerstands" im Blick auf die hinduistische Kunst weiterdenken?

Das Rezeptionsmodell des Pergamon-Altars verweist auf den historischen Hintergrund einer Unterwerfung der gallischen Eindringlinge durch die Herrscher Pergamons, die als Auftraggeber des Frieses auftreten und die sich auf dem Fries als Olympier darstellen lassen, während die unterliegenden Titanen nach dem Bilder der unterworfenen Gallier gestaltet sind. Und auch die weitere Geschichte des Frieses erweist sich als eine Geschichte von Herrschaft: Die Ausgrabung des Frieses erfolgt unter deutscher Leitung und mit deutschem Geld; der Transport des Kunstwerks nach Deutschland erweist sich als eine logische Konsequenz aus dem quasi-kolonialen Verhältnis zwischen dem Deutschem und dem Osmanischem Reich. Dennoch - und dies ist die grandiose Pointe von Weiss' Interpretationsmodell: Die "Niederen" wie etwa die jungen Arbeiter unter der Herrschaft der Nationalsozialisten erkennen sich in den Titanen, und sie identifizieren sich nicht mit den strahlenden Gestalten der Götter und deren "schönen" Körpern, sondern mit den der zerschundenen und leidenden Körpern der Titanen in der Sekunde vor dem endgültigen Untergang. So gewinnt der als Herrschaftskunst konzipierte und auch häufig rezipierte Pergamonaltar in der "Ästhetik des Widerstands" eine neue Bedeutung, indem er daran erinnert, dass die Fortschritte der abendländischen Kultur und deren ästhetische Höchstleistungen mit Herrschaft und Unterdrückung und mit dem Leiden der "Niederen" verbunden waren, dass aber eine kritische Betrachtung diese Geschichte von Herrschaft und Unterdrückung zu durchbrechen und in den Kunstwerken der Herrschenden Ansatzpunkte für eine Befreiung der Unterdrückten zu erkennen vermag.

Auch den Angkor-Wat-Komplex stellt der Romantext als Herrschaftskunst vor. Die Beschreibung des Kunstwerks ist in den Romantext integriert als Wiedergabe der Beschreibungen Stahlmanns, des Funktionärs der Komintern, der eine Reise nach Asien unternommen und dabei die Komplexe Bayon, Angkor Thom und Angkor Wat besichtigt hat. Bereits einleitend ist die Rede von dem "Bild der furchtbaren Symmetrie eines Herrschaftswesens", das, wenn auch schon längst untergegangen, mit seine Resten die verschwiegnen Gefilde immer noch in Bann hielt. In der Beschreibung der Götterbilder zeigt sich in klarer Analogie zur Deutung des Pergamon-Altars die kritische These von dem Zusammenhang von Heiterkeit und Lächeln auf der einen und Herrschaft (und ansatzweise Brutalität) auf der anderen Seite. So heißt es von dem Gesicht des Gottes: "Es lächelte in seinem steinernen Verlies, fast mit einem Anflug von Wollust". Das Verhältnis von Welt und Zeitlosigkeit, das als zentral für den Geist von Angkor Wat angesehen wird, deutet der Romantext in eindeutiger Weise im Sinne der These vom Illusionscharakter der Religion und der religiösen Kunst: "Die Gesichter beherrschten die Welt, kamen aus dem Zeitlosen, erhoben sich über das Vergängliche". Indem die Götter und die Herrschenden gleichgesetzt werden, so die Logik der Argumentation, sind die in dem Fries vorhandenen Volksszenen in eine Hierarchie eingeordnet, die weltliche totalitäre Herrschaft mit religiösen Ordnungsvorstellungen verbindet. Vor diesem Hintergrund sind die 'Volksszenen' in ihrer sinnlichen Konkretion zwar vorhanden, aber im Sinne der im Roman vertretenen Perspektive gewissermaßen von vorn herein entwertet: "Trabte eine Herde von Schafen und Ziegen vorbei, vorbei an den zwischen Säulen sitzenden, in Andacht und Gebet versunknen Priestern, so wurden ländliches Dasein und geistige Entrücktheit eins, neben den von Lotosblüten überwölbten Meditierenden lagerten Hirten, ein Kitzchen im Arm, eine Bambusflöte am Mund, ein Saiteninstrument zupfend, Jäger trieben Elefanten und Nashörner aus dem Wald, Fischer legten Netze aus, tauchten nach Schildkröten und Muscheln, die Reisernte wurde eingebracht und gedroschen, [...] hier waren Verkaufsstände, von denen ein Mädchen eine Frucht stahl, dort schminkte sich eine Hetäre lässig vorm Handspiegel, dort waren Wäscherinnen an der Arbeit [...] und Mimen, mit fleischigen Leibern, führten zu Trommel und Lyra ein Schauspiel auf."

Während - wie noch zu zeigen sein wird - eine alternative Interpretation den Zusammenhang von Religion, Herrschaft und Alltagsleben ganz anders als der Romantext deuten kann, indem aus dem Bewusstsein der Vergänglichkeit und relativen Nichtigkeit des Irdischen eine Gleichwertigkeit aller Menschen und Tätigkeiten und damit eine Kritik an Herrschaft gefolgert werden kann, identifiziert die Deutung des Romans die Gelassenheit und Gleichmut der Einheimischen (und zwar der im Kunstwerk dargestellten Figuren wie der realen Menschen) nicht als spirituelle Überlegenheit, sondern als Kapitulation vor der real existierenden Herrschaft. Die bereits bei Johann Gottfried Herder festgestellte Ambivalenz des hinduistisch inspirierten Bewusstseins, das Friedfertigkeit und Akzeptanz von ungerechter Herrschaft verbindet, wird in der Wiedergabe von Stahlmanns Erfahrungen einseitig aufgelöst, indem die Unterwürfigkeit der Menschen betont wird: "In einem Dorf rasteten sie, mit Reisbauern teilten sie die Mahlzeit auf dem Vorbau der Pfahlhütte, kaum kühler war es im Schatten, doch die Sanftheit der Bewegungen der Menschen, beim Darbieten der Speisen auf großen grünen Blättern, der Friede dieser Stunde [...] ließ das Atmen leichter werden. Allmählich aber bemerkte er, dass die Milde der Gesichter mit den schwarz lackierten Zähnen doch eher unterwürfig war, und als plötzlich Schreie die Ruhe zerrissen, wurde alles, was eben noch im Zeichen der Unschuld stand, in grimmige Gewalt getaucht. In kurzen Abständen kam der Schrei, jedes Mal nach dem klatschende Hieb, und als sie hinausliefen, sahn sie auf dem Dorfplatz einen Verurteilten, der auf dem Bauch auf einer Bastmatte lag und an den ausgestreckten Händen und Füßen festgehalten wurde. [...] Der Büttel, in langen, an den Seiten aufgeschlitzten Rock und Turban, schlug mit dem Rohrstock auf den nackten, blutigen Rücken ein."

Die Erfahrung von Gewalt und Unterdrückung in den realen gesellschaftlichen Verhältnissen im Angkor Wat des zwanzigsten Jahrhunderts prägen so die Deutung des Kunstwerks, ohne dass wie im Falle des Pergamon-Altars ein subversives Potential herausgearbeitet würde. Unsere postkoloniale Kritik an dem hier vorherrschenden Deutungsmodell richtet sich in keiner Weise gegen die realpolitische Diagnose einer ungerechten Herrschaft und auch nicht gegen die Reflexion eines Zusammenhangs zwischen Herrschaftsgeschichte und Kunstgeschichte; sie macht lediglich darauf aufmerksam, dass im expliziten Text des Romans der mögliche subversive Gehalt des Angkor Wat-Komplexes nicht thematisiert wird. Der Text konstatiert vielmehr in sozialkritischer Perspektive das "Missverhältnis zwischen dem Raum, den das Volk einnahm, und dem im Felsen thronenden Gebieter"; er rekonstruiert - auch hier in deutlicher Analogie zur Interpretation des Pergamon-Frieses - die Vorgeschichte der Entstehung des Kunstwerks, das den Kampf der Herrscher und des Volkes von Angkor Wat gegen die einbrechenden Heere aus dem Nachbarreich Champa widerspiegelt - so wie der Kampf gegen die Gallier das Muster der Darstellung des Pergamon-Frieses abgegeben hatte. Auch waren in Analogie zum Pergamon-Fries "die, die kämpften, nur als Masse vorhanden", und dennoch wiesen "die Gesichter der Krieger individuelle Züge" auf. Auch das im Gegensatz zu dem zunächst beschriebenen Bayon eher "klassische" Angkor Wat verdeutlicht die "Überlegenheit und Unbesiegbarkeit der Palastbesitzer", und die pyramidenartige Darstellung der Figuren repräsentiert die hierarchische Ordnung der realen Welt.

In ideologiekritischer Perspektive erscheinen auch die Schönheiten der Tempelanlagen als Ausdruck eines Ineinander von Kultur und Barbarei; so spricht der Text von dem "Traum von Schöpfungen, die sich als Wahrzeichen des Überflusses von den praktischen Tätigkeiten absonderten und zur Huldigung an eine geistige Welt wurden", und es heißt: "Das Einzigartige [...] wurde dem Volk zum Denkmal einer noch tiefern Erniedrigung und Zerknirschung". Angkor Wat ist also wie Pergamon das Modell einer Kunst, die auch in ihrer Schönheit Unterdrückung und Herrschaft symbolisiert. Im Gegensatz zur Pergamon-Deutung wird ein subversives Potential des Kunstwerks Angkor Wat nicht oder nur sehr indirekt angedeutet. In dieser Einseitigkeit sehe ich eine eurozentrische Borniertheit des expliziten Diskurses der "Ästhetik des Widerstands".

II.

Nun soll der Text des Widerstandsromans gegen den Strich gelesen werden, und es wird sich zeigen, dass er entgegen dem oberflächlichen Anschein doch ein postkoloniales Potential aufweist, das subversive Möglichkeiten der ostasiatischen Kunst verdeutlicht und damit die Idee einer Ästhetik des Widerstands postkolonial erweitert. Die folgende Passage bietet einen Ansatzpunkt für eine solche Erweiterung: "Existierten die Bewohner [der mittelalterlichen Metropole Angkor Wat] nur in der Zucht, so gaben die Könige sich überirdischen Ausschweifungen hin. Die Baumeister, mit ihren während eines Jahrtausends im Geiste Vishnus, Schiwas und Buddhas gewonnenen meditativen Fähigkeiten, schufen eine Kunst, die nur für die Eingeweihten und schließlich nur für sich selbst da war. Denn wie sie ihre Erbauer demütigte, indem sie sich ihnen unnahbar machte, so setzte sie sich auch über die Auftraggeber hinweg, die Könige, die sich heiliggesprochen hatten, waren dennoch sterblich, die Pracht wurde ihnen nur verliehen, sie würden vergehn, jene aber würde weiter bestehn. [....] Und wie sie [die Kunst] den Arbeitenden ihre Kräfte raubte, so machte sie die Könige zum Opfer, sog ihren Reichtum aus, [...] und dann, nach dem Zerfall des Reichs, der Verödung der Stadt, machte sich der Urwald, der so lange mit Gewalt zurückgehalten worden war, über das Erbaute her, [...] verwandelte in Kürze die Denkmäler eines tyrannischen Geists zu wilder Natur [...]."

Während die 'ideologiekritische' Deutung die Erhabenheit der Götter über die Welt und ihre Bewohner so deutet, dass die Herrscher mit den Göttern zu identifizieren sind und sich so mit den Göttern über die "Niederen" erheben, deutet sich hier eine ganz andere Interpretation an, die darauf hinausläuft, dass alles Weltliche, aber das heißt eben auch die Herrscher, als relativ nichtig gegenüber dem Göttlichen anzusehen sind. Nicht die Könige sind göttlich, sondern das Göttliche steht der Welt gegenüber, und jeder Endliche hat in gleich großem oder gleich geringem Maße Anteil am Göttlichen. Die "Milde" und Gelassenheit der Hindus und Buddhisten muss somit nicht auf eine Unterwürfigkeit gegenüber den jeweiligen Herrschern zurückgeführt werden; sie kann auch als ein Wissen um die Nichtigkeit auch der irdischen Herrschaft verstanden werden. Vor diesem Hintergrund könnte die Darstellung der Volksszenen im Rahmen des Angkor-Wat-Komplexes eine andere Deutung erfahren: Im Angesicht des Göttlichen ist alles Irdische von gleichem Wert. So kann aus dem Bewusstsein der relativen Nichtigkeit der Welt eine egalitäres Bewusstsein abgeleitet werden, das sich dem Kastendenken durchaus widersetzt und die Gleichheit alles Irdischen postuliert. Aus diesem Bewusstsein wird freilich auch eine andere Form des Widerstands abzuleiten sein als eine solche, die dem westlichen Bewusstsein als normal und erwartbar erscheint. Eine Art passiver Widerstand gegen die Gewalt und ein Bewusstsein, das auf persönliche Vorteile und individuellen Ehrgeiz verzichtet, wären einem solchen Denken angemessen. Das "Milde" der Inder wäre in diesem Konzept nicht notwendig der Ausdruck einer Unfähigkeit zum Widerstand der Ästhetik und zum politischen Handeln; es wäre die Grundlage zu einem anderen politische Handeln. Dass sich in der Gestalt des Mahatma Gandhi in Indien ein solches anderes politisches Handeln gerade zu der Zeit entwickelt hat, in der sich der Komintern-Beauftragte Stahlmann in Angkor Wat aufhielt, könnte zu denken geben.

Vorher ist aber noch eine andere Passage zu erörtern, die in der Forschung kontrovers diskutiert worden ist und die vielleicht einer neuen Deutung unterzogen werden kann. Stahlmann, so der Romantext, wird von seinen Gesprächspartnern darauf hingewiesen, dass zwischen ihm und den Göttergestalten eine überraschende Ähnlichkeit bestehe: "Jetzt in der Nacht aber, im Mondlicht, sollte er zu Statuen geleitet werden, an die sein Gesicht ihn erinnerte. Was es denn Gemeinsames gebe zwischen ihm und den Götterkönigen, die hier ihren weltlichen Sitz und ihre Grabmäler errichtet hätten, wollte er wissen [...]. War es denn möglich, fragte er sich, dass sein Aussehn, wie der Gastgeber behauptete, diesen Majestäten verwandt sei, und er verzog lachend den Mund. Da hörte er, dass er ihnen gerade in diesem Augenblick gleiche."

Wenn man der einsinnigen Angkor-Wat-Deutung des expliziten Romantextes folgt und die Göttergestalten lediglich als Repräsentanten der Herrschenden versteht, muss man zu der Schlussfolgerung gelangen, dass das Lachen Stahlmanns als eine unbewusste Identifizierung mit den Herrschenden und somit als Verrat an den "Niederen" und an seiner Mission als Klassenkämpfer zu verstehen sei. Wenn man aber davon ausgeht, dass die lächelnden Göttergestalten die Nichtigkeit aller weltlichen Herrschaft symbolisieren, dann ändert sich auch die Interpretation. Es handelt sich dann bei der Identifikation mit den lächelnden Göttern um eine andere Art der Opposition zu den herrschenden Verhältnissen als die, welche der Stalinist Stahlmann verkörpert und repräsentiert. In seiner Person, das zeigt der Romantext sehr wohl, liegt etwas ganz anderes als der Habitus eines routinierten Apparatschiks; in seiner Person liegt eine Leichtigkeit, eine Überlegenheit gegenüber den Ritualen der Macht - und diese antiautoritäre Heiterkeit findet sich auch in den lächelnden Götterbildern. Sie findet sich vor allem auch in den Bildern der lächelnden göttlichen Tänzerinnen, die sich in großer Zahl im Angkor-Wat-Komplex befinden und die in den ersten Beschreibungen des Romans eigentlich gar nicht oder nur ganz am Rande erwähnt werden - weil sie nicht in das Bild der totalitären Stadt passen? Es erstaunt etwas, dass erst in einer rückblickenden Passage eine tanzende Göttin erwähnt wird, die sicherlich eine Position des heiteren Jenseits von irdischer Herrschaft und Unterdrückung verkörpert. Die Faszination, die das Bild der Göttin auf Stahlmann ausübt, soll sicherlich nicht als Konsequenz einer geistigen Kooperation mit den Herrschenden verstanden werden, sondern vielmehr als Symptom verdrängter Potentiale des "grimmigen Organisators" der Partei: "Stahlmann [...] war wieder in Angkor, erzählte wieder von seinem Weg durch den Haupttempel, [...] und da sei ihm der Atem gestockt, sagte er, vor dem Gesicht der Devatâ habe er sich befunden, der tanzenden Göttin, mit dem zartrot lächelnden Mund, der unsäglich glatten, gewölbten Stirn, der Nase, die trotz einer Bruchstelle an Feinheit ihresgleichen nicht hatte, an ihre in weicher Gebärde erhobene Hand hatte er seine Hand gelegt, und lange verweilt vor dem von den Harrflechten sternförmig umflossnen Antlitz, und er habe sich eigentlich nie davon losreißen können."

Hier kann wohl nicht die Rede davon sein, dass die Schönheit der Göttin Komplizenschaft mit Herrschaft symbolisiert; vielmehr geht es um einen Zustand der Spiels, der Heiterkeit und der Schönheit, der in hartem Kontrast steht zu dem Alltag des kommunistischen Widerstandes, aber auch zu den Methoden, welche die politischen Kämpfer auch in ihrer Opposition gegen die faschistischen Barbaren anwenden. Das hinduistische Kunstwerk steht in dieser Perspektive also nicht nur für eine unauflösliche Verbindung von Kunst und Herrschaft, sondern für eine Herrschaftskritik, die sich aus der spezifischen Perspektive des indischen Denkens mit dem Bewusstsein der relativen Nichtigkeit der irdischen Dinge verbindet. Stahlmanns Ähnlichkeit mit den Göttergestalten von Angkor Wat und seine Umarmung der tanzenden Göttin ist also nicht als eine Kollaboration mit Herrschaft zu bewerten, sondern als eine von der indischen Kultur inspirierte Erinnerung daran, dass der Widerstand der Ästhetik auch ein Widerstand gegen starre Ordnungen der Realität darstellt.

III.

In der hier vorgestellten Deutung des Komplexes Angkor Wat sind wesentliche Momente der hinduistischen Religiosität integriert. Es kann hier nicht darum gehen, Grundlagen dieser Religiosität ausführlich zu beschreiben. Die Fachliteratur betont nachdrücklich, dass nicht von einer hinduistischen Religion im Singular gesprochen werden kann, sie spricht ausdrücklich von hinduistischen Religionen. Es sind aber einige Grundgedanken zu referieren, die sich implizit auch in Weiss' Angkor-Wat-Deutung finden und die für die hier verfolgte Fragestellung eine zentrale Bedeutung gewinnen. Zunächst ist festzuhalten, dass das Kastenwesen als eine wesentliche Grundlage des auf hinduistische Religiosität zu beziehenden indischen Sozialsystems zu verstehen ist. Dabei stehen die Brahmanen- und die Kriegerkaste an der Spitze, und es kann nicht geleugnet werden, dass hier eine religiöse Legitimation von Herrschaft festzustellen ist. Auf der anderen Seite belehren uns die Religionswissenschaftler und Indologen dezidiert darüber, dass die Kritik am Kastenwesen ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte der hinduistischen Religiosität darstellt. Es ist somit Ausdruck einer eurozentrischen Verkürzung, wenn man Hinduismus und Einverständnis mit einem Sozialsystem gleichsetzt, das etwa die Existenz von "Unberührbaren" impliziert. Es soll hier nicht behauptet werden, dass die hinduistische Religiosität nicht auch zu einer konservativen und inhumanen politischen Haltung führen kann; es geht nur darum, dass die Idee einer notwendigen Verbindung zwischen dieser Religiosität und der Akzeptanz repressiver Strukturen zurückgewiesen wird.

Eine wesentliche Grundidee der hinduistischen Religiosität, die in den vorgestellten Analysen zu den Angkor-Wat-Passagen bereits angesprochen wurde, liegt in der Auffassung, dass das Atman, die menschliche Individualseele und damit das unsterbliche Selbst des Menschen, identisch sei mit Brahman, dem unpersönlichen Absoluten. Hans Küng und Heinrich von Stietencron schreiben: "Dies war ja die große Botschaft der älteren Upanischaden, dass das individuelle Selbst, Atman genannt, identisch sei mit dem universalen Bewußtsein, dem Brahman, dem uranfänglichen absoluten Einen. Es galt nur, diese Einheit zu erkennen; es galt zu begreifen, dass jedes Einzelwesen Teil des Absoluten ist, aus ihm seine Lebenskraft bezieht und das Absolute unsichtbar in sich trägt. Diese Erkenntnis sollte dann zur Verschmelzung von Atman und Brahman führen, zur Überwindung der Trennung des Individuums von seinem ewigen Ursprung."

Die Einsicht in diese Identität vermittelt die Formel Tat twam asi: das bist du, das heißt: du bist in allem, du bist das unsterbliche unpersönliche Selbst in allem. Mit dieser Einstellung ist eine gewisse Entwertung des Realitätscharakters der Welt verbunden, indem nämlich die Differenz zwischen Ich und Anderen sowie Ich und Welt negiert wird. Im Klischee des Hinduismus führt dies zum träumerischen verhalten des Inders, der angeblich träumend den "Schleier der Maja" betrachtet (so bereits sinngemäß die Kritik Hegels). Diese Schlussfolgerung ist aber keineswegs zwingend. Man kann nämlich auch so formulieren: Das Verhalten im Sinne der Identität von Atman und Brahman ist von einer ursprünglichen Gleichwertigkeit alles Seienden bestimmt (alles Seiende ist Träger des Göttlichen) - insofern ist es gegen Egoismus und gegen Herrschaft gerichtet. Ein philosophisches Verständnis des Hinduismus kann aus dieser Lehre die Gleichheit aller Menschen folgern (und damit das Kastenwesen für einen Irrtum halten). Die Lehre des "tat twam asi" kann also als humanistisch und herrschaftskritisch verstanden werden.

Dass eine solche Deutung nicht willkürlich ist, zeigt die Studie des (Religions-)Soziologen Max Weber, der in "Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen" eine sehr komplexe und differenzierte Darstellung der sozialen Mentalität auch des Hinduismus bietet. Weber verweist ganz im Sinne des soeben Dargelegten darauf, dass die Entwicklung der hinduistischen Religiosität "Heilslehren der indischen Intellektuellen" hervorgebracht habe, die sich gegen die Kastenordnung wandten und zur Grundlage einer differenzierten Sozialethik wurden. Aus der Bhagavadgita, einem Teil des altindischen Heldenepos Mahabharata, lässt sich eine Sozialethik ableiten, die vielen Klischees über die träumenden Inder widerspricht. Die Grundlage dieses Denkens lässt sich auch mit den altindischen Weisheiten der Veden verbinden: "[...] ist das Handeln in der Welt des scheinbar Wirklichen ein Weben an den Truggeweben des Maya-Schleiers, hinter welchem sich das göttliche All-Eine verbirgt. Wer den Schleier gelüftet hat und sich mit dem All-Einen eins weiß, der kann an diesem illusionären Handeln ohne allen Schaden an seinem Heil weiter illusionär teilnehmen; das Wissen darum macht ihn dagegen gefeit, dadurch in Karman verstrickt zu werden [...]."

Weber erklärt resümierend, dass die ethische Einstellung, die aus der Einsicht in die relative Nichtigkeit des Seins folgt, mit einem "auf religiöser Weltentwertung gegründeten Universalismus und [einem] organischen Relativismus der 'Weltbejahung'" identifiziert werden kann. Wesentlich für diese Spielart der hinduistischen Ethik ist freilich die Idee, dass "das Handeln in der Welt [...] dann und nur dann heilfördernd ist, wenn es ohne allen Hang am Erfolg und an den Früchten [...] geschieht." Hier zeigt die religiöse Haltung der hinduistischen Spiritualität eine überraschende Analogie zum ästhetischen Bewusstsein, wie es die klassische deutsche Philosophie konzipiert hat, die ja die Interesselosigkeit zur Grundlage des ästhetischen Urteilens erhoben hat.

In diesem Kontext ist darauf zu verweisen, dass Mahatma Gandhi, der politische Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, in einem Text aus dem Jahre 1931 gerade die Bhagavadgita als Grundlage seines eigenen ethischen Denkens bezeichnet hat. In dem kurzen Text erläutert Gandhi, wie sich aus den religiösen Grundsätzen der Bhagavadgita das Prinzip der Gewaltlosigkeit ableiten lässt. Lapidar erklärt Gandhi zunächst in Übereinstimmung mit den von Max Weber herausgearbeiteten Grundsätzen: "Das einzige Heilmittel ist der Verzicht auf die Früchte der Taten." In einer impliziten Wendung gegen westliche Kritik an dieser Formel betont Gandhi dann aber, dass der Verzicht auf die Früchte der Taten nicht den Verzicht auf das Handeln insgesamt impliziert: "Dies ist die unmissverständliche Lehre der Gita: Wer das Handeln aufgibt, kommt zu Fall. Wer jedoch nur den Lohn aufgibt, steigt auf. Doch der Verzicht auf die Früchte der Taten bedeutet keinesfalls Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Ergebnis. Bei jeder Tat muß man das erwartete Ergebnis kennen und die dazu erforderlichen Mittel und Fähigkeiten. Wer über solche verfügt, doch nicht begierig auf das Resultat ist, aber zugleich ganz eingenommen von der gebührenden Erfüllung der Aufgabe vor ihm, von dem heißt es, er habe auf die Früchte seiner Taten verzichtet."

Gandhi unterstreicht im Folgenden, dass die ethischen Grundzüge eines Handelns unter Verzicht auf die Früchte der Taten auch das alltägliche Leben beeinflussen sollten. Für ihn folgt aus den genannten Prinzipien eine Handeln, das Gewalt und "Gier nach den Früchten der Taten" zurückweist: "Diesen Grundsätzen folgend habe ich erkannt, dass man bei dem Versuch, die zentralen Lehren der Gita im Leben zu verwirklichen, dem Weg der Wahrheit und der Ahimsa [Gewaltlosigkeit] folgen muß. Ohne die Gier nach den Früchten unseres Tuns haben die Versuchungen von Unwahrheit und Himsa [Gewalt] keinen Bestand. An jedem beliebigen Fall von Unwahrheit und Gewaltausübung lässt sich ablesen, dass dahinter die Gier nach einem ersehnten Ziel stand."

Sicherlich ist hier aus Gandhis Überlegungen keine 'einfache' politische Wahrheit abzuleiten. Demjenigen, der einwendet, hier werde 'lediglich' eine individuelle Ethik verkündet, deren politischer Gehalt äußerst fraglich sei, ist aber zu entgegnen, dass Gandhi sehr wohl zu zielgerichteten politischen Handeln in der Lage war und dass seine gewaltlosen Widerstandsaktionen ja wohl gerade deshalb so überzeugend wirkten, weil sie offensichtlich nicht von Eigennutz bestimmt waren. Es genügt in unserem Zusammenhang aber die Einsicht, dass die hinduistische Religiosität mit ihren sprichwörtlichen lächelnden Göttern und ihren tanzenden Göttinnen nicht notwendigerweise zu Fatalismus, Träumerei und Weltflucht führen muss. Es ist darauf zu verweisen, dass die friedliche Menschenfreundlichkeit des indischen Bewusstseins in gewissem Sinne sehr wohl ein Gegenmodell zu den Verstrickungen des politischen Handelns darstellt, wie es (vor allem) die Europäer im zwanzigsten Jahrhundert demonstriert haben. Betont sei noch einmal, dass hier nicht ein umgekehrtes orientalistisches Klischee vom friedlichen Inder propagiert werden soll. Es ist bekannt, dass sich hinduistische Extremisten bei ihrer Jagd auf Muslime und Sikhs ebenso auf hinduistische Texte berufen wie der Gewaltfreiheit propagierende Gandhi. Es geht vielmehr darum, darauf zu beharren, dass die indische Kultur genauso wie die europäischen, von denen die "Ästhetik des Widerstands" handelt, von einer Ambivalenz gekennzeichnet ist, die Unterdrückung und Befreiung, Repression und Emanzipation in sich verbindet. Wenn eine Ästhetik des Widerstands aber die befreienden Potentiale aller Kulturen ans Tageslicht fördern will und soll, so kann dies nicht so geschehen, das die europäischen Kulturen den außereuropäischen ihr Heil gewissermaßen als Exportartikel mitbringen. Jede Befreiung wird eine jeweils spezifische, auf das Potential der jeweiligen Kultur setzende Befreiung sein. Der universalistische Duktus der "Ästhetik des Widerstands" ist zu unterstützen, wenn er darauf verweist, dass die Befreiung des Menschen aus Unterdrückung und Repression eine Aufgabe ist, die allen Menschen und allen Kulturen aufgetragen ist. Die postkoloniale Ergänzung der "Ästhetik des Widerstands" verweist aber darauf, dass der Widerstand ein je spezifischer ist und sein wird - und er verweist auch darauf, dass die europäische Kultur von den Weisen der Befreiung lernen kann, die anders als die europäischen Weisen sein werden - oder nicht sein werden.

Wenn das Denken in Kategorien des Widerstandes und der Befreiung heute noch viel mehr als zur Zeit der Entstehung von Weiss' Roman als utopisch und irreal erscheint, so ist doch auch deutlich, dass die Verirrungen der Weltgeschichte, die dafür verantwortlich sind, dass das utopische Denken in einer besonders vertrackten Weise ortlos erscheint, auf Fehlentwicklungen des "europäischen Denkens und der europäischen Kulturen" zurückgeführt werden müssen. Wenn der postkoloniale Prozess auch damit zu tun hat, dass die Metropolen von den Peripherien lernen, dann geht es auch darum, die ästhetischen und politischen Konzepte der europäischen Tradition mit solche der außereuropäischen Traditionen zu verbinden. Wenn man sich aber mit diesen außereuropäischen Kulturen näher beschäftigt, dann zeigt sich ohne jeden Zweifel, dass auch die Religionen eine wichtige Rolle sowohl in den Unterdrückungsideologien als auch im Denken der Befreiung spielen. Eine pauschale Identifizierung des Religiösen mit dem Reaktionären und dem Repressiven verbietet sich von daher. Und so sollte die "Ästhetik des Widerstands" etwa auch den Gedanken an den gewaltlosen Widerstand des Mahatma Gandhi aufnehmen, der seinerseits (unter anderem) von der hinduistischen Religiosität der indischen Kultur inspiriert ist.

Anmerkung der Redaktion: Der Text ist eine gekürzte Fassung eines Aufsatzes aus: Arnd Beise, Jens Birkmeyer, Michael Hofmann (Hrsg.): "Diese bebende, zähe, kühne Hoffnung". 25 Jahre Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Sankt Ingbert: Röhrig 2008. Wir danken den Herausgebern und dem Verlag für die Publikationsgenehmigung.