Warten auf den Schleuser

Pierre Temkine bezieht Samuel Becketts "Godot" auf die Judenverfolgung

Von Friedhelm RathjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedhelm Rathjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Samuel Becketts erstes und berühmtestes Theaterstück "Warten auf Godot" spielt bekanntlich überall und nirgendwo, in einem absurden Raum des zeitlosen Nichts. Die beiden Protagonisten Wladimir und Estragon (kurz Didi und Gogo) stehen für die Menschheit schlechthin, für alle, die auf der Stelle treten und auf Erlösung warten. Als clowneske Landstreicher führen sie Dialoge, die sich im Leerlauf erschöpfen und höchstens metaphysisch etwas bedeuten können. Jener Godot, auf den sie warten, ist und bleibt Chimäre, eine Leerstelle, die die Allgemeingültigkeit der getroffenen metaphysischen Aussagen unterstreicht.

So weit, so bekannt. Aber ist es auch wirklich so? Der neunzigjährige französische Theaterhistoriker Valentin Temkine bekam beim Anschauen der x-ten "Godot"-Aufführung eine Idee, überprüfte sie am Text, fand sie durch viele Details bestätigt, schrieb darüber einen Aufsatz und erzählte von alledem auch seinem Enkel Pierre Temkin, der Aufsatz, Gespräch und allerlei Seitenstücke zu einem hübschen kleinen Büchlein zusammenschnürte. Und die erweiterte Idee Valentin Temkines, die in diesem Büchlein vielfach ausgebreitet wird, besagt kurz gefasst folgendes: "Warten auf Godot" spielt im Frühjahr 1943 an einer Straße auf einem Hochplateau in den südlichen französischen Alpen, auf dem Weg nach Italien. Dido und Gogo sind gebildete Juden, stammen aus Paris, sind einige Zeit zuvor dort den Deutschen entkommen und haben sich ins 'freie' Südfrankreich abgesetzt, wo sie freilich, seitdem Ende 1942 auch dort die Nazis die Kontrolle ausüben, in höchster Gefahr sind. Deswegen haben sie sich auf den gefahrvollen Weg über die Berge begeben. Notgedrungen leugnen sie Namen und Identitäten, legen immer dann, wenn andere Menschen auf der Bildfläche erscheinen, Wert darauf, nichts und niemanden zu kennen. Eine Schleuserorganisation hat versprochen, sie im dünnbesiedelten Terrain auf Wegen, die Fremde nicht finden würden, über die Grenze zu bringen; den Fluchthelfer, der sie hoffentlich bald in ihre Obhut nehmen wird, nennen sie Godot.

Absurd? Für absurd mag man jeden Versuch halten, "Warten auf Godot" auf eine einzelne Interpretation festnageln zu wollen, doch das wollen die Temkines gar nicht, sie wollen eher das Spektrum der möglichen Interpretationen erweitern. Absurd ist vielleicht eher, dass frühere Interpreten versuchten, Becketts Stück auf Teufel komm raus in einem unspezifischen Absurdistan zu verorten, obwohl der wahre Teufel eben auch hier im spezifischen Detail steckt.

Es fallen Ortsnamen in "Warten auf Godot", es sind auch Zeitangaben zu finden, aus denen sich schließen lässt, dass wir uns ungefähr in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts bewegen. Didi und Gogo erwähnen Dinge, die außer Leuten, die sich in einem ganz bestimmten von Juden bewohnten Viertel von Paris auskennen, niemand weiß. Gogo hieß in Becketts erstem Entwurf nicht Estragon, sondern Lévy. Erwähnt wird auch einer der Bauern in dem Dorf Roussillon in der Vaucluse, bei dem Beckett selbst sich als Landarbeiter verdingte, als er sich während des Krieges in Südfrankreich verbarg - auf der Flucht vor den Nazis, weil er in Paris als Mitglied eines Résistance-Netzes enttarnt war. Dass Beckett überhaupt für die Résistance tätig geworden war, hing unmittelbar mit seinem Entsetzen über die Judenverfolgung zusammen; naturgemäß waren dann unter den Mitflüchtlingen, in deren Mitte er in Roussillon lebte, etliche Juden, so vor allem sein Freund, der Maler Henri Hayden.

Wenn man all dies und etliches mehr zusammendenkt, wirkt die Temkine'sche These bald nicht mehr so abwegig, wie sie zunächst scheinen mag. Mehrmals in "Warten auf Godot" ist von Menschen die Rede, die drangsaliert, verprügelt, umgebracht werden, womöglich in großer Zahl; die keine Rechte mehr haben; Didi und Gogo spielen unentwegt mit dem Gedanken, sich aufzuhängen, weil ihre Situation so ausweglos scheint. Sind das alles wirklich nur Anspielungen auf den Daseinsnotstand des Menschen schlechthin, jenseits benennbarer historischer Gegebenheiten?

Die Autoren dieses Büchleins - neben Valentin und Pierre Temkines sind es noch Raymonde Temkine, Denis Thouard, François Rastier und Tim Trzaskalik - rufen mehrmals dazu auf, in "Warten auf Godot" nach Indizien zu suchen, die dem Temkine'schen Befund widersprechen. Sie selbst haben, wie sie wiederholt unterstreichen, solche Indizien nicht finden können. Tun wir ihnen also den Gefallen und lesen wir "Warten auf Godot" erneut, diesmal mit einem Blick nicht für die 'Schönheiten des Absurden', die viele Möchtegernmetaphysiker in dem Stück haben entdecken wollen, sondern für die durchaus weniger schönen Relikte der Welt von 1943. Ein bisschen historisches Bewusstsein ist also schon vonnöten.

Zum historischen Bewusstsein gehört freilich, dass wir nicht alles ungeprüft glauben, was jemand voller Entdeckerstolz verkündet. Valentin Temkines Initialzündung wurde ausgelöst, als er über den Sinn einer Textstelle nachgrübelte, an der Wladimir jammert, er habe sich nicht rechtzeitig vom Eiffelturm gestürzt: "Jetzt ist es zu spät. Die würden uns nicht einmal rauflassen." Valentin Temkines "Erleuchtung", wie er selbst es nennt, war der Gedanke, dass Juden zwischen 1940 und 1945 das Betreten des Eiffelturms verboten war, und dies war der Anfang der von ihm verfolgten Indizienkette. Freilich beruhte gerade dieses erste Glied der Kette auf einer Fehleinschätzung, wie uns in dem hier zu rezensierenden Band auch gleich mitgeteilt wird: im Krieg war der Eiffelturm nämlich nicht nur für Juden, sondern für die gesamte Bevölkerung gesperrt.

Eine Interpretation, die die Fehler und die unzuverlässigen Glieder ihrer Argumentationskette ganz offen als solche benennt und zudem dazu aufruft, Indizien für den Gegenbeweis zu sammeln: das ist methodologisch sehr erfreulich; hier geht es nicht darum, die Scheuklappen, mit denen jede deutende Textlektüre notgedrungen arbeitet, für alle Zeit festzuschreiben. Insofern könnte man dieses Buch eigentlich nur rundum empfehlen - wäre nur der Wiederholungseffekt nicht so übertrieben groß. Die 'Entdeckung' Valentin Temkines samt ihren diversen Details (die ich hier keineswegs alle preisgeben möchte) werden von Text zu Text penetrant wiederholt, lediglich der Gestus der Präsentation wechselt zwischen informellem Gesprächsprotokoll, textanalytischem Aufsatz und interpretationskritischer Polemik. So schön manches Detail ist: wenn wir es zum dritten oder vierten Mal serviert bekommen, sind wir doch schon ein bisschen übersättigt und möchten lieber einmal etwas anderes kosten. Die Gefahr, die damit heraufbeschworen wird, ist die, dass unsere Aufmerksamkeit bei der Lektüre von Beitrag zu Beitrag rapide schwindet und wir am Ende gar nicht mehr so genau hinlesen. Dabei geht es der Temkine'schen "Godot"-Deutung doch gerade um die Genauigkeit, ums genaue Lesen und darum, Dinge zur Kenntnis zu nehmen, die bei flüchtigem Drüberweghuschen allzu leicht übersehen werden.


Titelbild

Pierre Temkine: Warten auf Godot. Das Absurde und die Geschichte.
Herausgegeben von Denis Thouard und Tim Trzaskalik.
Übersetzt aus dem Französischen von Tim Trzaskalik.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2008.
192 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783882217148

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