Vom Geld reden
Serge Paugam über die "elementaren Formen der Armut"
Von Kay Ziegenbalg
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFotografien endlos wirkender Schlangen vor den staatlichen Fürsorgeeinrichtungen sind ein gern genutztes Bildmaterial für Fernsehen, Lehrbücher und Broschüren. Und immer müssen sie für etwas herhalten, das ihnen auf den ersten Blick nicht inhärent scheint. Sie müssen meist einfach Elend oder öffentliches Samaritertum darstellen. Aber so einfach ist das nicht. Man muss nicht unbedingt in dieser Schlange gestanden haben, um zu merken, dass sie eine erstaunlich hohe Heterogenität aufweist. Fürs erste ist diese Erfahrung aber bestimmt hilfreich: Da steht ein Mittdreißiger im Anzug hinter übel riechenden Gestalten und halben Kindern. Um die Ecke warten zwei Punks, die mit ihrem subkulturellen Latein am Ende sind, und ein Mobiltelefon benutzen ohnehin alle hier. Sind sie arm? Was eint diese Menschen? Die Antwort drängt sich bald lautstark auf: "Anstellen oder Briefkasten! Sonst no' wat? Nächste bitte!"
Nicht so besonders schnell scheint sich ein angemessenes Verständnis von Armut in modernen Wohlstandsgesellschaften durchzusetzen. Sie sei "der gemeinsame Endpunkt von Schicksalen verschiedenster Art", schrieb Georg Simmel über die Armut. Der französische Soziologe Serge Paugam hat sich des Problems angenommen und entwickelt nach einem Durchgang durch Alexis de Toqueville, Karl Marx und eben Simmel ein Konzept der "elementaren Formen der Armut", die sinnvolle Vergleiche zulassen sollen. Grundlage hierfür bilden Datenberge aus zehn Jahren Forschung. Simmel sei es zu verdanken, dass Armut als Ganzes und nicht mehr nur als systemimmanente Regelgröße verstanden werden konnte. Toqueville hatte sich auf die gesellschaftliche Rolle der Armut konzentriert, und Marx nur auf die ökonomische Rolle. Wobei Letzterem besonders daran gelegen war, zu zeigen, wie "die Überzähligen" als tarifpolitisches Instrument des Kapitals missbraucht werden.
Paugam will nun darauf hinaus, die bloße Existenz eines öffentlichen Fürsorgesystems in modernen Gesellschaften so ernst zu nehmen, dass sie auch Konsequenzen auf den analytischen Umgang mit Armut hat, der dann eben mehr Ebenen berücksichtigen kann als es bei den behandelten soziologischen Klassikern noch der Fall war. Im Laufe seiner sehr klaren Darstellung entfernt sich Paugam vom Denken in absoluten Beträgen hin zum Verstehen einer ganz entscheidenden Relation. Armut erscheint dann als Produkt wechselseitiger Zuschreibung; einer Art verdrehter Anerkennung.
Um nun elementare Formen zu bestimmen, erarbeitet Paugam zunächst vier Faktoren, die die unterschiedlichen Unterstützungsverhältnisse in Europa bestimmen. Diese Faktoren sind erstens die Aufteilung der Verantwortlichkeiten im Fürsorgesystem, zweitens die administrative Definition der "Armen", drittens die Logik hinter dieser Definition und schließlich viertens die Form sozialer Intervention. Hierbei zeigt sich, dass innerhalb Europas große Unterschiede bestehen, die eine vergleichende Untersuchung umso mehr rechtfertigen.
Daraus ergeben sich eben jene drei elementaren Formen: Zunächst die integrierte Armut als kaum problematisierte Erscheinung in einer ohnehin von niedrigem Lebensstandards geprägten Region (etwa in einigen Gebieten Portugals). Hier ist Armut so weit verbreitet, dass sie die Leute schon gar nicht mehr "aufregt". Die zweite Form ist die marginale Armut, die nur kleine Gruppen betrifft, zwar bekämpft aber ebenso stigmatisiert wird und drittens die disqualifizierende Armut, die breite Bevölkerungsanteile trifft, heterogene Probleme und Abstiegsangst erzeugt. Paugam kann nachvollziehbar zeigen, dass Armut relativ ist und anders nicht angemessen wahrgenommen werden kann.
Der zweite Teil des Buches befasst sich unter dem Titel "Variationen" mit der Analyse empirischer Daten mittels der analytischen Vorarbeit aus dem ersten Teil. Sehr informativ ist dieser Abschnitt - aber eben nicht sehr spannend. Dafür trägt dieses Kapitel die ganze Beweislast.
Und die Ergebnisse sind nicht besonders ermutigend. Zur Verdeutlichung: Zitiert wird Jean-Pierre Fragnière, der davon ausgeht, dass die Armen in der Schweiz systematisch zum Schweigen verdammt seien. "Das Problem ist nicht der Arme, dem es schlecht geht, sondern der Arme, der sich zeigt, oder noch schlimmer, der den Mund aufmacht."
Und so finden sich einige interessante Bemerkungen über die Sozialpolitik in der BRD. Kurz gefasst lautet die Diagnose: Das leistungsstarke deutsche Sozialhilfesystem lässt niemanden in Not, wodurch die Armut - nur monetär verstanden - aus der öffentlichen Wahrnehmung gedrängt wird. Dabei geht allerdings das Bewusstsein verloren für die Abhängigkeit, die Kratzer am Selbstwertgefühl. Ebenso wenig beachtet zu werden scheint die Heterogenität der Armen in prosperierenden Regionen Europas.
Man könnte es fast zynisch nennen, dass Paugam am Schluss bemerkt, er wolle wenigstens einen bescheidenen Beitrag zu möglichen Überlegungen geleistet haben, die das Leid der von Armut Betroffenen wenn schon nicht abschaffen, dann doch wenigstens lindern mögen. Hat man sich aber durch das besagte zweite Kapitel gequält, stellt sich heraus: Paugam ist nur Realist und Wissenschaftler, der einen kühlen Kopf behalten will. Mit diesem Buch jedenfalls kann sich jeder einen grundlegenden Einblick in das Phänomen der Armut verschaffen. Paugams klarer Stil, ins Deutsche übertragen von Andreas Pfeuffer, hilft hierbei ungemein und könnte der gelungene Einstieg in die umfangreiche Literatur sein, die, unter anderem in der Tradition Pierre Bourdieus stehend, nun Schlagworte wie "neue Armut" oder "Prekariat" bedient.
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