Aryan Psycho

Knapp vorbei, Deutschland - Zur literaturkritischen Rezeption von Jonathan Littells "Die Wohlgesinnten"

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich hatte, zu meiner Überraschung, großen, großen Spaß", schrieb ich der Redaktion: "Gestern Nacht las ich die letzten Seiten. Und würde das jetzt unbedingt gern rezensieren!" Die Antwort kam am selben Tag - ein höfliches, entschiedenes Nein. "Wir sind bereits versorgt", schrieb Redaktionsleiter Jan Süselbeck zunächst: "'Spaß' klingt in meinen Ohren in diesem Themenzusammenhang auch nicht eben wie der passende Ansatz für eine zusätzliche Rezension." Doch, denke ich: "Spaß"; Spaß unbedingt! Denn das wird bleiben von diesem Roman, sobald sich die ungeheure moral panic der Feuilletons gelegt hat: "Die Wohlgesinnten" ist ein grelles Buch. Grell und ziemlich witzig.

Jeder kann ein Nazi sein

Jonathan Littell, geboren 1967 als Sohn des jüdischen Schriftstellers Robert Littell, debütiert mit knapp vierzig Jahren mit einem 1.400-Seiten-Roman. Ein Roman, der bei der Kritik nur die allergrößten Worte provoziert: pathosblindes Lob, pauschalste Etiketten und hitzige Totschlag-Rhetorik. "Widerwärtiger Kitsch", schnappt Iris Radisch in der "Zeit", "Kolportage", "Pornografie", "NS-Geschwätz". Jorge Semprun, Überlebender des Holocaust, klingt nicht minder überspannt, wenn er schreibt: "Ich war wie erschlagen von diesem Buch. Es ist das Ereignis unserer Jahrhunderthälfte." Die "FAZ" inszeniert eine Debatte in einem exklusiven Online-"Reading Room". Die "SZ" nennt das Buch "monströs", die "Frankfurter Rundschau" einen "Müllhaufen". Und alle Kombattanten fragen öffentlichkeitswirksam: "Darf man das? Den Holocaust erzählen, aus Täterperspektive?" Natürlich darf man das. Literatur darf das.

Der Roman "Die Wohlgesinnten" begleitet den SS-Offizier Maximilian Aue durch die Jahre 1941 bis 1945. Geboren 1913 (Vater: Deutscher, Mutter: Französin), aufgewachsen in Kiel und Antibes, studierter Jurist, kultiviert und nachdenklich, sozial ein wenig steif. Ein stiller, schwuler Bürokrat, Flaubert-Leser und Bach-Liebhaber, fasziniert vom Nationalsozialismus "als Geisteshaltung". "Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist", beginnt seine Rückschau, er schreibt von Hand, mit Kugelschreiber in karierte Schulhefte, nach Büroschluss in der Chefetage einer Fabrik für Spitze in Nordfrankreich. Satt und sicher ist er viele Jahre nach dem Krieg, verheiratet, Familienvater, versteckt hinter einer gestohlenen französischen Identität.

Vom Schreibtisch aus monologisiert Aue über seine Schreibtischjobs bei der SS, über Täterschaft und Völkermord. Schlicht gebaute Sätze, ein nüchterner Blíck, sehr faktenstark, manchmal geschwätzig. Als "wahrhaft moralische Erzählung" will Aue seinen Text verstanden wissen; eine "wahrhaft moralische Erzählung" mit wahrhaft überdeutlicher Moral: Täterschaft sei keine Leistung oder Wahl. "Die wirkliche Gefahr - vor allem in unsicheren Zeiten - sind die gewöhnlichen Menschen, aus denen der Staat besteht. Die wirkliche Gefahr für den Menschen", schreibt Aue, "bin ich, seid ihr." Er resümiert schon auf den allerersten Seiten, direkt im Prolog: "Ich will hier nicht behaupten, ich sei an diesem oder jenen nicht schuldig. Ich bin schuldig, ihr seid es nicht, wie schön für euch."

Was ich kann, könnt ihr auch. "Du bist (Nazi-)Deutschland!", "Die Hölle, das sind die anderen", "Madame Bovary, c'est moi". Die Rhetorik ist bekannt: Jonathan Littell lädt ein zur Identifikation. Viel wuchtiger, pauschaler als Hannah Arendt mit ihrer "Banalität des Bösen" behauptet Max Aue: Ethisch denkende Menschen können den Massenmord planen und ausführen. Ohne innerlich daran zu zerbrechen. Dieser Roman sucht nicht nach Schnittmengen zwischen Judenhass und Kleingeistigkeit. Littell fragt nicht bestürzt: "Der aufgeklärte Humanist als Nazi-Scherge - was musste da geschehen, dass das zusammenpasst?" Er konstatiert leichthin und plastisch: Es passt. Fügt sich ganz leicht, organisch. Die Parameter wechseln. Die Dispositionen bleiben: "Ich habe meine Arbeit getan", schreibt Aue nüchtern, "mehr nicht."

Entlang dieser Achse schildert "Die Wohlgesinnten" vier Kriegsjahre und ein Dutzend Schauplätze; entlang dieser Achse wird über den Roman gesprochen und geurteilt. "Ich bin wie ihr", eine solche These lässt natürlich fragen: Trägt Dr. Maximilian Aue? Funktioniert er als Erzähler? Als Illustration einer These? Als Perspektive aufs "Dritte Reich"? Als historisch kolportierte Figur, symptomatischer SS-Mann? Und figurenpsychologisch?

Vielleicht ist Jonathan Littells Leistung weniger darin zu suchen, dass sich die meisten dieser Fragen beantworten lassen mit einem vorsichtigen: "Ja, das ist nicht schlecht gemacht. Streitbar, aber überlegt, mit seriöser Ambition." "Die Wohlgesinnten" ist ein Buch, das atemberaubend viel versucht. Das meiste gelingt. Manches scheitert. Doch irre sympathisch ist allein schon die Verstiegenheit, einen solchen Jahrhundertklotz schreiben zu wollen.

Denn Littell benutzt die Querbalken seiner Konstruktion ganz anders, als erwartet: Es geht um Drastik, nicht um literarische Könnerschaft. Kein Trick ist dem Erzähler zu platt, um zu schocken. Um Aues Höllentour durch Weltkrieg und Massenvernichtung noch süffiger und farbenfroher zu gestalten, noch gruseliger, blutrot-bunter. Es geht um einprägsame Bilder, Wirkung. Und immer auch: Effekt. Nicht einfach nur den Himmel zu befeuern, mit stilistischen Leuchthülsen, die jedem Trottel klar signalisieren: "Das hier ist E-Kultur, Betroffenheit bitte und Obacht: Hier wird gemahnt und geseufzt!" Nicht einfach alles abdichten gegen Kritik, ein Buch kreuzbrav zum souverän-gesetzten Mahnmal zu veredeln. Littell will etwas anderes, Littell will sichtbar mehr: Statt einfach nur den wuchtigsten, weltgrößten SS-Roman zu schreiben, erzählt er seinen weltgrößten, wuchtigen SS-Roman. Viel verwinkelter, als ein solches Buch sein müsste. Viel kruder. Und reicher.

"Ich bin wie ihr", die These trägt den wechselhaften, scharfkantigen Text. "Ich bin wie ihr", das ist ein Grundgedanke, der die Leser über Tage, Wochen stößt und irritiert. In einem Buch, auf dessen Seiten sich nicht Weltliteratur abspult in ihren wohlbekannten Amplituden. Stattdessen wird jede Szene benutzt, um flapsig-nonchalant mit Dr. Aue zu kokettieren: "Ich bereue nichts". In einem literarischen Balanceakt, bei dem - durch die Thematik und ihre Tabus - eh schon jeder Satz Gefahr läuft, am Ziel vorbeizuschießen, setzt Littell gleich noch mal viel, viel mehr aufs Spiel, als überhaupt nötig. "Die Wohlgesinnten" ist ein großes Buch, das gegen zahllose KO-Kriterien "großer Bücher" donnert. Das ist das Spannende. Das ist das Neue.

Ein paar Hinrichtungen überwachen. Sich in den Arsch ficken lassen. Kotzen.

Der Plot ist eine Art Pauschalreise durch die Abscheulichkeiten des NS-Regimes, Geografie wie in einem Bond-Film: spektakuläre Zwischenstationen, hübsch der Reihe nach. Im Klappentext klingt diese Aufzählung von Schauplätzen voller "verstörender Erinnerungen" irrational stolz: an "die Einsatzkommandos und Massenhinrichtungen in der Ukraine und im Kaukasus" habe Littell gedacht wie auch sonst an alles, "an Babi Jar, den Kessel von Stalingrad, Auschwitz und Krakau, an Mittelbau-Dora, das besetzte Paris und das kriegszerstörte Berlin." Außerdem: Auftritte von Eichmann, Speer und Himmler. Landflucht aus Pommern! Nazi sein in Nazideutschland - bei Littell als Komfort-Komplettpaket. Eine exklusive Szene aus dem Führerbunker inklusive!

Überdeutlich ist, weshalb das Buch "pornografisch" genannt wird: Immer sind Littells Szenen fünf, sechs Splatter-Bilder länger, selbstverliebt-elegischer, als dass sich dieses Draufhalten noch als dokumentarischer Blick rechtfertigen ließe. Littell bemüht sich um maximalen Schauer: eine junge Partisanin, tot im Schnee, die Brust entblößt, zur Hälfte von Hunden weggefressen. Überdosierte Ekelbilder. In einem Stil, der sich tatsächlich kaum abhebt von der schnöden Erzählprosa des "üblichen historischen Thrillers" (Iris Radisch). Toll erzählt? Ja. Aber nicht gut geschrieben: Wie Littell zehn, zwanzig Seiten füllt mit Fakten-Overkill und Info-Dumping. Textwüsten, nur oberflächlich dramaturgisiert: Als endlose, einseitige Frage-und-Antwort-Runden zwischen Aue und den jeweils zum Themenbereich passenden, erzählfreudigen Experten. Völkerkundler und KZ-Leiter, Nicht-Figuren ohne Kontur, als anthropomorphe Geschichts-Terminals auf Abruf bereit. Sechs, sieben Seiten Referats-Tonfall. Ohne Relevanz für Figuren und Plot. Das kennt man von Frank Schätzing, Michael Crichton oder auch Dan Brown. Das kennt man aus dem Mittelmaß

Und dennoch fühlt man sich - und das ist keine kleine Leistung! - erzählerisch gut aufgehoben in diesem Buch: die Gastauftritte historischer Figuren, die Möbel und die Architektur, der Jargon und die Haltungen der Offiziere und Soldaten, Kriegswitwen und Ethnologen, mit denen Aue spricht, sind oft mit denkbar dickem Pinsel aufgetragen (der mystische Bergjude, der weise und magisch über den Lauf der Dinge philosophiert, ein Professor Dumbledore im Mondschein, den Aue sein eigenes Grab schaufeln lässt). Und trotzdem wirken diese Leute immer faktensicher und farbig aus dem Archivmaterial in die Prosa getragen: Bühnenbild, Requisite, Ausstattung und Kameraarbeit der "Wohlgesinnten" sind erstklassig. Ein bloßer "Schwamm", ätzt dagegen die "taz". Die "Paarung eines Kolportageromans mit einer Historikerbibliothek" schimpft die "NZZ". "Dokumentarischer Rapport in anspruchslosem Hauptsatzformat", schnöselt die "Zeit."

Littell erklärte, ihn interessiere die "Schnittstelle von Krieg und Bürokratie": "Die Ausrottung kannte ich, die Gaskammern, Auschwitz, aber den bürokratischen Geist habe ich in [Claude Lanzmanns "Shoah"] entdeckt. [... die] Funktionsweise der Züge, [... die] Schwierigkeiten der SS, die Reichsbahn für die Judentransporte zu bezahlen. Diese Art von Problemen - zum Beispiel, dass die Ausrottung ein Budget erforderte - war mir nie in den Sinn gekommen."

Es geht nicht um Verständnis für die Leute, die Ghettos abschotten, Krematorien bauen, Kriterien für die Selektion der inhaftierten Juden erstellen. Auch ist Max Aue kein Opfer seiner Zeit, kein überhitzter Bürokrat (genauso wenig aber: Underdog und cooler Außenseiter, Gegenstimme, Gangster). Nein, Aue ist eine denkbare, kluge, erschreckend plausible Stimme: "Seit meiner Kindheit trieb mich der leidenschaftliche Wunsch nach dem Absoluten und nach Grenzüberschreitung; jetzt hatte mich diese Leidenschaft an den Rand der Massengräber in der Ukraine geführt. Ich war immer bestrebt gewesen, radikal zu denken; nun hatten auch der Staat, die Nation die Radikalität und das Absolute für sich entdeckt; wie hätte ich mich in diesem Augenblick verweigern, nein sagen und mich stattdessen für die Bequemlichkeit der bürgerlichen Gesetze, die laue Sicherheit des Gesellschaftsvertrags entscheiden können?"

Eine solche Stimme kann nur eine Erzählung tragen. Und eine solche Stimme leistet etwas anderes, faszinierend Neues, wenn Sie zurückblickt auf das "Dritte Reich". Man sollte diesen Blick kennen lernen. Punkt. Nicht, weil Thema oder Zugriff "wichtiger" wären als andere. Es gibt keine unwichtigen Themen. Es gibt nur Ernst, Kalkül, Erzählanlässe, Ambitionen, Dringlichkeit. Faktoren, die sich alle hier treffen, verdichten, zu einer 1.400 Seiten langen, übervollen Zumutung. In vieler Hinsicht kompliziert. Oft geschmacklos. Aber niemals: blass. Und um keinen Preis: verwerflich.

Also, "Darf man das?" - "Irgendwie schon", schreibt das Feuilleton, "aber nicht so". Nicht so trashig. Nicht so eklig. Nicht so sehr auf den Effekt bedacht. Ein paar Hinrichtungen überwachen: "Wenn alle anständigen Männer gehen", schreibt Aue, "bleiben nur noch die Schlächter, der Abschaum." Sich in den Arsch ficken lassen: "In Wirklichkeit [...]", schreibt Aue, "wäre ich lieber eine Frau gewesen. Nicht unbedingt eine Frau, die in dieser Welt lebt und handelt [...]; nein, eine nackte Frau, die auf dem Rücken liegt, die Beine spreizt, vom Gewicht eines Mannes erdrückt wird, sich an ihn klammert, von ihm durchbohrt wird, in ihm zerfließt und sich in den grenzenlosen Ozean verwandelt, in dem er ertrinkt, eine Lust ohne Ende und ohne Anfang."

Und manchmal, unwillkürlich, einfach mal ein bisschen kotzen (bei Aue psychosomatisch, sobald er morden lässt, mit Opfern zu tun bekommt): "Ich [...] dachte an ihre Fotze unter dem Kleid, die sich im Spitzenhöschen einer jungen hübschen Jüdin versteckte, die von Höß, ihrem Mann, vergast worden war. Die Jüdin mit ihrer Fotze war schon lange verbrannt und als Rauch aufgestiegen, um sich mit den Wolken zur vereinigen; ihr kostspieliges Höschen, das sie vielleicht extra für ihre Deportation angezogen hatte, schmückte und schützte jetzt die Fotze von Hedwig Höß."

Unbegreiflich, dass die Literaturkritik Jahre nach gezielten Provokationen von Christian Kracht und Michel Houellebecq, Jahrzehnte nach Vladimir Nabokovs zum Schreien komischen "Lolita", vor diesen Sätzen in totale Schockstarre verfällt. Und ausruft - ein letztes Mal Frau Radisch: die literarische Figur Max Aue sei ein "ärgerliches Spiel", eine "schockierende Obsession", "nichts davon trägt bei zur Lösung der schmerzhaften Frage, was genau unserer Großväter zu Mördern gemacht hat." Stimmt: Man kriegt die Frage nur vor Augen geführt. Frontal ins Hirn gehämmert. (Als ob das nicht genug wäre!)

Inzest für Anfänger

"Man spürt beim Lesen, dass Jonathan Littell ein Schriftsteller furchtbarer Obsessionen ist", lobt Jorge Semprun, "Er ist besessen von den sadomasochistischen Beziehungen in der Liebe. Er ist besessen vom Inzest - das war ein Schlüsselthema der deutschen Romantik. Oder die Homosexualität. Ich bin gespannt auf die Rezeption in Deutschland. Es ist das ideale Land für die Auseinandersetzung mit diesem Buch." Na ja: Knapp vorbei, Deutschland! Denn diese Lesart verweist viel weniger auf Kriegsverbrechen und Massenvernichtung, auf den SS-Mann Max Aue, als Erzählstimme eines pervertierten Zeitgeists. Sondern auf den zweiten, ungleich aufregenderen (und dabei: viel weniger diskutierten) Handlungsbogen des Romans: Max Aue, analfixiert und sexuell gestört, Liebhaber seiner Zwillingsschwester Una. Auf Max Aue, den Axtmörder, Hochstapler und Soziopathen. Eine arrogante Pop-Stimme, sliding down the surface of things; der "Aryan Psycho" des "Dritten Reichs".

Ein großes Schnitzel und Respekt für Deutschlandfunk-Kritiker Denis Scheck, einer der wenigsten, der die Bret Easton Ellis-Referenzen überhaupt erst gesehen hat. Und sich prompt freute über die "rabenschwarze Komik", die "Komik einer unmenschlichen Bürokratie eines Massenmords nämlich." "Die Wohlgesinnten" als Poproman? Als großer Rollenprosa-Witz, tabubrechend durch ausgerechnet die SS als Handlungsraum und -rahmen? Quatsch. Und trotzdem ist das hier, - und das sieht kaum jemand! -, ein Buch, in dem der Ich-Erzähler Adolf Hitler ins Gesicht beißt. Aus purem müden Ennui. Voll in die Nase.

Strategien des Absurden. Ein Blick auf das "Dritte Reich", cool und witzig-soziopathisch, ein 90er-Jahre-Blick. Die hippe, schwer ironische Haltung, mit der damals Alltag demontiert wurde durch die Augen von Serienmördern ("Natural Born Killers" und "Serial Mom", "California", "Hannibal", "Profiler" und "Millennium", Massenmördern als Anarchos und geliebte Feinde, Kulturkritiker, Medienstars). Wer "Dexter" mag, die 20 Episoden lange spätpubertäre Innensicht eines monströsen Killers (bislang nur in den USA, auf Showtime), wird "Die Wohlgesinnten" lieben. Es geht um das Perverse als Blende für den Blick auf den Alltag. Es geht um eine Kontrastfläche, um Meditationen über Menschlichkeit. Es geht, allerdings leider auch: Um viel zuviel.

Das noch dazu nicht gut genug gemacht ist. SS-Mann Aue erzählt sich als Jedermann, als deutsche Allerwelts-Karriere. Und zeitgleich prügelt Jonathan Littell diese Figur (als Privatmensch und Liebenden, als sexuell grotesk verzerrtes armes Schwein) in die totale Comichaftigkeit. Beim Fernsehen heißt das "character assassination", die Demontage einer einstmals tauglichen Figur. Abseits vom Holocaust, aber im selben Roman, den Orpheus-Mythos neu erzählen: Mit der schrittweisen Enthüllung von Aues schwerst verkrachter Biografie noch einmal dieselben großen Fragen aufwerfen wie im Hauptteil des Romans, Fragen der Schuldfähigkeit und persönlichen Verantwortung, hier, im privaten Raum, noch einmal auf einem zweiten, unpolitischen Level verhandelt. Klingt spannend. Doch heraus kommt dabei nur ein Riesenhaufen unverdauten, vulgärpsychologischen Schunds.

Klein-Maximilian verabscheut die unterkühlte Mutter (lebensbedrohliche Allergien gegen ihre Milch!), der Vater ist abwesend (und Kriegsverbrecher!), an allen Wendepunkten des Romans träumt Aue hochsymbolisch von Fäkalien, die alles überfluten und beschmutzen. In jedem Raum dagegen, wo er sich sicher und geborgen fühlt, setzt augenblicklich Regression ein und Geschwafel, wie sehr er sich zurück sehne in den warmen, sicheren Uterus. Analsex ist nötig, um eine "Leere zu füllen." Sein Schwulsein ist liebloser, schmutziger Sex. Seine Zwillingsschwester trägt ihm Kinder aus. Und Aue verdrängt das alles einfach. Schließt die Augen. War da was?

"Fünfzig Jahre nach Nabokov!", das will man auch hier, in Aues privater Geschichte, seufzen. Nur zielt es diesmal weniger auf Kritiker, die auf jeden Tabubruch mit wüsten Abwehr-Fuchteleien reagieren. Sondern auf einen Erzähler, bewusst "in der Tradition Flauberts", der sich mächtig raffiniert gibt und tiefsinnig. Und dabei nur die allerplattesten, müdesten Motive aus der Inzest-Grabbelkiste zerrt. Big Nab schrieb schon in den 1960er-Jahren ein 600-Seiten-Inzest-Science Fiction-Liebesdrama, "Ada, oder: Das Verlangen", über hochbegabte, sexhungrige Geschwister, die ungerührt und skrupellos fummeln, vögeln, gutgelaunte Witze machen, dem eifersüchtigen Skilehrer den Skistock in die Augenhöhlen rammen, auf dem fliegenden Teppich sitzen, die Schornsteinfeger erschrecken - Glückskinder in ewigen, goldenen Sommern, politisch unkorrekter geht es nicht. Littell fehlt diese Fantasie: Er ist groß darin, historisches Material neu zu montieren, zu rundherum schrecklichen Alpträumen. Doch sobald er erfinden muss und fabulieren (Halluzinationen, Nahtoderfahrungen, Lebensborn-Bondgirls, zur Paarung bereit), wird es krude und naiv. Sechstklässler-Perversionen. B-Movie-Abgründe.

Es ist ein bisschen wie bei Marcel Proust: da spaltete ein schwuler Autor sein Erzähler-Ich in mehrere Figuren. Lässt sie lieben und leiden, an Frauen allesamt. Die große Liebe, Alfred, wird im Roman zu einer Frau, Albertine. Und Schwule kommen nur in Nebenrollen vor, als fette, moralisch kaputte, traurige Trottel. Addiert, neu zusammengesetzt, ergäbe sich ein komplexes Gesamtbild - wäre nicht alles positiv Belegte geschlechterverdreht, in heterosexuelle Szenarien gewendet. Dasselbe passiert Littell, indem er Una in die Gleichung einfügt: das neutral belegte Schwulsein Aues wird zum Symptom eines totalen Defizits - zum Ausdruck krankhafter innerer Leere.

Im Großen heißt das auch: "Ich bin wie ihr", das funktioniert nicht recht, sobald Littell der Figur Max Aue durch aller-platteste private Obsessionen komplett das Wasser abdreht: Ein verführerisch sortierter, vernünftiger und ethisch immerhin bemühter SS-Mann wird auf dieser zweiten, psychologischen Achse (und das kommt langsam, aber zum Ende mit absurder Härte) zum völlig derangierten Patrick Bateman. Nicht, weil der Krieg ihn moralisch korrumpiert, sondern, weil eine gesucht unkonventionelle, aber komplett überzogene private B-Storyline (völlig losgelöst vom Kriegsgeschehen) alle Sicherungen durchbrennen lässt.

Wie gesagt: All das macht Spaß. Es zeigt Ambition und Bandbreite (und aber auch: Wahl- und Skrupellosigkeit) des Erzählers Jonathan Littell. Dem großen dramaturgischen Überbau des Buches ("Ich bin wie ihr.") steht es indes direkt entgegen. Und macht entsprechend viel kaputt. Es nervt und irritiert auf eine viel vergeblichere, nutzlosere Art als etwa die endlose Zahlenhuberei zu Transportkosten, Kleidungszuteilungen, Zahngold. Privatmensch Max nennt sich an einer Stelle, in einem Brief an Una, "dein trauriger Ritter mit dem kaputten Kopf." Da wünscht man sich, genau das Buch zu lesen. Das mit dem Ritter. Oder das mit dem Bürokraten. Oder das mit dem Monster. Oder das mit dem Liebenden. Oder das mit mir, das mit uns.

"Trägt Dr. Maximilian Aue?" Unbedingt! "Funktioniert er als Erzähler?" Meistens. "Als Illustration einer These?" Zur Hälfte. "Als Perspektive auf das ,Dritte Reich'?" Perfekt - von kleineren Aussetzern ins Plakativ-Surreale mal abgesehen. "Als historisch kolportierte Figur, symptomatischer SS-Mann?" Abseits der Schwester: ja! "Und figurenpsychologisch?" Auf keinen Fall! Und natürlich ist so etwas tragisch. Und mies. Und natürlich ist das ein KO-Kriterium für "richtige", bleibende Weltliteratur.

Doch wirken diese Brüche als Signalraketen: in ihrem Witz und ihrer Freude am Tabu, in ihrem ultrabrutalem Schwung zeigen sie: Max Aue, trotz aller Bemühungen, ist keiner von uns. Littell, knapp vierzigjährig mit großem Rumms auf der literarischen Bühne aufgeschlagen, ist es: Ein Poser. Ein Fantast. Ein Kolporteur. Ein Prediger. Ein Humanist. Ein manischer Erzähler. Vielleicht ein Pornograf. Und auch und vor allem, dankbarer Weise: Ein Quatschkopf. Schön, dich kennen zu lernen. Erzähl mir mehr!


Titelbild

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten.
Übersetzt aus dem Französischen von Hainer Kober.
Berlin Verlag, Berlin 2008.
1385 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783827007384

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